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Biel

Verbandwechsel für den armen Kater

Sie lieben ihre Tiere über alles, aber den Tierarzt können sie sich nicht leisten: Gestern hat die
Susy-Utzinger-Stiftung für Tierschutz in Biel eine Sprechstunde für armutsbetroffene Tierhalter angeboten.

Jumper hält still während des Verbandwechsels. Dieser ist gratis, für die Medikamente muss der Besitzer etwas bezahlen. Bild: Yann Staffelbach

Mengia Spahr

Jumper macht seinem Namen leider alle Ehre. Der junge Kater ist an einem Freitagabend vor 20 Tagen aus dem dritten Stock gesprungen und liegen geblieben. Es war klar: Das Tier muss verarztet werden. Doch wie?

Der Besitzer sei bei allen Tierarztpraxen abgewiesen worden: Ohne Geld keine Untersuchung. Schliesslich fand sich eine Tierärztin, die Jumpers gebrochenes Bein bandagierte. Der Verband muss seither regelmässig erneuert werden. Gestern sass Jumper aus diesem Grund auf einem Tisch in den Räumen der kirchlichen Gassenarbeit Biel. Er und sein Besitzer besuchten die Sprechstunde, die von der Susy-Utzinger-Stiftung für Tierschutz (Sust) organisiert wird.

 

Kein Geld für die Behandlung

Tiere müssen regelmässig zum Tierarzt, und das kann schnell ins Geld gehen: Verschiedene Tierarztpraxen der Region haben auf ihren Websites Preislisten aufgeschaltet. Eine Konsultation kostet zwischen 45 und 60 Franken, für Impfungen bezahlt man zwischen 55 und 70 Franken, für die Kastration eines Katers rund 100 und für die Kastration einer Kätzin zwischen 200 und 250 Franken. Teuer kommt die Kastration einer über 50 Kilogramm Hündin – sie kostet bis zu 800 Franken.

Weil sich manche Tierhalter die tierärztliche Versorgung ihres Vierbeiners kaum leisten können, betreibt die Sust «Sozialarbeit für Tiere», ein Projekt, das es in elf Schweizer Städten gibt. In Biel bietet sie alle drei Monate Sprechstunden und eine veterinärmedizinische Versorgung an.

«Es ist ein verbreitetes Problem, dass Tierbesitzer kein Geld für die Behandlung der Tiere haben», sagt Corinne Frana, Projektleiterin der Sust (siehe auch Zweittext).

Als die Sprechstunden vor vier Jahren eingeführt wurden, seien vor allem Klienten der Gassenarbeit mit ihren Tieren gekommen. Mittlerweile habe sich die Kundschaft ausgeweitet. Die Sust arbeitet mit sozialen Institutionen zusammen, um auf das Projekt aufmerksam zu machen.

Während Jumper auf dem improvisierten Untersuchungstisch der Verband gewechselt wird, trinkt sein Besitzer im Nebenraum einen Kaffee. Er könne nicht zusehen, sagt er sichtlich nervös.

 

Beruhigen und beraten

In den Räumen der Gassenarbeit ist viel los. Leute kommen und gehen und immer wieder muss kontrolliert werden, ob die Türe geschlossen ist, damit keine Katze Reissaus nehmen kann. Der Andrang ist gross. Vielleicht werde man die Sprechstunden bald alle zwei Monate durchführen, sagt Frana. «Da wir auf Spenden und Legate angewiesen sind, müssen wir aber schauen, ob es finanziell drinliegt».

19 Hunde und Katzen haben an diesem Tag einen Termin. Tierärzte, Gassenarbeiterinnen und Assistenten sind von 10 Uhr morgens bis in den späten Nachmittag fast pausenlos dran; sie impfen, schneiden Krallen, impfen und geben Wurmmittel. Tierarzt Bruno Lötscher erklärt anhand einer Skizze den Zusammenhang zwischen einer entzündeten Analdrüse und Durchfall bei einem Hund. Als er die chronisch entzündete Drüse ausdrückt, macht der «tapferste Hund überhaupt» keinen Mucks, ein beissender Gestank erfüllt den Raum und der Besitzer will sich die Hände waschen.

Oft muss Lötscher Leute beruhigen, die sich um ihre Vierbeiner sorgen. Dass Kater Leo beim Spielen hechle wie ein Hund, sei normal, sagt er etwa und mit Lunas Bäuchlein sei alles in Ordnung. Doch die Kätzin sollte ein bisschen auf ihre Linie achten. Das Übergewicht der Tiere muss der Tierarzt in den Sust-Sprechstunden oft ansprechen. Der betagte Berner Sennen-Bordercollie-Mischling Prinz etwa wird als erstes auf die Waage gestellt. Es wäre gut, wenn er fünf bis sechs Kilogramm abnehmen würde, meint Lötscher. «Aber dann ist ja gar nichts mehr am Hund», sagt der seinerseits sehr dünne Besitzer. Der Tierarzt leistet viel Aufklärungsarbeit und vermittelt
Basiswissen. Es gebe tatsächlich Hunde, denen Banane gefüttert wird, erzählt er.

 

Fünf Franken Trinkgeld

«Übergewicht wegen zu viel Liebe kommt oft vor», sagt auch Frana. Und die Liebe spürt man. Fragt man die Besitzer nach dem Alter ihrer Tiere, nennen sie das genaue Geburtsdatum. Zwischen zwei Behandlungen erzählt der Tierarzt, dass die Vierbeiner das Ein und Alles vieler Klientinnen und Klienten seien: «Mir wurde schon gesagt, dass das Tier der einzige Grund sei, weshalb die Person morgens aufstehe und abends nach Hause komme.»

Die Untersuchung ist zwar gratis, doch Medikamente und Impfungen müssen die Tierhalter und Tierhalterinnen nach Möglichkeit bezahlen. Lötscher verlangt einmal neun, ein andermal fünfzehn Franken. Er ist sich bewusst, dass die Kundinnen und Kunden in finanzieller Not sind. Umso mehr merke er, wie dankbar sie sind, wenn jemand fünf Franken Trinkgeld dalasse.

Jumper hat übrigens keinen Versuch unternommen, vom Tisch zu springen. Wie die anderen Patienten hat er sich ausgesprochen ruhig verhalten. «Alles todliebe Tiere», mein Lötscher. Damit der Kater nicht wieder
unbedachte Sprünge macht, wird die Sust dem Besitzer ein Katzennetz zusenden, mit dem er den Balkon sichern kann.

Berit Schrickel, Inhaberin der Kleintierpraxis Nidauer Hof, stellt seit Jahren grundsätzlich keine Rechnungen mehr aus. Als sie vor sieben Jahren die Praxis eröffnete, haben sich innerhalb kurzer Zeit unbezahlte Rechnungen im fünfstelligen Bereich angehäuft. Auch in der Tierarztpraxis am Kanal in Biel werden nur Bar- oder Kartenzahlungen akzeptiert. Anders als in der Humanmedizin seien die Kosten in der Veterinärmedizin immer ein Thema, sagt Geschäftsinhaber Urs Studer. Er empfiehlt seiner Kundschaft, analog zur Krankenkasse eine Tierversicherung abzuschliessen, damit unerwartete hohe Tierarztkosten abgedeckt sind.

Helene Rohrbach, Mitglied der Spitalleitung der Kleintierklinik der Universität Bern, verweist ebenfalls auf diese Möglichkeit. «Vor allem Personen ohne festen Wohnsitz, die häufig mit Tieren unterwegs sind, oder Menschen mit einem sehr tiefem Einkommen, können von einer Erkrankung ihrer Tiere hart getroffen werden», schreibt sie auf Anfrage. Zusammen mit dem Verein für Gassenarbeit kümmert sich die Kleintierklinik im Rahmen eines Studierenden-Projekts regelmässig um die Tiere von Bedürftigen.

Schrickel erzählt, sie habe einige Kunden, die aus finanziellen Gründen nicht in die Praxis kommen, und ebenso viele, die den Tieren den Stress des Transports ersparen wollen. Wenn einem Tier die Verwahrlosung anzusehen sei, komme es vor, dass der Halter aus Scham keinen Tierarzt aufsuche. Rohrbach zufolge gibt bei einer schweren Erkrankung mehrere Möglichkeiten: Eine
Behandlung, die teuer werden könne, oder eine Euthanasie für knapp 100 Franken. Im Unterschied zur Humanmedizin sei grundsätzlich beides erlaubt. Es gehöre zur Aufgabe der Kleintierklinik, Tierhalter mit viel Gespür zu beraten. Problematisch sei es, wenn ein Tier nicht behandelt, aber auch nicht erlöst wird. «Dann handelt man unethisch und gegen das Gesetz.»

Unter einer ungenügenden
medizinischen Versorgung leiden laut Schrickel vor allem Katzen. Sie schätzt, dass diese rund 80 Prozent der Fälle ausmachen.
Darauf folgten Hunde und Kaninchen. «Katzen erhält man überall gratis, Hunde kosten etwas, deshalb pflegt man sie vielleicht auch besser», sagt sie. Studer verweist ausserdem darauf, dass Katzen oft Freigänger sind und man sie nicht so unter Kontrolle habe wie einen Hund, dem man schneller anmerke, wenn es ihm nicht gut gehe. Auch er kennt die Fälle, in denen ein Tierarztbesuch so lange aufgeschoben wird, bis die Erkrankung nur noch mit einer teuren Behandlung kuriert werden könnte. Er betont aber, dass sich die allermeisten Kunden sehr gut um ihre Tiere kümmern.

Schrickel zufolge arbeiten viele Tierärzte manchmal gratis. Auch sie sei zuweilen kulant, wenn sie wisse, dass sich jemand grundsätzlich gut um sein Tier kümmere, aber ein unerwarteter Beinbruch ein finanzielles Problem darstellt. «Es wäre hilfreich, wenn armutsbetroffene Tierhalter vom Sozialdienst unterstützt würden», sagt sie. Sprechstunden, wie sie die Susy-Utzinger-Stiftung anbieten, seien wichtig, aber funktionierten nur für Personen, die mobil sind. «Gerade ältere Menschen sind auf andere Lösungen angewiesen», so Schrickel.

Die Probleme dürften zunehmen: Studer hat Kunden, die wegen der Coronapandemie in finanzielle Engpässe geraten sind. Er geht davon aus, dass er in der nächsten Zeit vermehrt mit zahlungsunfähigen Tierhalterinnen zu tun haben wird. Mengia Spahr

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