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Biel

«Während des Dolmetschens bleibe ich emotionslos»

Beim Übersetzen ist sie neutral, fast so, als wäre sie nicht da – und gleichzeitig ist ihre Aufgabe sehr wichtig: Die Türkischübersetzerin Hediye Oezcin hilft der Polizei und den Richtern bei der Arbeit.

Ist regelmässig am Regionalgericht Berner Jura-Seeland im Einsatz: Hediye Oezcin übersetzt an Gerichtsverhandlungen. Bild: Matthias Käser
  • Dossier

Aufgezeichnet: Deborah Balmer

Ursprünglich habe ich eine Bürolehre absolviert. Der Entscheid fiel, nachdem ich als Hotelfachfrau geschnuppert, mir dieser Beruf aber nicht gefallen hatte. Erst später merkte ich dann allerdings, dass auch der Büroalltag nichts für mich ist.

Mir entspricht es mehr, mit Menschen zusammenzuarbeiten. Auch mein Flair für Medizin entdeckte ich erst viel später. Ich lebe es im Privaten aus: Es begann mit der Pflege meiner Eltern, für die ich sorge und die ich regelmässig zum Arzt begleite. Meine Verwandten nennen mich deshalb spasseshalber die Ärztin der Familie.

Erst nachdem meine Töchter schon grösser waren, kam ich zu meinem Dolmetscherjob, den ich heute an Gerichten und bei der Polizei regelmässig ausführe. Zufällig stiess ich damals auf ein Inserat, in dem die Polizei eine Dolmetscherin suchte. Da dachte ich mir: Du sprichst doch eigentlich gut Türkisch, wieso also nicht? Danach kam ich direkt ins Verzeichnis der Übersetzerinnen. Bei der allerersten polizeilichen Einvernahme, bei der ich dabei war, ging es dann aber um ein sehr schlimmes Verbrechen. Das war ein harter Einstieg. Da dachte ich sogar kurz darüber nach, gleich wieder aufzuhören: Will ich das wirklich machen, fragte ich mich.

Später liess ich mich dann an der Zürcher Hochschule für angewandte Linguistik zur Dolmetscherin ausbilden und absolvierte eine interne Schulung bei der Polizei.

In den Momenten, in denen ich auf dem Polizeiposten oder im Gerichtssaal dolmetsche, bleibe ich immer emotionslos, auch wenn ich über Schlimmes reden muss. Manchmal kommen aber später daheim die Gefühle hoch. Es gibt erschütternde Geschichten, die man nicht ganz so einfach ignorieren kann.

Türkisch lernte ich in meiner Kindheit. Ich bin in der Schweiz geboren und im Kanton Solothurn aufgewachsen und ging neben der obligatorischen Schule wöchentlich ein paar Stunden in die Türkischschule. Dort und mit meinen Eltern lernte ich die Sprache. In den 70er- und 80er-Jahren gab es in der Schweiz ja noch keine türkischen Fernsehsender. Es war die Zeit vor den Parabol-Spiegeln.

Mein Vater kam als Gastarbeiter in die Schweiz und arbeitete zehn Jahre lang in der Industrie. Später eröffnete er in Solothurn einen Lebensmittelladen mit türkischen Produkten, der sehr gut lief. Wir waren fünf Kinder zuhause, ich war die jüngste, alle haben wir unseren Eltern viel geholfen. Schon als Mädchen habe ich also bei meinem Vater im Laden oft ausgeholfen, musste regelmässig für ihn und seine Kundschaft übersetzen. Manchmal rief er mich daheim an und fragte, ob ich denn schon aus der Schule zurück sei und ihm helfen könne. Ich habe das immer sehr gerne gemacht, es hat mich geprägt.

Meine Eltern kehrten später in ihre Heimat, die Türkei, zurück. Sie kauften in der Nähe von Istanbul ein Haus. Weil es ihnen gesundheitlich nicht so gut geht, leben sie heute aber wieder die meiste Zeit hier.

Als Gerichts- und Polizeiübersetzerin geht es natürlich um die unterschiedlichsten Fälle: Es beginnt bei Wirtschaftsdelikten, geht über Drogenfälle bis hin zu häuslicher Gewalt. Ich bevorzuge Übersetzungen am Gericht, weil polizeiliche Einvernahmen sehr anstrengend sein können. Oft finden diese kurzfristig statt, manchmal mitten in der Nacht. Im Einsatz bin ich in Biel, Solothurn und Bern.

Wenn man übersetzt, ist man neutral, fast so, als wäre man gar nicht da. Gleichzeitig bin ich eine sehr wichtige Person, muss immer genau das sagen, was der Polizist oder die Richterin sagt, jedes Wort muss präzis übersetzt werden. Auch wenn ein Beschuldigter flucht, wird das von mir wörtlich übersetzt. Das klingt dann manchmal schon fast wieder lustig. Man darf nie jemandem reinreden, und ich darf wie erwähnt auch keine Gefühle zeigen. Das wird uns in den regelmässigen Weiterbildungen immer wieder gesagt.

Manchmal denke ich darüber nach, wie es so weit kommen konnte, dass ein Verurteilter kriminell wurde. In einigen Fällen handelt es sich um jemanden, der ähnliche Voraussetzungen hatte wie ich. Aber oft ist es wohl irgendwie Schicksal, wie ein Leben verläuft. Oftmals hatten Kriminelle bereits im Elternhaus einen schweren Start, obwohl man ja nicht einfach den Eltern die Schuld geben kann, wie das eigene Leben verläuft.

Ich kann mir sehr gut vorstellen, eines Tages wie meine Eltern ein Häuschen in der Türkei zu kaufen. Am liebsten am Meer. Ganz in der Türkei leben möchte ich nicht, aber ich bin sehr gerne dort. Das Klima ist angenehm und ich schätze das Essen, die Märkte mit den frischen und günstigen Produkten. Gemüse beispielsweise hat vielleicht keine perfekte Form, kommt dafür aber direkt vom Produzenten. Das gefällt mir.

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