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Wahlkampf

«Was wäre, wenn eine Regierung an diese Daten kommt?»

Der Wahlkampf in der Schweiz läuft auf Hochtouren und zunehmend buhlen die Parteien auch im Internet und auf Social-Media-Plattformen um die Gunst des Wählers. Der Bieler Digitalstratege Mike Schwede spricht im Interview über den Umgang mit Fans und Anfeindungen, den gläsernen Wähler und die neuen Möglichkeiten der Manipulation.

Mike Schwede, Bieler Digitalstratege. Bild: zvg
  • Dossier

Interview: Parzival Meister


Mike Schwede, angenommen, Sie würden zu den Wahlen antreten: Wie sähe Ihre Kampagne aus?
Mike Schwede: Als erstes würde ich entscheiden, welche Themengebiete ich besetzen könnte. Dann würde ich schauen, wo gibt es Veranstaltungen, Verbände und sonstige Interessenvertreter, bei denen ich mit meinen Themen auf mich aufmerksam machen kann. Damit würde ich schon sehr früh im Vorfeld der Wahlen beginnen …

… was bedeutet «sehr früh»?
Grundsätzlich sagt man, dass es rund ein Jahr braucht, um eine gute Social-Media-Community aufzubauen: Im ersten halben Jahr baut man sich seine Kerngefolgschaft auf, im weiteren halben Jahr baut man seine Reichweite aus.

Wenn ich jetzt noch kurz entschlossen einsteigen wollte und genügend Geld investieren würde, könnte ich doch trotzdem noch viele Menschen erreichen.
Erreichen würden Sie damit nur, dass Sie mit Ihrer Werbung die Menschen nerven. Sie wären wie ein Staubsaugerverkäufer, der unverhofft an die Türe klopft. Zuerst müssen Sie Sympathien aufbauen, erst dann können Sie langsam Ihr Angebot, also in diesem Fall Ihre Kandidatur, bekannt geben.

Sie haben gesagt, Sie würden versuchen, an Anlässen auf sich aufmerksam zu machen. Also nicht online, sondern offline?
Genau. Ich beobachte zum Beispiel in England, dass das Anforderungsprofil an einen Social-Media-Community-Manager stets auch Erfahrung als Event-Manager beinhaltet. Online und offline spielen zusammen. Ich kann zwar online Besucher für einen bestimmten Anlass mobilisieren, am Anlass selber aber generiere ich neue Kontakte und Inhalt für meinen Online-Kanal. Das ist wie ein Kreislauf.

Und wie bringen Sie Ihre Botschaften dann an die potenziellen Wähler?
Ich würde sehr subtil vorgehen. Am Anfang, wie gesagt, würde ich mich in meinen Themenbereichen über Drittabsender etablieren. Erst danach sage ich: Liebe Leute, ich will nach Bern. In der Folge würde ich sogenannte Crowdsourcing-Elemente einsetzen. Das bedeutet, ich frage meine Community, welche Themen ihnen wichtig sind, wo sie Schwerpunkte setzen würden. Dadurch werde ich zum verlängerten Arm meiner potenziellen Wähler, erhalte neue coole Ideen und kann Themen rauspicken, die zu mir passen. Dann würde ich Werbung schalten, aber personalisiert. Bei jemandem, der an einer dicht befahrenen Strasse wohnt, würde ich versuchen, mit meinen Verkehrsthemen zu punkten, andere wiederum kann ich eher mit einem Kulturthema erreichen.

Auf welchen Online-Plattformen wären Sie aktiv?
Die jüngeren Menschen erreiche ich über Instagram, mit Facebook eher die älteren. Die Wirtschaftsleute finde ich auf Linkedin. Und ganz wichtig: Google. Die wenigsten Politiker schalten Werbung auf Google. Dabei fragen wir meistens als erstes Google, wenn wir etwas über eine Person erfahren wollen.

Was ist mit Twitter?
Ich schätze Twitter sehr, aber in der Schweiz ist diese Plattform eine Art Inzuchtveranstaltung der Kommunikationsbranche. Als Regionalpolitiker ist das vernachlässigbar, als Politiker von nationalem Interesse muss man aber dabei sein. Wenn ich mich auf Twitter bei bestimmten Themen positioniere, ist die Wahrscheinlichkeit massiv höher, dass ein Journalist auf mich aufmerksam wird, als wenn ich täglich Medienmitteilungen per Mail verschicken würde.

Würden Sie anstelle von Online-Beiträgen auch ganz traditionelle Wahlplakate aufhängen lassen?
Ich sehe Plakate als eine Verlängerung meiner Online-Aktionen. Die Botschaften teste ich zuerst online. Ich würde aber ganz gezielt vorgehen und nicht ganz Biel zupflastern. Und ich würde auch Mailings machen …

… also Emails?
Nein, echte Postzusendungen. Ich würde aber keine Wurfsendung wie zum Beispiel die Klimaaktivisten oder die SVP machen. Sie würden von mir einen personalisierten Brief erhalten, auf dem ich ein Thema aufnehme, das Ihnen zusagt – und ich dank Ihrem Online-Verhalten kenne. Und wenn noch übriges Marketing-Budget vorhanden wäre, würde ich auch Telefonmarketing betreiben.

Verschiedene Auswertungen in Schweizer Städten zeigen: Die höchste Wahlbeteiligung weist die Gruppe der über 60-Jährigen aus. Geht Online-Werbung nicht zum grossen Teil an dieser entscheidenden Zielgruppe vorbei?
Nein, die Gruppe der 60 plus googelt sehr viel. Sogar der grosse Teil der über 85-Jährigen ist online unterwegs. Rund ein Viertel der 4,5 Millionen regelmässigen Facebook-Nutzer sind bereits über 50, Tendenz stark steigend. Und wie gesagt, ich würde mit meinen Briefen und Telefonaktionen auch offline Menschen erreichen. Dann kämen vielleicht noch Werbung und Leserbriefe in einer Regionalzeitung wie dem BT dazu.

Wie kommuniziere ich meine Themen richtig auf den Social-Media-Kanälen?
Das schlimmste ist, wenn ein Politiker nur Apéro-Bilder und Wahlsprüche postet. Er braucht gehaltvolle Inhalte, damit er einen Mehrwert erhält. Wenn ich einer Person folge, muss ich wissen, dass ich hier Informationen und Insides erhalte, die ich nur bei ihm bekomme. Das können eigene, fundierte Meinungsbeiträge sein, aber auch zum Beispiel Zeitungsartikel zu bestimmten Themen.

Wie stark darf man anecken?
Es ist wichtig, nicht nur oberflächlich zu sein. Ein Politiker sollte eine klare Meinung vertreten. Er sollte zum Beispiel sagen, was er vom Westast hält. Wer Ecken und Kanten hat, wird für den Wähler fassbarer. Und dabei muss er nicht nur sachlich vorgehen, sondern auch emotional kommunizieren, also sagen, wenn ihn etwas aufregt oder freut.

Eine emotionale Meinungsäusserung kann aber auch dazu führen, dass man angefeindet wird.
Es ist wichtig, wie man seine Botschaften verpackt. Ich darf nicht nur sagen, dass mich etwas aufregt, sondern wieso und muss meine Meinung mit Fakten untermauern. Dadurch wird die Diskussion automatisch sachlicher. Und natürlich: Ich muss mit der Community interagieren. Social Media ist wie Politik vor allem Dialog.

Werden wir konkreter: Eine Politikerin äussert sich zu einem Thema und wird dann von einem User als «dicke Kuh» betitelt. Soll sie den Kommentar löschen, beantworten, oder ignorieren?
Löschen würde ich nur, was strafrechtlich relevant ist, also zum Beispiel ein Aufruf zu Gewalt. Die genannte Beleidigung aber würde ich einfach stehen lassen. Der Schreiber disqualifiziert sich damit selber und schweisst ihre Anhängerschaft durch eine solche Anfeindung sogar noch enger zusammen.

In einem «10 vor 10»-Beitrag haben verschiedene aktive Jungpolitiker angegeben, rund zwei Stunden täglich in ihre Social-Media-Arbeit zu investieren. Bei einem emotionalen Beitrag mit vielen Kommentaren reicht diese Zeit aber nicht, um auf alle einzugehen.
Man muss sich gewisse Kommentare herauspicken, fünf bis zehn gehaltvolle, auf die man näher eingeht – und zwar positive wie negative. Solche Interaktionen sind wichtig, weil man damit automatisch mehr Reichweite erhält und sich Geld für Werbung sparen kann. Im Dialog zu sein ist eine der Hauptaufgaben bei der Social-Media-Arbeit.

Reichweite erreicht man also durch Interaktionen. Wer provoziert, erhält automatisch mehr Kommentare und damit auch Reichweite. Ist Provokation also ein gutes Stilmittel?
Provokation ist tendenziell ein erfolgreiches Stilmittel. Rechte Parteien haben das schon länger für sich entdeckt als die «Linken», denn die waren effektiv lange zu «nett». Dass es auch anders geht, zeigt zum Beispiel die Operation Libero. Sie hat gezeigt, dass man provokant und trotzdem nett bleiben kann. Wichtig ist, dass ein Beitrag nicht einfach so zur Kenntnis genommen wird. Es kann schon helfen, am Ende eines Beitrags zu schreiben: «Und was ist deine Meinung dazu?»

Politwissenschaftler Claude Longchamp hat gesagt, mit Provokationen erreicht man die 10 bis 15 Prozent der Wähler ganz links oder ganz rechts. Wer bei den Mittewählern punkten will, für den können Provokationen gar kontraproduktiv sein.
Dem stimme ich zu. Längerfristig bringt es nichts, wenn ich nur provoziere – denn dann werde ich nur noch als Provokateur wahrgenommen. Provokation ist nur ein Stilmittel. Wichtig ist, emotional zu sein – und das geht auch, ohne zu provozieren, zum Beispiel auch mit Menschlichkeit und Freude.

Sprechen wir über eine andere Seite von Social Media. Sie haben eingangs selber erwähnt, dass Sie sehr personalisiert vorgehen würden. Das ist nur möglich, weil Facebook und Co. Datenkraken sind, die zum Teil mehr über uns wissen, als uns lieb ist. Wir sind zu gläsernen Wählern geworden. Für Sie als Kampagnen-Manager ein Segen, oder?
Ja sicher, das ist super. Ich kann in Biel hunderte bis tausende verschiedene Botschaften automatisiert an Mikrozielgruppen ausliefern.

Als Wähler finde ich das aber nicht so toll.
Vom Prinzip her haben Politiker das doch schon früher getan: Sie traten an Anlässen auf und sagten dem anwesenden Publikum, was es hören wollte. Durch Social Media ist dieses Verhalten leider intransparenter geworden. Sogenannte «Dark Ads» haben es ermöglicht, Botschaften an Zielgruppen zu verbreiten, ohne dass es andere sehen. Da hat Facebook eine ethische Verantwortung und zum Glück reagiert. Mittlerweile sind sämtliche beworbene Posts einsehbar, die jemand auch nur für eine gewisse Zielgruppe geschaltet hat. Und das ist für mich das Wichtigste: Transparenz.

Trotzdem macht mich mein Online-Verhalten lesbar.
Als Privatperson finde ich das nicht schlimm. Ich bin sogar froh, dass ich nicht mehr BH-Werbungen zugeschickt bekomme, sondern Angebote, die zu mir passen. Wichtig ist, dass für mich als User nachvollziehbar ist, wieso ich welche Werbung erhalte. Bei jeder Website, die ich öffne, werde ich ja gefragt, ob ich damit einverstanden bin, dass mein Surfverhalten gespeichert wird.

Ich wage mal die These: Die meisten User stimmen dem zu, ohne zu wissen, was sie damit preisgeben. So wie jeder angibt, die AGBs verstanden zu haben, obwohl er sie nie gelesen hat.
Ja, aber es ist transparent und manche User nutzen diese Möglichkeiten auch.

Aber werden wir dadurch nicht schleichend manipulierbarer, auch politisch?
Das waren wir doch schon immer. Es gab Zeiten, da hat man alles geglaubt, was in der Zeitung stand. Ja wir haben sogar der Werbung geglaubt. Aber wir Menschen haben immer gelernt, Dinge kritisch zu hinterfragen. Das ist heute beim Online-Bereich nicht anders. Wir müssen diese neue Welt erlernen. Das wichtigste Instrument dafür ist, dass alles transparent ist. Gleichzeitig ist es unsere Pflicht als Bürger, uns weiterzubilden. Ich habe drei Kinder und schätze ihre Medienkompetenz als sehr hoch ein. Entscheidend ist, dass ich weiss, was ich mit einem Klick von mir preisgebe. Ob ich es dann tue, ist meine freie Entscheidung.

Vielleicht sehen wir die Gefahren einfach noch nicht.
Ja, auch ich betrachte diese Datensammlungen kritisch.

Wo sehen Sie denn die Gefahren?
Gefährlich finde ich nicht, was Google mit meinen Daten macht. Die wollen mir einfach nur relevantere Dinge verkaufen. Aber wenn es in die Politik geht, wird es heikler. Da tragen Unternehmen wie Google und Facebook eine grosse Verantwortung. Was wäre zum Beispiel, wenn eine Regierung an diese Daten kommt? Wir sagen in der Schweiz, wir hätten ja nichts zu verstecken. Aber wissen Sie, ob die Regierung in 30 Jahren immer noch zu den Guten gehört? Ich weiss es schlichtweg nicht. Und was, wenn ich dann plötzlich als verdächtig eingestuft werde, weil ich vor 20 Jahren Bücher zu einem bestimmten Thema bestellt habe? Dann haben wir den Salat. Hier sehe ich die grösste Gefahr von Big Data.

Im Schweizer Wahlkampf sorgt aktuell die digitale Strategie der CVP für Kritik. Die Partei hat eine Website gebaut, die neutral klingt: kandidaten2019.ch. Wenn ich zum Beispiel auf Google nach Heinz Siegenthaler aus Rüti suche, erscheint diese Seite zuoberst. Klicke ich rein, wird mir suggeriert, Siegenthalers Partei, die BDP, sei auf dem Holzweg und «echte Lösungen» habe nur die CVP parat – und zwar ohne, dass ich von Anfang an merke, dass ich auf einer Seite der CVP gelandet bin.
Ich finde diese Aktion mutig, frech und schlau. Aber passt frech zur CVP? Ich glaube eher weniger. Hätten die Piraten oder die Juso darauf gesetzt, wäre dies lobenswert gewesen. Die Grundidee dahinter ist super, die Umsetzung jedoch zu dilettantisch: Eine Parteimeinung wird auf alle Kandidaten angewendet, das ist eine Pseudo-Personalisierung. Die URL suggeriert eine neutrale Seite, das ist manipulativ. Und dass mit den Farben anderer Parteien operiert wird, ist schlichtweg irreführend.

Blicken wir in die Zukunft: Werden wir als Wähler noch gläserner? Oder entsteht eine Gegenbewegung, die mit mehr Regulierungen für mehr Privatsphäre sorgt?
Künftig wird alles noch personalisierter werden. Und automatisierter, wenn Künstliche Intelligenz weiter ausgereift ist. Früher haben wir vielleicht zehn verschiedene Werbungen geschaltet und beobachtet, welche am besten ankommt. Inzwischen sind es Zehntausende. Algorithmen und Künstliche Intelligenz ermöglichen es, den Slogan automatisiert dem User anzupassen.

Werden wir also noch manipulierbarer, oder lernen wir vielmehr, damit umzugehen?
Jede Generation wird immer wieder mit neuen Technologien konfrontiert, wir werden in unserem Leben immer dazu lernen müssen. Der Umgang mit neuen Technologien liegt in unserer Eigenverantwortung; bis zu einem gewissen Grad. Es wird auch regulatorische Eingriffe brauchen. Fake-News zum Beispiel werden zunehmen und gefälschte Videos werden kaum mehr als solche zu erkennen sein, sodass ich künftig einen Politiker etwas sagen höre, dass er gar nie gesagt hat.

Wer ist gefordert?
Zum einen die Wissenschaft. Wir müssen Technologien haben, die erkennen, ob ein Video echt oder manipuliert ist. Und wie gesagt braucht es regulatorische Eingriffe: Fake-News dürfen kein Kavaliersdelikt mehr sein. Ich will aber nicht nur schwarzmalen: So lange wir mündige, gebildete Bürger hervorbringen, wird unsere Gesellschaft nicht manipulierbarer werden, als sie es bisher schon war. Aber wir müssen fit und wachsam bleiben.

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Zur Person
• Mike Schwede, 42-jährig, aufgewachsen in Murten, seit 1998 in Biel zu Hause. Hat drei Kinder, 9-, 15- und 16-jährig.
• Hat bereits in der Oberstufe begonnen zu programmieren und sich so einen Nebenverdienst aufgebaut. Er brach sein Studium nach kurzer Zeit ab und gründete im Alter von 21 Jahren eine eigene Firma für Online-Marketing (orange8 interactive).
• 2008 verkaufte er diese an die Firma Goldbach Group, 2010 wurde daraus Goldbach Interactive. 2011 verliess er das Unternehmen und machte sich wiederum selbstständig und lancierte diverse Startups.
• Als Berater entwickelt er noch heute digitale Strategien für Unternehmen und arbeitet zudem als Dozent für verschiedene Hochschulen in der Schweiz. Aktuell hat er ein Mandat für die Nationalratskampagne des FDP-Kandidaten Christoph Buser aus dem Kanton Basel-Land. 
• In der Freizeit isst und kocht er leidenschaftlich gerne, er mag Surfen und Fitness und die Zeit mit seinen Kindern. pam
 

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