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Fotoreportage

Verliebt seit 86 Jahren

Die Liebe mit der Kamera einzufangen, das ist nicht einfach. In einer eindrücklichen Bildreportage ist dem Bieler Fotografen Rolf Neeser genau dies gelungen. Für seine Arbeit, die demnächst in der Ausstellung zum diesjährigen Prix Photoforum zu sehen sein wird, hat er Walter und Silvia Frei begleitet. Die beiden 90-Jährigen haben sich als vierjährige Kinder das Ja-Wort gegeben und sind seither unzertrennlich.

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Text: Reto Bloesch
Bilder: Rolf Neeser


Die moderne Welt hetzt von Minute zu Minute an ihnen vorbei. Wie in einer Blase aus einer vergangenen Zeit sitzen Walter und Silvia Frei auf dem Bänkli in der Neumarkt-Migros in Biel. In ihre Blase dringt nichts. Nicht die hektische Zeit. Nicht die Lautsprecherdurchsage, dass irgendetwas aus irgendeinem Grund noch billiger ist. Nicht schreiende Kinder, streitende Paare oder der Lärm der Welt. Nichts. In der Blase von Walti und Silvie, so nennen sich die beiden, herrscht Liebe. Ihre Liebe.
 
Ein abgelegenes Dorf in den Bergen des Graubündens. Frühlingsferien 1931. Die kleine, vierjährige Silvie erwacht aus ihrer Einsamkeit und Langeweile. Der gleichaltrige Walti ist zu Besuch. Die beiden spielen auf frisch duftenden Frühlingswiesen. Jagen Schmetterlinge. Sammeln Beeren. Streiten, lachen, rennen, klettern. Und irgendwann fragt Walti seine bezaubernde kleine Freundin: «Willst du mich heiraten?»

Sie geben sich zärtlich die Hände. Silvie lacht wie das junge Mädchen auf der Frühlingswiese und himmelt ihren Walti immer noch an. Walti beobachtet mit seinem stechenden Blick die Umwelt und ihre Verrücktheit. «Ich will nichts mehr davon wissen», wird er später sagen. Das Bänkli in der Migros, auf dem sie jetzt sitzen, gehört zu ihrem Ritual. Hier setzen sie sich jeweils einen Moment hin, wenn sie einkaufen gehen. Die Geschichte ihrer Liebe kennt kaum jemand, auch wenn das Paar vielen Leuten auffällt, die hier vorbeigehen. Mit ihren selbst genähten Kleidern, die an die Mode einer vergangenen Zeit erinnern, bleiben sie den Passanten in Erinnerung. Ein Lächeln hier. Ungläubige Blicke da. Sanft erheben sie sich. Helfen sich gegenseitig auf die Beine, stützen und streicheln sich immer wieder zärtlich. Fürs Einkaufen vermischen sie sich kurz mit der normalen Welt.

«Ja» hat Silvie gesagt. Und gestrahlt wie eine kleine glückliche Sonne. Klar wollte sie den Walti heiraten. Den frechen, spannenden Buben, der sie aus ihrer Einsamkeit gerissen hat. In diesem Moment haben sich ihr Glück und ihre Liebe manifestiert. Und natürlich wollte der Walti dieses Glück gleich festhalten. Also wurde geheiratet, unter der Frühlingssonne im fernen Graubünden, mit Bergblumen, im weissen Kleidchen.

86 Jahre später ist von dieser Liebe noch nichts erloschen. «Er schreibt mir täglich Liebesgedichte», flüstert Silvie verlegen. Mit einem scheuen Lächeln und erröteten Backen fügt sie an: «Und er liest sie mir immer vor». Sie greift seine beschützenden Hände und folgt ihm durch die Einkaufsregale der modernen Welt. Eine Welt, welche die beiden nicht mehr interessiert. «Wir haben uns. Und wir haben täglich eine Aufgabe. Malen. Schreiben. Das reicht doch, oder», sagt Walti. Silvie nickt zustimmend.

Sie verlieren sich nach dem kindlichen Abenteuer nie mehr aus den Augen. Walti und Silvie bauen sich eine gemeinsame Welt auf. Eine Welt, wie sie ihnen gefällt. Zusammen entdecken sie die Musik, die Kunst, die Malerei. Zusammen spielen sie unzählige Konzerte. Stellen ihre Bilder aus. Zusammen errichten sie eine Welt aus Liebe. Eine unerschöpfliche Welt. Und eine Liebe, die hält.

«Die schwierigste Vorstellung ist, wenn jemand von uns beiden sterben würde und der andere noch alleine hier wäre», sagt Walti nach dem Einkaufen beim Apéro auf der Terrasse des Café zur alten Mühle. Und nimmt einen kräftigen Schluck seines täglichen Panachés. Die nachdenkliche Silvie stimmt ihm zu, mit einem leisen und liebevollen «das wäre schrecklich». Man spürt, wie schrecklich es wäre. Sie wollen nicht mehr getrennt werden.

Der Feierabendverkehr staut sich an der Terrasse vorbei. Genervte Leute und Lichter, hupender Lärm. Mitten drin Walti und Silvie, der Zeit entflohen. «Noch einmal Jung sein wäre toll», sind sich beide einig, «aber mit der Erfahrung, die wir heute haben.» Sie lachen sich zufrieden an. Dann erzählt Werner einen Witz über den Tod, den man wegsperrt, damit dieser niemanden mehr holen kann. «Aber irgendwann im Alter wird man müde, man mag nicht mehr, versteht auch die Welt nicht mehr.» Und so holen sie im Witz den Tod wieder zurück, um am Ende doch von dieser verrückten Welt gehen zu können. «Ja, wir verstehen wohl einfach nicht mehr alles. Die Welt und die Leute. Alles scheint mir oberflächlich und flach», meint Walti nachdenklich. Und nimmt einen letzten kräftigen Schluck.

Es herrscht eine seltene Stille in ihrer Wohnung. Tausende Fundstücke und wunderschöner Schmuck aus aller Welt liegen rum. Waltis Bilder verzieren die Wände, liegen verstreut auf dem Boden. Eine Wohnung wie ein Museum. Silvie setzt sich erschöpft hin, Werner streicht ihr zärtlich übers Haar. «Dies ist die junge, wunderschöne Silvie», ruft er plötzlich und holt ein Bild hervor. Stolz stemmt er es in die Höhe und lacht. Es zeigt eine junge hübsche Dame mit Hut. «Ich habe es gemalt. Ich habe Silvie oft gemalt. Ist sie nicht schön?»

Silvie schüttelt den Kopf verlegen. Sie lächelt. Im abendlichen Licht, das nun in die Wohnung strömt, erscheint ihre Silhouette wie ein Gedicht aus der Vergangenheit. Sie atmet tief durch. «Wir hatten Glück», sagt sie zum Abschied. Und schaut fragend zu ihrem Walti herüber. «Ja, wir hatten Glück», bestätigt er leise. Sie schauen sich tief in die Augen.


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Prix Photoforum 2017

Manche Bielerinnen und Bieler haben Walti und Sylvie Frei vielleicht schon auf der Strasse oder auf «ihrem» Bänkli bei der Migros gesehen. Die Fotoserie von Rolf Neeser, der das Paar mit der Kamera begleitet hat, ist im Rahmen der diesjährigen Ausstellung zum Prix Photoforum im Photoforum Pasquart zu sehen.

Bereits um 25. Mal hat das Photoforum Pasquart seinen alljährlichen Wettbewerb für Fotoschaffende mit Wohnsitz in der Schweiz ausgeschrieben. Neben einem Preisträger, einer Preisträgerin, wird eine kleine Gruppe von Fotografinnen und Fotografen eingeladen, um ihre Arbeit zu diskutieren, sie Expertinnen und Experten vorzustellen und in einer kuratierten Ausstellung zu präsentieren. Die diesjährige Preisträgerin heisst Léa Girardin. Die Fotografin Jahrgang 1989 aus dem Jura  wird mit einem Preisgeld in der Höhe von 5000 Franken ausgezeichnet._Girardin bewarb sich mit der Fotoserie «How long is a banana a banana?», in der sie sich mit ähnlichkeiten und Zitaten beschäftigt (siehe Bericht im BT vom 2. November).

Die Auswahl der Preisträgerin sowie der weiteren Ausstellungsteilnehmerinnen und -teilnehmer oblag einer Fachjury unter der Leitung von Nadine Wietlisbach, der Direktorin des Photoforums Pasquart. Weitere Jury-Mitgleider waren Christian Egger, Leiter der Galerie C in Neuenburg, und Nathalie Herschdorfer, Direktorin des  Musée des beaux-arts in Le Locle, sowie Vorstandsmitglieder des Photoforum Pasquart.

Für die Ausstellung ausgewählt wurden neben Léa Girardin 18 weitere Fotoschaffende,  die ihre aktuellen Arbeiten in der Ausstellung präsentieren. Zum zweiten Mal fand im Vorfeld der Ausstellung ein Kick-Off-Day statt, an dem die Künstlerinnen sich mit Experten aus den Bereichen Publizistik, Vertrieb und Vermittlung austauschen konnten. Die Ausstellung findet zeitgleich zur Cantonale Bern Jura statt. ahb

Info: Ausstellung Prix Photoforum, 3. Dezember bis 14._Januar. Photoforum Pasquart. Seevorstadt 71. www.photoforum.ch

 

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