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Biel

Und plötzlich ist er einer von ihnen

Der Syrer Mohamad Ashraf Al Hafny hat im Libanon ein Hilfswerk für Flüchtlinge aufgebaut. Sein Engagement führte ihn sogar als Redner an Konferenzen in Brüssel. Dann wurde er selbst zum Flüchtling. In Biel muss er nun ganz von vorne anfangen.

Mohamad Asharaf Al Hafny spaziert gerne durch die Altstadt - die alten Gebäude erinnern ihn an seine Heimat. Bild: Mattia Coda

Carmen Stalder

Schwungvoll kommt Mohamad Ashraf Al Hafny auf dem Fahrrad angeradelt. «Hello, how are you?», fragt er mit einem breiten Lächeln und steigt ab. Über die Pflastersteine geht er zum Engelbrunnen und weiter ins Obergässli. Mit seinem blau-weiss gestreiften Hemd, der beigen Stoffhose und den ledernen Schnürschuhen könnte er glatt als Geschäftsmann durchgehen. Doch Al Hafny ist nicht in der Bieler Altstadt unterwegs, um wichtige Termine wahrzunehmen. Er ist hier, weil ihn die verwinkelten Gassen an seine Heimat erinnern.

Die Geschichte des heute 36-Jährigen beginnt in Syrien, genauer in Damaskus. Dort belegt er als junger Mann Business- und IT-Kurse an der Universität. Parallel dazu leistet er als Entwicklungshelfer des Syrischen Roten Halbmonds psychologische Unterstützung für irakische Flüchtlinge in Syrien. «Diese Menschen haben durch den Krieg alles verloren. Ich wollte ihnen helfen», sagt er. Er lässt sich zum Katastrophenmanager ausbilden und unterstützt Kinder in der Aufarbeitung ihrer Traumata.

2011 beginnt die syrische Revolution. Al Hafny beteiligt sich an der Volksbewegung und nimmt an Kampagnen teil, alles mit dem Ziel, den Machthaber Baschar al-Assad zu stürzen. «Ich habe Martin Luther King gelesen und wollte genau wie er das herrschende System verändern.» Bei der Regierung kommt sein Engagement nicht gut an. Er werde dort als Terrorist betrachtet, sein Name stehe bis heute auf einer Liste mit gesuchten Personen.

Er hilft dem eigenen Volk

Ende 2011 spitzt sich die Situation zu. Während eines Familientreffens flieht er auf Anraten seiner Verwandten Hals über Kopf in den benachbarten Libanon. «Ausser einem Rucksack mit meinem Laptop hatte ich nichts dabei.» Al Hafny rechnet damit, nach ein paar Tagen oder Wochen zurückreisen zu können. Doch daraus wird nichts. Ihm dämmert: Bei einer Rückkehr in seine Heimat würde er sofort ins Gefängnis geschickt. Auch er ist jetzt ein Flüchtling.

Mit dieser Einsicht beginnt er, sich im Libanon eine neue Existenz aufzubauen. Er studiert Psychologie und nutzt seine Erfahrung im Katastrophenmanagement, um seinem eigenen Volk zu helfen. Bis heute leben im Libanon über 1,5 Millionen syrische Flüchtlinge, viele von ihnen unter prekären Bedingungen in grossen Lagern. 2012 gründet Al Hafny die Organisation Lamsat Ward (arabisch für «Berührung einer Rose»). Sie bietet psychosoziale und rechtliche Unterstützung sowie Sensibilisierungsaktivitäten an.

Mit den Jahren wächst die Organisation. Al Hafny kann ein Team aufbauen, das immer mehr Menschen erreicht. Das Zentrum in der Hafenstadt Tripoli entwickelt sich zu einem sicheren und einladenden Ort, weit weg vom oftmals entbehrungsreichen Alltag. Die psychologische Betreuung werde in der Flüchtlingshilfe oft nicht prioritär behandelt. «Doch wenn jemand traumatisiert ist, wie soll er dann essen und schlafen können?», so Al Hafny. Er und seine Kollegen hätten geflohene Kinder und Jugendliche dazu befähigen wollen, dass sie sich aktiv am Wiederaufbau des zukünftigen Syriens beteiligen können, sobald der Frieden zurückkehrt.

Er wird am Flughafen gestoppt

Ende Juni 2018 erhält Al Hafny eine Einladung von der EU. An einer Konferenz in Brüssel spricht er über Demokratie und über seine eigenen Erfahrungen in Syrien. Anschliessend ist er zu einem weiteren Treffen in Basel eingeladen. Zurück im Libanon erwartet ihn nichts Gutes: Am Flughafen in Beirut erwarten ihn bereits die Polizisten. Wegen seines Engagements verweigern sie ihm die Wiedereinreise ins Land. «Sie sagten mir: ‹Entweder übergeben wir Sie dem syrischen Regime oder Sie fliegen zurück zum Flughafen, von dem Sie in der Schweiz gekommen sind›.»

Al Hafny bleibt keine Wahl, er besteigt den nächsten Flieger zurück in die Schweiz. Sein Gepäck erhält er nicht – schon wieder bleibt ihm nichts als sein Rucksack mit dem Laptop. Schon wieder muss er als Flüchtling von vorne beginnen. In der Schweiz angekommen, beantragt er Asyl. Die nächsten Monate verbringt er in Zentren in Bern und in Gampelen. Im Herbst 2019 verschlägt es ihn schliesslich nach Biel. Hier teilt er sich mit einem anderen Asylbewerber ein kleines Zimmer, er lebt sich in seiner neuen Umgebung ein und lernt erste Brocken Deutsch.

Dem Syrer wird aber auch klar, in welch misslicher Lage er sich befindet. Er ist weit weg von seiner Familie und seinen Freunden. Seine geplante Hochzeit ist auf Eis gelegt, er weiss nicht, wann er seine Verlobte wiedersehen wird. Er versteht die Sprache nicht und ist umgeben von einer Kultur, die ihm fremd ist. Seine Arbeit und sein Projekt fehlen ihm. «Ich muss hier bei weniger als Null anfangen», sagt er.

Er hadert mit den Gegensätzen

Im Februar hat Al Hafny den Ausweis B erhalten. Damit gilt er als anerkannter Flüchtling, der sich rechtmässig in der Schweiz aufhalten darf. Als Erstes möchte er nun richtig Deutsch lernen. Auf Anfang Juli braucht er ausserdem eine neue Wohnung – suchen muss er sie selbst, finanziert wird sie dann durch das Schweizerische Rote Kreuz.

Der Syrer denkt auch an seine berufliche Zukunft. «Ich möchte gerne meine Erfahrungen nutzen und in einer Organisation für Menschenrechte oder Flüchtlinge arbeiten.» Ihm schweben Ideen für neue Projekte vor, denn auch in der Schweiz fehle es an gewissen Integrationsprogrammen für Flüchtlinge. Ausserdem wird er noch immer an Konferenzen eingeladen, etwa im Frühling 2019 nach Brüssel.

Es sind diese Gegensätze, die ihm manchmal zu schaffen machen. An einer Konferenz spricht er vor wichtigen Menschen und darf in schönen Hotels wohnen. Dann kehrt er zurück in sein neues Leben als Flüchtling, in dem er sich das Zimmer mit fremden Menschen teilen muss. «Ich habe Mühe, meine Situation zu akzeptieren», sagt er. «Irgendwie bin ich glücklich und unglücklich zugleich.»

Über der Bieler Altstadt sind graue Wolken aufgezogen. Die ersten Tropfen fallen auf die Pflastersteine. Mohamad Ashraf Al Hafny verabschiedet sich. «Have a nice day», ruft er und lächelt. Dann schnappt er sich sein Fahrrad und dreht noch eine Runde durch die verwinkelten Gassen. Noch ein wenig Heimat spüren, ein wenig Damaskus suchen, bevor es zurückgeht in das kleine Zimmer.

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