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Biel

Von der Strasse in die Selbstständigkeit

Vor 30 Jahren wurde der Verein Casanostra gegründet. Die Mission war es, Wohnraum für alle zu schaffen. Das Thema hat bis heute nicht an Dringlichkeit verloren.

Daniel Bachmann ist schon seit vielen Jahren in der Sozialarbeit tätig. Peter Samuel Jaggi
Von Hannah Hermann
 
Drei Jahre lang hat ein Mann im Wald gelebt, ohne dass es jemand merkte. Zu Anlässen kam er immer herausgeputzt, nichts deutete auf seine Wohnverhältnisse hin. Doch eines Tages brach er zusammen. Das Wetter war das Jahr über kalt und nass gewesen und er hielt es nicht mehr im Wald aus. So kam er schliesslich zu Casanostra. Heute lebt er in einer eigenen Wohnung und macht eine Ausbildung zum Koch. 
 
Dies ist nur eine der vielen Erfolgsgeschichten, die der Verein für Wohnhilfe Casanostra verzeichnen kann. Gegründet wurde er 1991 durch Fritz Freuler. Die Motivation dahinter war, dass jeder und jede das Recht auf Wohnen hat.
 
Durch eine anhaltende Wohnungsnot in den 80er-Jahren und zusätzlich der Schliessung des Platzspitzes 1992 in Zürich, wurde die Situation auf dem Wohnungsmarkt immer dramatischer. Die Behörden räumten die bekannten Drogenplätze und schickten alle Konsumenten und Konsumentinnen in ihre entsprechenden Gemeinden zurück. So führte der Weg für viele auch wieder nach Biel. Zahlreiche Menschen landeten auf der Strasse, da sie keine Wohnung erhielten, oder sie hausten in heruntergekommenen Buden.
 
Casanostra wollte dem entgegenwirken und dafür sorgen, dass so etwas nicht noch einmal passiert. Für die Institution ist es wichtig, die Menschen unterzubringen und zu begleiten. Meist beanspruchen alleinstehende Personen den Verein. Doch mittlerweile sind auch viele alleinerziehende Mütter oder Menschen mit Migrationshintergrund dazugekommen. Der Verein ist ein Leistungserbringer der öffentlichen Hand. Zusammen mit der Stadt Biel hat Casanostra zwei Verträge abgeschlossen. Zum einen für die Bereitstellung von Wohnungen für sozial Benachteiligte und die Begleitung dieser Mieter und Mieterinnen. Der zweite Vertrag verpflichtet Casanostra dazu für die Stadt immer zwei Wohnungen für Notfälle freizuhalten, falls es in gewissen Fällen sehr schnell gehen muss. Dieses Jahr feiert Casanostra sein 30-jähriges Jubiläum.
 
Keine Abstinenz
 
Insgesamt 161 Wohnungen vermietet der Verein. Anmelden können sich die Betroffenen persönlich oder sie werden vom Sozialamt oder einer anderen Institution an Casanostra verwiesen. Es gibt jedoch ein Ausschlusskriterium: Die Person darf nicht über 70 000 Franken pro Jahr verdienen. Im Aufnahmegespräch klären die Sozialhilfebeziehenden mit einer Fachperson, wie die Wohnbedürfnisse aussehen und welche Ziele mit der Wohnbegleitung verfolgt werden sollen.
 
Nach der Aufnahme verbringen die meisten zuerst ungefähr ein halbes Jahr in einer Art Wohngemeinschaft mit einer anderen Person. So kann der Verein überprüfen, wie wohnfähig und sozial der Klient oder die Klientin ist. Mit der Wohnfähigkeit ist gemeint, ob der Beanspruchende sich selbst um sich kümmern kann. Je nach Situation erhalten die Betroffenen dann ihre eigene Wohnung und bekommen jede Woche oder alle paar Wochen Besuch von einem Sozialarbeiter oder einer Sozialarbeiterin.
 
Casanostra will so niederschwellig wie möglich sein. Die Beanspruchenden sollen sich nicht bedrängt fühlen. Drogenkonsumenten und -konsumentinnen müssen beispielsweise nicht abstinent leben. «Um dem Konsum von Drogen entgegenzuwirken ist oft eine Vernetzung mit anderen Institutionen nötig», so Geschäftsführer Daniel Bachmann. Auch müssen die Bewohnenden weder Arbeit noch eine Tagesstruktur vorweisen.
 
Doch es gibt Grenzen: Wer in der Liegenschaft zu dealen beginnt oder anderen Bewohnern und Bewohnerinnen wie auch den Sozialarbeitenden Gewalt androht, dem wird die Wohnung entzogen. Ebenfalls müssen sich die sozial Schwachen an die Ziele halten, die beim ersten Gespräch festgelegt wurden.
 
Einmal abgelehnt oder herausgeflogen, können sich die Betroffenen jedoch wieder bewerben. Es wird zwar bei der Aufnahme strenger getestet, als bei der ersten Anmeldung, doch bei Casanostra hat jeder und jede so viele Chancen wie nötig verdient, sagt Bachmann. «Irgendwann geht bei den Leuten der Knopf auf.»
 
Hilfe bei Kündigung
 
Die Mehrheit der Wohnungen kann Casanostra in eigenen Liegenschaften anbieten und somit den Unterhalt und die Hauswartung selber besorgen. Können die Klientinnen und Klienten in einer renovierten Wohnung wohnen, würden sie sich auch mehr Mühe geben, die Wohnung in Ordnung zu halten, sagt Bachmann. 
 
Der Geschäftsführer erklärt, das Wichtigste sei, die Menschen zu vernetzen, mit Psychiaterinnen, Ärzten und weiteren Anlaufstellen. Wenn erst einmal ein solches Netz aufgebaut ist, kommen die Leute ihrem Ziel näher: der Selbstständigkeit.
 
Die meisten Klienten und Klientinnen werden anderthalb bis zwei Jahre von Casanostra begleitet. Danach sind sie oft in der Lage, eine eigene Wohnung zu mieten. Insgesamt acht Sozialarbeitende sind momentan angestellt und kümmern sich um die Wohnbegleitung.
 
Casanostra bietet auch noch ein weiteres Angebot an: Wohnfit. Dies ist für Menschen, die schon in ihrer eigenen Wohnung leben und in dieser auch bleiben wollen. Oft gibt es Schwierigkeiten mit den Vermietenden und es droht in vielen Fällen schon die Kündigung. Casanostra versucht dann im Gespräch mit den Vermietern und Vermieterinnen, eine Lösung zu finden. Dabei ist es wichtig, dass sich die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter auch im Mietrecht auskennen. So können sie den Klienten und Klientinnen helfen, mögliche Kündigungen aufzuheben.
 
Neuer Wind im Büro
 
Daniel Bachmann ist seit rund vier Jahren Geschäftsführer von Casanostra. Er ist ursprünglich Sozialpädagoge und hat viele Jahre beim Bieler Sozialdienst gearbeitet. Die Thematik, mit der sich der Verein beschäftigt, war für ihn also kein Neuland. 
 
Zu Casanostra kam er, weil das Wohnen für ihn ein wirkungsvoller Schlüssel in der Sozialarbeit ist. Wenn es gelinge, die Wohnsituation zu verbessern, dann verbessere sich meist die gesamte Lebenssituation.
 
 «Seit 30 Jahre hat es Casanostra in der Stadt Biel gebraucht, in den letzten Jahren sogar immer mehr. Ich denke, es wird uns auch in 30 Jahren noch benötigen, wir werden uns dabei aber immer weiterentwickeln», kommentiert der Geschäftsführer das diesjährige Jubiläum.
 
Pläne für die Zukunft hat der Verein schon geschmiedet. Gemeinsam mit Genossenschaften will Casanostra auf dem Gurzelen-Areal ein neues lebendiges Quartier erschaffen: die Fleur de la Champagne. Es soll bei den zukünftigen Bewohnenden ein Bewusstsein für ein ressourcenschonendes Leben entstehen. Zudem soll die Siedlung autofrei sein und eine hohe Diversität aufweisen. Der Verein will versuchen, auch eine psychiatrisch geschulte Wohnbegleitung aufzubauen, weil immer mehr Klientinnen und Klienten unter starken psychischen Problemen leiden.
 
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Obdachlos nach der Scheidung
 
In der Mettstrasse ganz oben unter dem Dach liegt die Wohnung von M. B.*. Zur Strasse gibt es Balkone. Diese wurden nachträglich angebaut, vor allem für die Rauchenden.
 
Auf der anderen Seite des Hauses liegt eine Wiese. Hier soll es den Bewohnenden irgendwann möglich sein, Gemüse anzubauen. «Das kann aber auch oft zu Streitigkeiten führen», so Michelle Gisiger. Denn um den Garten muss sich gekümmert werden.
 
Die Sozialpädagogin arbeitet seit drei Jahren für den Verein Casanostra. Insgesamt 27 Klienten und Klientinnen hat sie zurzeit. Doch nicht alle muss sie wöchentlich besuchen.
 
Vor 23 Jahren kam B. in die Schweiz. Deutsch spricht sie nur gebrochen, immer wieder rutschen ihr spanische Wörter dazwischen. Seit drei Monaten besucht die aus der Dominikanischen Republik stammende Frau einen Deutschkurs. Ab und zu gehe es ihr zu schnell, aber sonst sei es eigentlich gut.
 
Seit zwei Jahren ist B. bei Casanostra, nachdem sie sich von ihrem Mann getrennt und somit keinen Ort zum Bleiben hatte. Zwischenzeitlich kam sie bei einem Freund unter. Dieser setzte sie jedoch wieder auf die Strasse, als es vermehrt zu Streitigkeiten kam.
 
Von Anfang an wurde B. von Michelle Gisiger betreut. Die Beanspruchenden von Casanostra werden immer von den gleichen Sozialarbeitern und Sozialarbeiterinnen besucht, damit sie eine Vertrauensperson haben.
 
In der Wohnung wohnt B. allein, ihre zwei Söhne sind längst erwachsen. Freunde hat sie nicht viele. Einmal die Woche schaut die Sozialarbeiterin für eine halbe Stunde vorbei. Dann gehen sie die Post, Rechnungen und andere wichtigen Papiere durch, die die Mieterin innerhalb einer Woche erhalten hat. Sie besprechen auch anstehende Termine. Die Dominikanerin ist eine verlässliche Klientin, sie kann für sich sorgen und sauber machen. Ab und zu rutscht sie jedoch in eine depressive Phase, dann sei sie oft traurig und weint, sagt sie. Casanostra stellt der Bewohnerin psychiatrische Hilfe zur Verfügung. 
 
* Name der Redaktion bekannt

 

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