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Titelgeschichte

Von Klischees und Realitäten

Wo liegen die Vorteile einer geführten Wanderung? Und welcher Typ Mensch nimmt daran teil? Um diese Fragen zu klären, hat das BT die Bieler Wanderleiterin Valérie Chételat während einer Tagestour auf den Bunderspitz begleitet.

Die letzten Meter vor dem Gipfel: Die Bieler Wanderleiterin Valérie Chételat zeigt auf dem Weg zum Bunderspitz ins Tal Richtung Adelboden. Bild: Guy Perrenoud

Text: Thorsten Kaletsch 
Bilder: Guy Perrenoud

Es ist auf dem Alpschellegrat, nach rund vier Stunden Wanderung, als Valérie Chételat den Fotografen und den Journalisten dieser Reportage vorausschickt. Wir beide hatten zu Beginn der Tour nicht resolut verneint, als die Wanderleiterin die Frage nach Höhenangst gestellt hatte. Jetzt sollen wir die schmale Traverse nördlich des Grats unter die Lupe nehmen und beurteilen, ob wir uns diesen Abschnitt der Route zutrauen.

Der Weg ist schmal und rutschig und nur an den exponiertesten Stellen mit Stahlseilen gesichert. Wir kehren nach ein paar Minuten zurück und erklären mehr oder weniger überzeugt, dass das Teilstück zu schaffen sei. Aber der Entscheid ist bereits gefallen. «Es ist zu rutschig. Wenn hier jemand abstürzt, ist er tot», sagt die Leiterin der Tour bestimmt. «Wir nehmen die längere Variante und steigen auf der Via-Alpina-Route nach Kandersteg ab.» Stunden später, als alle wohlbehalten im Tal angekommen sind, kommt sie noch einmal auf ihren Entscheid zurück: «So etwas darf nie die Gruppe selber entscheiden, das liegt allein in der Verantwortung des Guides. Und unsichere Teilnehmer darf man natürlich vor den anderen Gruppenmitgliedern auch nicht so blossstellen. Das habe ich nur gemacht, weil ich euch gut kenne.»

Wir begleiten Valérie Chételat an diesem Tag auf der Tour auf den 2546 Meter hohen Bunderspitz zwischen Kandersteg und Adelboden. Gestartet sind wir um 9 Uhr in Kandersteg und haben die ersten 500 Höhenmeter mit der Luftseilbahn auf die Allmenalp zurückgelegt. Mit dabei sind vier Teilnehmende, welche die Wanderung für 85 Franken bei der Bieler Wanderleiterin gebucht haben. Eine kleine Gruppe, die gut harmoniert, wie sich schnell zeigt.

Typologie der Wanderkunden

Vor dieser Tour haben wir uns gefragt, was für Menschen wohl geführte Wanderungen buchen. Schliesslich ist ja Wandern der Individualsport par excellence, gleichzeitig der Nationalsport der Schweizerinnen und Schweizer. Und warum soll man für etwas zahlen, was man problemlos auf eigene Faust unternehmen kann? Wir stellen uns in der Folge eine Typologie möglicher Kundinnen und Kunden für geführte Wanderungen vor.

Typ 1, die Konsumgeneration: Vermutlich eher jüngere Leute, die sich Genuss ohne lästige Vorarbeiten gewohnt sind und für die das Abenteuer im Vordergrund steht.

Typ 2, die Unsicheren: Tendenziell wohl eher eine weibliche Klientel, die sich im alpinen Gelände unsicherer fühlt und die eigenen Fähigkeiten auch realistischer einschätzt als ihre mit Testosteron gesegneten, risikofreudigeren Geschlechtsgenossen. Deshalb sind die Unsicheren froh, wenn sie Verantwortung abgeben können und Entscheidungen nicht selber treffen müssen.

Typ 3, die Manager: Menschen, denen wegen des intensiven Berufs- und Familienlebens ganz einfach die Zeit fehlt, um die eigenen Wanderungen selber zu planen und zu organisieren.

Typ 4, die Besserwisser: Vermutlich eher männlich, Typ pensionierter Sekundarlehrer, der 40 Jahre lang Schulreisen organisiert hat und jetzt sein Know-how bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit einbringen will. Mit seinen Nörgeleien ist er ein Albtraum für jeden Wanderleiter und – vor allem – jede Wanderleiterin.

Fast alles ist anders

Auf unserer Wanderung stellen wir dann fest, dass alles anders ist. Jedenfalls fast.

Bereits vor dem Einsteigen in die Gondel realisieren wir, dass sich die Teilnehmenden kennen. Die Begrüssung ist herzlich. Patricia ist 34 und arbeitet in Bern als Ergotherapeutin. Sie ist mit ihrem Vater Fredy (62) gekommen, der in Dulliken wohnt und als Hauswart und Sakristan arbeitet. Die gebürtige Französin Céline (44) arbeitet in Lausanne als Ingenieurin und wohnt in Romont FR. Als vierte Teilnehmerin ist Anita (55) mit von der Partie, eine gebürtige Freiburgerin, die in Bern als Lehrerin arbeitet. Die Gruppe ist also bunt gemischt: verschiedene Altersgruppen, verschiedene Sprachen.

«Macht euch mal Gedanken, wer aus eurer Sicht die bekannteste Adelbodnerin und der bekannteste Kandersteger ist», sagt Wanderleiterin Valérie Chételat gleich nach der Begrüssung. Die Auflösung soll aber erst später erfolgen. In der Gondel zeigt sich dann, dass die Teilnehmenden tatsächlich routinierte Wanderer und Wanderinnen sind: Sie alle haben eine Maske dabei, die dieser Tage im öffentlichen Verkehr zwingend getragen werden muss. Einzig der Fotograf und der Journalist haben nicht daran gedacht und müssen am Schalter der Luftseilbahn eine kaufen. Sie haben aber auch die detaillierte Packliste der Wanderleiterin nicht erhalten.

Lehrerin, aber nicht Typ 4

Auf dem Weg Richtung Bunderspitz erklärt die Freiburgerin Anita, warum sie gerne an geführten Wanderungen teilnimmt. Ihr fehle schlicht und einfach die Zeit für die Planung und Organisation solcher Touren, sagt die Lehrerin mit einem Vollpensum. «Zudem gibt es in meinem Kollegenkreis nur wenige, die fünf- oder sechsstündige Wanderungen absolvieren wollen.»

Und alleine wandern sei für sie nach zwei schwerwiegenden Verletzungen keine Option mehr. «Ich muss jemanden dabeihaben, der mir im Notfall beistehen kann.» Von einem Handicap ist bei ihr aber nichts zu bemerken: Sie ist genau so fit wie die übrigen Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Und besserwisserische Kommentare sind von ihr während der ganzen Tour nie zu vernehmen. Trotz ihres Berufs entspricht sie ganz und gar nicht dem Klischee des Typs 4.

Auf dem Gipfel, der nach etwas mehr als zwei Stunden erreicht ist, erklärt die Wanderleiterin das atemberaubende Panorama. Der Blick schweift auf der einen Seite von der Blüemlisalp über den gleichnamigen Gletscher zum Oeschinensee und tief ins Tal nach Kandersteg. Auf der anderen Seite ist Adelboden mit dem berühmten Skiberg Chuenisbergli und der Cholerenschlucht zu erkennen. Unmittelbar vor uns dominiert das Lonermassiv mit dem imposanten Chlynen Loner die Szenerie, der heute umrundet werden soll. Nach einem kurzen Exkurs über Adolf Ogi und das Vogellisi, die beiden berühmtesten Einwohner der Gemeinden im Tal, gehts zurück zum Passübergang auf dem Bundergrat, wo es Zeit für die Mittagspause ist. Hier verteilt der 64-jährige Fredy allen Teilnehmenden zum Dessert ein Stück Zitronencake, das er am Tag zuvor gebacken hat. «Während des Corona-Lockdowns habe ich mit Backen angefangen», strahlt der ehemalige Bergläufer, der sich noch immer einer beneidenswerten Fitness erfreut.

Wertvolle Tipps der Leiterin

«So, jetzt könnt ihr die Wanderschuhe ein bisschen enger schnüren, damit ihr beim Absteigen nicht nach vorne rutscht und zu viel Druck auf die Zehen entsteht», empfiehlt Valérie Chételat, als sie nach 35 Minuten zum Aufbruch mahnt. Die Traverse westlich des Chlynen Loners hat es dann tatsächlich in sich. Durch die Gewitter in den Tagen zuvor wurde der Weg über das steile Geröllfeld an mehreren Stellen verschüttet.

Das Gestein ist lose und erfordert höchste Konzentration. «Wenn ihr hier abrutschen solltet, müsst ihr euch sofort auf den Bauch drehen und mit allen vieren bremsen», mahnt die Wanderleiterin. Als alle heil auf der Bunderchrinde, dem populärsten Übergang zwischen Adelboden und Kandersteg, angekommen sind, liefert sie Informationen über die Einwohnerzahl in den beiden Gemeinden, über die Anzahl der Hotels und Betten. Ihren zweisprachigen Vortrag verfolgt auch ein zufällig anwesendes Ehepaar aufmerksam, das sich im Vorfeld erfolglos um einen Wanderleiter bemüht hatte. Die beiden erkundigen sich für zukünftige Vorhaben nach den Kontaktdaten der Bielerin.

Bei der ersten Trinkpause unterhalb des Bunderspitzs hatte Valérie Chételat eine kurzweilige Einführung in die Geschichte der Alpinfotografie gegeben und dabei Bilder von den beiden berühmten Fotografen-Dynastien Gyger und Klopfenstein gezeigt. Und beim ersten Zwischenhalt im Abstieg Richtung Kandersteg fragt sie die Teilnehmenden nach der Beschaffenheit des Gesteins in dieser Region und führt einen Test mit Salzsäure durch: Sofort schäumt es, womit klar ist, dass es sich um kalkhaltiges Gestein handelt. Sogar eine geologische und eine tektonische Karte zückt die Wanderleiterin. «Genau deshalb nehme ich an Touren von Valérie teil», sagt anschliessend Fredy. «Sie liefert einem so viele spannende Informationen, dass es ein echter Mehrwert ist. Zudem haben wir es auf geführten Wanderungen immer sehr lustig. Dafür zahle ich gerne etwas.» Klar unternehme er mit seiner Tochter auch alleine Touren. «Aber wenn ich im Programm von Valérie etwas Spannendes wie heute entdecke, bin ich dabei.» Da nehme er es gerne in Kauf, sein Tempo der jeweiligen Gruppe anzupassen. «Mit meiner Tochter bin ich schon etwas schneller unterwegs, aber in einer geführten Tour bekommt man dafür viel mehr über die Natur mit, und das wird mir immer wichtiger.»

Die soziale Komponente

Fredys Tochter Patricia hat Valérie Chételat 2016 bei einer Tour auf den Kilimandscharo kennengelernt. Seither hat die 34-jährige Ergotherapeutin an 13 weiteren Touren der Wanderleiterin teilgenommen und gehört damit zu den treusten Kundinnen. Sie war mit der Bielerin schon in Tansania, Nepal und Italien. «Höhepunkte waren die vielen Begegnungen, zum Beispiel mit den Gastgeberinnen und Gastgebern in den Hütten, in denen wir auf der Grande Traversata delle Alpi übernachtet haben», sagt Patricia. Auch die soziale Komponente sei ihr wichtig. Die Freundschaften, die entstünden, gingen über die geführten Touren hinaus. «Mit einigen Teilnehmern habe ich auch privat Kontakt und unternehme individuelle Wanderungen.» Sie hat vor dieser Tour Céline angerufen und sie motiviert, auch daran teilzunehmen.

Diese schätzt als gebürtige Französin vor allem die ortskundige Leitung der Wandertouren. «Ich kenne das Gebirge noch nicht so gut, obwohl ich seit nunmehr neun Jahren in der Schweiz lebe.» Für sie sei es super, wenn ihr jemand sage: Um neun Uhr morgens bist du dort, und um 17 Uhr sind wir am Ziel. «Ich organisiere und plane beruflich so viel, dass es für mich eine Wohltat ist, wenn ich den Kopf auf einer solchen Wanderung frei habe und nur geniessen kann.»

Sie mag Gespräche mit anderen Teilnehmern, die eine Tour kurzweiliger machen, und einem auch helfen, kleine körperliche Krisen während der Wanderung zu überwinden. Céline hat über zehn Jahre in Schottland und England gelebt und schätzt die abwechslungsreiche Landschaft der Schweiz. «Durch die Coronakrise haben jetzt auch viele Schweizerinnen und Schweizer entdeckt, wie schön ihr Land eigentlich ist. Hoffen wir doch, dass diese Erkenntnisse einen nachhaltigen Effekt auf ihr Reiseverhalten hat.»

Der Nörgler

Kurz vor Abschluss der Wanderung lässt sich Patricia die Typologie der Wanderkunden erklären, die vor dieser Reportage zusammengestellt wurde. Beim Typ 4, dem ehemaligen Lehrer und ständigen Nörgler, wird sie hellhörig. «Den gibt es tatsächlich!» Als die Wandergruppe in Kandersteg ankommt, bestätigt das Wanderleiterin Valérie Chételat.

Sie habe tatsächlich einmal einen ehemaligen Lehrer als Kunden gehabt, der ständig gemeckert und immer nur auf sich selber geschaut habe. «Das war aber glücklicherweise eine Ausnahme, und diese Person hat sich danach auch nie mehr angemeldet.» In der Gemmi Lodge vor der Busstation genehmigen wir uns zum Abschluss noch ein Getränk. Sie empfinde die persönlichen Kontakte auf solchen Touren als Bereicherung, bekräftigt Ingenieurin Céline noch einmal. «Und wenn tatsächlich einmal eine unangenehme Person dabei sein sollte, kann man ihr auch gut ausweichen.» Als sie das sagt, geht vor der Lodge ein Platzregen nieder. Acht Stunden waren wir unterwegs gewesen, ohne einen Regenschutz zu benötigen.

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