Sie sind hier

Abo

Biel

Vier Stufen bis zur Lösung

«Oft tun wir uns und anderen verbal und nonverbal Gewalt an», sagt Onorina Magri. An der Bieler Schule Walkermatte zeigt sie Schülern und Lehrern, wie sie eine gemeinsame Sprache finden können, um Konflikte zu lösen.

Sarah Zurbuchen

«Du bist schlampig und unordentlich auf unserem Schulpult», sagt die neunjährige Erna zu ihrer Pultnachbarin Christine. Onorina Magri sagt: «Versuch zu sagen, was du beobachtet hast. Was hast du gesehen?» Erna versucht es noch einmal. «Gestern lagen auf unserem Schulpult zwei deiner Schulbücher und die Schale deiner Banane. Weil ich Platz für meine Sachen brauchte, habe ich die Dinge selbst weggeräumt.» Onorina Magri ist zufrieden. Denn dies sei der erste Schritt zur Gewaltfreien Kommunikation (GFK), sagt die Lehrerin.
Die zweite Äusserung beschreibt konkrete Handlungen, die wir beobachten und die unser Wohlbefinden beeinträchtigen.

Der erste Satz hingegen beinhaltet ein (moralisches) Urteilen über das Gegenüber. Dazu gehört das Zuschreiben von Eigenschaften an die Person (etwa gut/böse, gerecht/ungerecht oder eben ordentlich/schlampig).
Fazit: Die zweite Schilderung sorgt dafür, dass die Bewertung von der Beobachtung getrennt wird und das Gegenüber Klarheit erhält, worauf man sich bezieht. Die erste Schilderung hingegen vermischt Beobachtung und Bewertung des Gegenübers, was Widerstände auslösen kann und Gefahr für Missverständnisse birgt.


Coachings für Kinder
Die Primarlehrerin Onorina Magri ist GFK-Trainerin und übt mit ihren Schülerinnen und Schülern, aber auch mit der Lehrerschaft diese besondere Art der Verständigung. Magri bietet in der Bieler Schule Walkermatte jede Woche Coachings für Kinder an. Ausserdem unterrichtet sie das Freifach GFK. Alle zwei Monate bietet sie auch für den Lehrkörper ein Training an, in dem berufliche Reflexion und persönliches Coaching Platz haben.

Doch worum geht es dabei konkret? «Wir wollen eine gemeinsame Sprache in Konfliktsituationen finden», sagt die Lehrerin. Denn oft würden wir uns und anderen verbal und nonverbal Gewalt antun. Etwa wenn wir unsere Gefühle unterdrücken, unsere Bedürfnisse nicht äussern, andere für unsere Emotionen verantwortlich machen oder über den anderen urteilen.

«Wir lernen zu zeigen, wie wir uns fühlen und was wir uns wünschen», so Onorina Magri weiter. Denn sich selbst dem anderen zu zeigen, sei ein Geschenk und motiviere den anderen, empathisch zu sein und etwas für sein Gegenüber zu tun. Und so sieht das Ganze konkret aus: Angenommen, zwei Kinder haben Streit und melden sich zur sogenannten Giraffenstunde. Hier besprechen die Kinder zusammen mit Magri, was den Kindern Sorge oder Ärger macht. Dabei werden die vier Schritte der Gewaltfreien Kommunikation angewandt. Die vier Schritte widerspiegeln sich in einer Treppe, die von den beiden Kindern beschritten wird.

Das Kind, dem etwas unter den Nägeln brennt, beginnt auf der ersten Stufe mit «Ich habe gesehen, dass...», der beobachtenden Schilderung des Erlebnisses, das zum Konflikt führte. Das sich gegenüber auf gleicher Stufe befindende Kind wiederholt die Worte. Die Konfliktparteien steigen eine Stufe höher. Das erste Kind sagt nun, wie es sich dabei gefühlt hat. Das andere wiederholt wiederum die Worte. Auf der dritten Stufe soll nun das Bedürfnis des Kindes zu Wort kommen, «mir war wichtig...». Das Bedürfnis wird vom Gegenüber wiederholt. Auf der vierten und letzten Stufe wird eine Bitte geäussert. «Wärst du bereit...?» Hier geht es darum, was der andere dazu beitragen kann, dass sich das Kind wohlfühlt. Die Bitte soll positiv formuliert werden, und sie soll konkret und machbar sein, sagt GFK-Trainerin Onorina Magri.


Bitte ohne Zwang
Das angesprochene Kind gibt eine Antwort auf die Bitte. «Wichtig ist hier, dass es keinen Zwang gibt, die Bitte zu erfüllen, denn sonst ist es eine Forderung.» Die Kinder fänden zusammen praktisch immer eine Lösung, so die Lehrerin. Sie selbst gibt keine Tipps. Doch das ist auch nicht nötig. «Die Kinder sind unglaublich kreativ», sagt sie. Das Vier-Stufen-Konzept hilft den Kindern, sich auf Augenhöhe zu begegnen, sich Gehör zu verschaffen und respektvoll miteinander umzugehen. Themen, die die Kinder beschäftigen, sind etwa Freundschaft, Selbstbestimmung, Zugehörigkeit, Ruhe, Spiel und Spass, Rücksichtnahme, Akzeptanz und Respekt.

Es könne sein, dass das andere Kind anschliessend auch das Bedürfnis habe, gehört zu werden. «Dann werden die vier Stufen von vorne bestiegen, aber mit umgekehrten Rollen.»

Das Resultat sei erstaunlich, erzählt sie. Den Kindern falle oft buchstäblich eine Last von den Schultern, die Spannung löse sich auf und gebe Raum frei für Neues. Das Vertrauen in sich und die anderen wachse und die Schülerinnen und Schüler lernten, echt zu sein. So sei denn auch ein Leitspruch: «Sei nicht nett, sondern echt.»


Eltern profitieren auch
Die Schule Walkermatte bietet die Gewaltfreie Kommunikation seit fast drei Jahren an. Schulleiterin Marianne Ciccozzi sagt: «Wir verfügen dank diesem Mandat über Gefässe, die sich vertieft mit den Bedürfnissen, Konflikten, Verletzungen der Kinder auseinandersetzt.» Dazu brauche es jemanden, der sich Zeit nehmen kann.

Gleichzeitig wird dadurch auch die Lehrerschaft entlastet, die sich aus Kapazitätsgründen nur ungenügend um soziale Konflikte kümmern könne. «Es ist ganz wichtig, dass sich jemand vor Ort befindet, um Konfliktbewältigung zu betreiben», betont Ciccozzi. Der Schulleiterin der Schulen Neumarkt/Walkermatte ist aufgefallen, dass das Konzept der GFK bei den Eltern sehr gut ankommt. Zum einen, weil die Eltern so indirekt ebenfalls davon profitieren. Zum anderen, weil sie wissen, dass sich in der Schule jemand behutsam und nachhaltig um das Seelenheil der Kinder kümmert.

«Das heisst nicht, dass wir eine konfliktfreie Schule sind», sagt die Schulleiterin. «Aber der Umgang damit ist ein anderer. Es geht um eine Haltung, die hier entwickelt wird und die auch präventiv wirkt: Konflikte werden angegangen, wenn sie noch lösbar sind und nicht, wenn sie schon eskaliert sind.»

 

Gewaltfreie Kommunikation
Der Amerikaner und Psychologe Marshall Rosenberg entwickelte die Gewaltfreie Kommunikation (GFK) als Mittel für einen versöhnlichen und verbindenden Umgang miteinander und zur konstruktiven Lösung von Konflikten. Die Gewaltfreie Kommunikation bezeichnet sich als einfühlend statt bewertend, verbindend statt trennend. Die Fähigkeit, sich selber und anderen mit Empathie (Einfühlung) zu begegnen, ist ein zentrales Element in der GFK.

Die Haltung der GFK:
Alles, was ein Mensch tut, ist ein Versuch, ein Bedürfnis zu erfüllen.
Kritik ist Ausdruck eines unerfüllten Bedürfnisses.
Anstatt darum, ob etwas richtig oder falsch, gut oder böse ist, geht es darum, ob etwas das Leben erschwert oder bereichert.
Es wird versucht, Lösungen zu finden, bei denen die Bedürfnisse aller berücksichtigt werden.
Menschen tragen grundsätzlich gerne zum Wohlergehen anderer bei, wenn dabei ihre eigenen Bedürfnisse auch berücksichtigt werden. sz


Quelle: Gewaltfreie Kommunikation Schweiz

Nachrichten zu Biel »