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Zeitreise

Verurteilt wegen geklauter Lebensmittelcoupons

Vor 75 Jahren herrscht in der Schweiz Not und Entbehrung. Betrügerinnen wie Humoristen nutzen die Umstände auf ihre eigene Art. Das «Bieler Tagblatt» begibt sich auf eine Zeitreise in eine Affäre aus dem Jahr 1943. Die Szenen sind nachgestellt.

Humor: 1943 wurde der allgegenwärtige Mangel auch in den Comics des «Bieler Tagblatt» aufgenommen.
  • Dossier

Nandita Boger

Anna Sulzer* ist nervös. Den Stenoblock unter den Arm geklemmt, eilt sie in das Sitzungszimmer. Sie ist fünf Minuten zu früh. An der Wand steht eine Reihe abschliessbarer Schränke, der Schlüssel steckt im Schloss. Verstohlen bewegt sich die Angestellte in Richtung der Schränke, öffnet die Türe, greift hinein, zieht einen Stapel Karten heraus, schiebt ihn zwischen ihre Stenoblockseiten, drückt die Türe wieder zu und stellt sich wartend neben den Tisch. Als wenig später ihr Chef einritt, ist sie bereit, mit gezücktem Bleistift und Block, sein Diktat aufzunehmen. Seit Wochen geht das jetzt schon so. Ihre Nerven liegen blank, die Gefahr, entdeckt zu werden steigt von Tag zu Tag. Doch ihr Neffe Emil Frei* lässt nicht locker.

Humor gegen das Hungergefühl
Wie genau eine Angestellte des kantonalen Kriegswirtschaftsamts 1943 an die Lebensmittelcoupons gekommen ist, darüber kann 75 Jahre später nur spekuliert werden. Tatsache ist, dass sie für dieses Vergehen zu einer bedingten Gefängnisstrafe von vier Monaten verurteilt wurde. Das war im «Bieler Tagblatt» zu lesen.

Nach vier Jahren Krieg ist in der Schweiz die Versorgungslage schlecht. Lebensmittel sind rationiert. Für Weihnachtsgeschenke fehlt das Geld, die Punkte, oder beides. Als Festessen wird Erbspüree und eine Scheibe Zungenwurst empfohlen, zum Dessert ungesüsstes Apfelmus. Konfitüre ist nicht haltbar, weil sie kaum Zucker enthält. Für die Bevölkerung führt die Rationierung, wenn nicht zu Mangelerscheinungen, so doch zu einem ständigen Hungergefühl. Auch die Karikaturisten wenden sich dem Thema zu. Im «Bieler Tagblatt» sind zahlreiche Witze über die Fleischrationierung zu finden. Zum Beispiel, dass zum Besänftigen der Haie, die einen Schiffbrüchigen umkreisen, Fleischkarten helfen würden. Oder dass ein Stammgast in einem Varieté betont, er komme nur an fleischlosen Tagen in das Etablissement. Der Diebstahl von Rationierungskarten und der Handel damit sind lukrativ, oft sind mehrere Personen in den Betrug verwickelt.

Schwarzhandel mit Coupons
Es klopft an der Tür. Anna Sulzer zuckt zusammen. «Seit wann bist du so schreckhaft?», fragt Hans Sulzer*, ihr Ehemann. Er öffnet und lässt den 32-jährigen Neffen eintreten. Er wolle seine Tante besuchen, sagt dieser. Wie so häufig in letzter Zeit, denkt der Gatte. Den wahren Grund des Besuchs kennt er nicht.

Ob es so gewesen ist, wissen wir nicht. Das Gericht jedenfalls nimmt ihm seine Ahnungslosigkeit ab. «Das Berner Strafamtsgericht sprach den Ehemann frei», wird im BT zu lesen sein. Die Schweiz rechnet bei Kriegsausbruch mit einer Invasion, die Armee wird in höchste Bereitschaft versetzt. Die Mobilisierung der Armee führt dazu, dass Schweizer Männer zwischen 1939 und 1945 in den Aktivdienst eintreten müssen. Dem Neffen Emil Frei* werden «während des Aktivdienstes von einem Vertreter in Lausanne für die Beschaffung von Lebensmittelcoupons verlockende Angebote gemacht», heisst es im «Bieler Tagblatt» von damals.

Die beiden Männer stehen auf dem Kasernenhof und teilen sich eine Zigarette. «Du hast eine Tante auf dem Kriegswirtschaftsamt?», fragt der Lausanner ungläubig. «Das ist doch fantastisch!» Sie habe damit Zugriff auf die Lebensmittelkarten für Grosskunden, das müsse man sich zunutze machen. «Weisst du, ich kenne hier einen Menge Leute, die bereit sind, viel Geld zu bezahlen für Rationierungsgutscheine». Der junge Kaufmann lässt sich überzeugen, und verspricht, seine Tante für den Schwarzhandel anzuwerben.

Während des Kriegs ist die Privatwirtschaft, zumindest teilweise, ausgeschaltet, um die knappen Ressourcen auf die Bevölkerung, die Wirtschaft und die Armee aufzuteilen. Diese speziell auf die Erfordernisse des Kriegs ausgerichtete Regulierung der Marktwirtschaft, die sogenannte Kriegswirtschaft, ist in einer eidgenössischen Zentralstelle organisiert. Schrittweise werden immer mehr Lebensmittel der Rationierung unterstellt. Ab 1942 sind alle wichtigen Nahrungsmittel in das Rationierungssystem integriert.

Der Neffe kann «seine Tante dazu verleiten, auf dem Kriegswirtschaftsamt Grossbezüger-Coupons zu entwenden», heisst es im BT. Im Verlaufe von drei Monaten stiehlt die Angestellte Rationierungskarten, die zum Bezug von mehreren 1000 Kilo Lebensmitteln berechtigten. Für seine Vermittlungsdienste habe er 7000 Franken erhalten, sagt der Beschuldigte aus. Davon habe er der Tante 1900 Franken abgegeben. Dagegen steht die Aussage des Schwarzhändlers. Er will 17 000 Franken an den Kaufmann ausbezahlt haben.

Vier Monate Gefängnis bedingt
Streng blickt der Richter über den Rand seiner Brille. Vor ihm steht Anna Sulzer. Unaufhörlich rinnen die Tränen über ihre Wangen. Vier Monate Gefängnis! «Bedingt», was heisst, sie müsse die Strafe nicht absitzen, sagt der Richter. Aber die Schuld, die sie auf sich geladen habe, betreffe nicht einfach den Diebstahl. Ihr Denken und Handeln sei eine Gefährdung der Sicherheit und Unabhängigkeit des Landes, sagt er. Dass sie ihre Stelle beim Kriegswirtschaftsamt verlieren wird, denkt sie. Dass sie Hans nicht mehr wird in die Augen blicken können, denkt sie. «Übermorgen ist Weihnachten», denkt sie.

Beim Kaufmann lautete die Strafe sechs Monate Gefängnis auf Bewährung mit einer Probezeit von drei Jahren. In der Schweiz normalisierte sich die Lage erst 1949, mit der vollständigen Rückkehr zur direkten Demokratie.

* Alle Namen sind frei erfunden.

Rationen pro Monat
850 Punkte
betrug die Fleischration 1943 pro Person in einem Monat. 
Erstehen konnte man dafür vor allem Wurstwaren. Für 100 Punkte gab es 100 Gramm davon. 850 Gramm Fleisch sind vergangenes Jahr in der Schweiz durchschnittlich in fünf Tagen verzehrt worden. nan

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