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Festival

Unzählige Routen durch 
das eigene Ich

Die 12. Ausgabe von Ear We Are ist Geschichte. Der dreitägige Anlass in der Alten Juragarage in Biel endete mit einem fulminanten Auftritt des US-amerikanischen Kollektivs Irreversible Entanglements.

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Rudolf Amstutz

2021 hat man es schmerzlich vermisst: Das alle zwei Jahre stattfindende dreitägige Festival Ear We Are in der Alten Juragarage. Normalerweise eine Werkstatt, wird dieser aussergewöhnliche Raum jeweils für den Anlass leergeräumt. Man könnte sich diese Halle als Gehirn vorstellen, die tagaus, tagein nach einem bestimmten Muster funktioniert. Während des Ear We Are wird dieser Raum vom Alltag befreit – der Kopf wird geleert. Wer in diese geschaffene Freiheit eintritt, lässt die Bürden des Alltags, die heuer durch die pandemischen Vorsorgemassnahmen schwerer als sonst lasteten, aussen vor.

 

Ein Festival ohne Hits

Unvoreingenommen den Klängen lauschen zu können, die in jener Sekunde erklingen, in denen sie erdacht wurden: Das ist die wunderbarste aller Eigenschaften, mit denen das Ear We Are auch dieses Jahr das zahlreich erschienene Publikum beschenkte. Ein Ort, der sich der Dienstleitung verweigert. Hier werden keine sattsam bekannten Hits gespielt. Hier kann das Publikum nicht seine eigenen Erinnerungen beklatschen. Vielmehr sind die Künstlerinnen und Künstler Reiseführer, mit denen jede und jeder einzelne eine Reise ins eigene Ich antritt.

Das Performative lässt sich vom Partizipativen nicht trennen. Die Musik erklingt in jedem Kopf anders – abhängig von den individuellen kollektiven Erfahrungen. Die mit feinster Dramaturgie austarierten Solostücke des Gitarristen Flo Stoffner am Samstagabend führten letztlich zum kollektiven und begeisterten Applaus aller Anwesenden. Und dies, obwohl man davon ausgehen kann, dass sich die subtil vorgetragenen Klänge in jedem Kopf anders angehört haben müssen.

 

Kurzfristig Ersatz geholt

Der Vortrag Stoffners, der die Corona-bedingte Absenz von Maggie Nicols und Joëlle Léandre vergessen liess, war nur eine der möglichen Reiserouten durch den Kosmos der eigenen Erfahrungen. Christine Abdelnour und Magda Mayas liessen sich vom Raum zu einer sich langsam und stetig wandelnden, atmosphärisch dichten Klangwolke inspirieren. Bereits zu diesem Zeitpunkt – es war der zweitletzte Programmpunkt des Festivals – war klar, dass die 12. Ausgabe dieses international bekannten Anlasses, einmal mehr mit höchster Sorgfalt kuratiert wurde. Selbst die Absenzen, die sich kurzfristig ankündeten, wurden nicht «einfach nur» ersetzt, sondern die Leerstellen mit Bedacht und Sorgfalt wieder ausgefüllt. So kamen neben Stoffner auch Schnellertollermeier und Dorothea Schürch zu Auftritten, die sich nahtlos als Kapitel ins grosse Narrativ einfügten.

Fast wäre wegen der immer noch rigiden Reisebeschränkungen eine gewichtige Quelle der freien Musik unerhört geblieben. Doch auch da gelang es dem Organisationsteam mit höchstem Aufwand, das US-amerikanische Element ins Programm zu integrieren. Obwohl die Poetin und Aktivistin Camae Ayewa alias Moor Mother als Gastprofessorin im weit entfernten Kalifornien bis kurz vor Abflug noch lehrte und Saxophonist Keir Neuringer Upstate New York nur mit Hilfe eines Nachbarn seine Ausfahrt vom Schnee befreien konnte, stand das Kollektiv Irreversible Entanglements zum Festivalabschluss auf der Bühne in Biel.

 

Perfekter Abschluss

«Wake Up!» und «Are You Ready?»: Ayewas Statements waren kein Aufruf zu einer aktiven Begleitung zu einer Party, sondern ein Weckruf, um sich aktivistisch am Leben zu beteiligen. Die Band, die 2015 während eines Konzertes gegen Polizeigewalt in Brooklyn spontan gegründet wurde, beschloss das Ear We Are mit einem fiebrigen Vortrag – mit der Absicht das eigene Ich in Aufruhr zu versetzen. In der Tradition des Art Ensemble of Chicago, angelehnt an die klanglichen Explosionen eines Miles Davis der 1970er Jahre, durchsetzt mit der rhetorischen Dringlichkeit einer Maya Angelou oder eines Gil Scott-Heron, erschuf das Kollektiv Schicht um Schicht einen groovenden Klangkosmos, der sich als mächtige Druckwelle einen Weg durch die Köpfe der Anwesenden bahnte. Der perfekte Festival-Abschluss, mahnte er doch das Publikum zu mehr Engagement im Alltag, der draussen vor der Alten Juragarage wieder auf uns alle wartete.

Mit dem letzten Ton des amerikanischen Quintetts verabschiedete sich auch Daniel Schneider vom Organisationsteam. Ohne ihn hätte es vieles, was Biel an Kultur erleben durfte, nicht gegeben. Nun sei es aber an der Zeit, den Stab bei Ear We Are an Jüngere weiterzugeben. «Are You Ready?», Ayewas dringlicher Appel wird bei den nun Verantwortlichen besonders nachhallen. Viel Zeit bleibt nicht, denn um das Ear We Are wieder in den korrekten Zweijahres-Rhythmus zu versetzen, findet die 13. Ausgabe bereits nächstes Jahr statt.

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