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Frauenstreik

Weichen wir die Verkrustungen auf

Der heutige Tag steht im Zeichen der Frauen und der Benachteiligungen, denen sie immer noch ausgesetzt sind. 
Doch es geht auch um eine emanzipiertere Gesellschaft im Ganzen; und um einen Ausweg aus Burnout und Herzinfarkten.

Das BT hat 1991 den Frauenstreik mit leerem Raum thematisiert, Bild: Nico Kobel
  • Dossier

Sarah Zurbuchen

 
Am 15. Juni 1991 erschien das «Bieler Tagblatt» in einer aussergewöhnlichen, mutigen Form: Dort, wo Frauen einen Beitrag oder eine Fotografie veröffentlicht hätten, blieb ein weisser Fleck mit dem Hinweis: «Dieser Platz bleibt leer, weil die Journalistin am Frauenstreik ist.» Und der damalige Chefredaktor Martin Bühler schrieb auf der ersten Seite: «Liebe Mit-Männer, ich wundere mich einigermassen, wie viele von Euch sich durch den Frauenstreik haben verunsichern lassen.» Auch ich ging damals als 23-jährige, frischgebackene Journalistin auf die Strasse, um für die Rechte der Frauen zu demonstrieren. Die Stimmung war hoffnungsvoll, energiegeladen, solidarisch.
 
Heute, 28 Jahre später, streike ich wieder. Obwohl – oder vielleicht gerade weil – ich ernüchtert bin. Ernüchtert darüber, wie wenig sich seit damals bewegt hat. Ja, auf Gesetzesebene hat sich einiges getan, und das ist erfreulich. Doch die verhärteten, entschuldigt liebe Männer, patriarchalischen Strukturen der Schweiz haben sich seit damals nur wenig aufgeweicht. Beispiele gefällig? Meine persönliche Lebensrealität wurde geprägt von Erfahrungen wie diesen:  
•Ich wurde bereits im Alter von acht, dann von 13 Jahren und später mehrmals im Erwachsenenalter von Männern sexuell belästigt, verfolgt, bedrängt und bedroht. Die #Me-Too-Bewegung hat gezeigt, dass sich übergriffiges Verhalten seit 1991 nicht einfach in Luft aufgelöst hat. 
•Als ich in den 90er-Jahren herausfand, dass ich 400 Franken weniger verdiente als ein Arbeitskollege (gleiches Alter, gleiche Berufserfahrung, gleiches Pflichtenheft) und mich wehrte, wurde ich von meinem Arbeitgeber massiv unter Druck gesetzt. 
•Als alleinerziehende Mutter erhielt ich für jahrelange Haus- und Erziehungsarbeit keine gesellschaftliche, geschweige denn ökonomische Anerkennung.
•Nach der Scheidung musste ich mich trotz Erwerbsarbeit jahrelang nach der finanziellen Decke strecken.
•Der ständige Spagat zwischen Berufswelt, Erziehungs-, Sorge- und Hausarbeit endete schliesslich in einer Erschöpfungsdepression. 
•Weil ich neben der Kinderbetreuung nur teilzeit arbeiten konnte, war es mir nicht möglich, mir über Leitungspositionen oder eine weiterführende Karriere Gedanken zu machen.
•Aus demselben Grund konnte ich mir  keine genügende Altersvorsorge aufbauen. 
•Ich muss bis heute mit hauptsächlich männlichen Drohgebärden rechnen, wenn ich als Frau meine Meinung sage, keine Kompromisse eingehen und für mich und meine Sache einstehen will.
 
Aus Sicht einiger Mitmenschen mache ich mich hier zum armen Opfer, für die anderen bin ich womöglich «karrieregeil», «zickig», «frustriert» oder «prämenstruell», so wie es vielen Frauen unterstellt wird, die es in unserem Land des Konsenses wagen, hinzustehen und anzuklagen. Egal. Aus der Opferrolle kommen die Frauen nur, wenn sie darüber sprechen, was ihnen passiert. Wenn sie sich von Machtspielchen und Abwertungen nicht einschüchtern lassen und immer wieder aufstehen. «Die Strukturen sind zäher zu verändern, als dass ein paar nette Frauen sie mal eben wegwischen könnten», schreibt Laura Dornheim im deutschen Magazin Edition F. «Alle Rechte, die Frauen heute haben, mussten sie sich hart erkämpfen.» 
 
Die Sozialisierung des angepassten und folgsamen Mädchens steckt vielen noch immer in den Knochen. Da nehme ich mich nicht aus. Mein Leben war und ist geprägt davon, eine Frau zu sein. Das ist im Grunde genommen nichts Negatives, im Gegenteil, ich bin gerne Frau. Und doch schwebt da immer ein Schatten über mir. Meine Vorfahrinnen inklusive meine Mutter wurden als Menschen zweiter Klasse behandelt: Ihnen war es bis 1971 nicht erlaubt, sich an politischen Entscheiden zu beteiligen. Die Schweiz war bekannterweise eines der letzten europäischen Länder, welche ihrer weiblichen Bevölkerung die vollen Bürgerrechte zugestanden. Bis zur Einführung des Frauenstimmrechts in allen Kantonen vergingen dann noch einmal weitere 20 Jahre. Meine Vorfahrinnen erlebten ebenso, dass der Ehemann seine Frau ohne strafrechtliche Konsequenzen vergewaltigen durfte; verheiratete Frauen brauchten noch bis 1976 die Erlaubnis ihres Mannes, um einem Beruf nachzugehen. Erst mit dem neuen Eherecht 1988 verschwand die Bestimmung, wonach der Mann das Oberhaupt der Familie sei und die Frau den Haushalt zu führen habe. Alle diese Benachteiligungen tönen aus heutiger Sicht mittelalterlich. Doch noch vor einer Generation waren sie Alltag für Frauen. Das hat Auswirkungen bis heute. Grundlegende politische Beschlüsse wurden von einer männlichen Mehrheit erarbeitet, die in einflussreichen Entscheidungsgremien sitzt. Und diese verkrusteten Strukturen scheinen uns immer noch zu prägen. Das zeigt beispielsweise die Studie «Berufswünsche der Jugendlichen in der Schweiz: stereotype Rollenbilder und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf» aus dem Jahre 2015. Junge Frauen wählen ihren Beruf nach dem Kriterium aus, wie vereinbar er mit der Familie ist; junge Männer streben technische Berufe und Führungs- oder Kaderpositionen an und machen sich über die Vereinbarkeit von Familie und Beruf keine Gedanken.  
 
Von einer emanzipierten Gesellschaft profitieren wir alle. Kommen wir weg von den fragwürdigen Geschlechter-Stereotypen, unter denen – seien wir ehrlich – auch Männer leiden. Wie wärs, wenn wir Mädchen zu mehr Selbstbewusstsein, Meinungsäusserung und Durchsetzungsvermögen ermuntern, und Jungs dürfen im Gegenzug auch mal zuhören, Gefühle zeigen und achtsamer mit ihren Gspändlis umgehen? Ja, Gleichstellung kann für Männer  mehr Wettbewerb, schlechtere Karriere- und Aufstiegschancen, womöglich geringere Löhne bedeuten. Gleichstellung bedeutet auch Verzicht auf Status und Macht. Und was gewinnen sie? Eine Partnerschaft auf Augenhöhe, eine paritätische Verteilung von Aufgaben und Verantwortlichkeiten, von Rechten und Pflichten. Und es bedeutet vor allem: Mehr Freiheit und mehr Wahlmöglichkeiten für Männer und Frauen. 
Ich plädiere deshalb für einen offeneren Austausch zwischen den Geschlechtern. Wir dürfen unsere Erwartungen, Ängste und Bedürfnisse äussern, um danach einen gemeinsamen Weg auszuhandeln.  
Es geht um eine lebenswertere Gesellschaft, in der alle Menschen Zugang zu Arbeit und Karriere, aber auch zu Familie und Sozialleben haben. Es geht um eine Gesellschaft, die einen Ausweg aus Burnout und Herzinfarkten findet, in der Leistung und Status nicht oberstes Gebot sind, sondern Lebensqualität, Menschlichkeit und Authentizität. Oder wie Martin Bühler schon 1991 schrieb: «Was gewinnen wir (Männer)? In allen Lebensbereichen eine andere Sicht der Dinge. Sie könnte uns aus einigen Sackgassen heraushelfen, in die sich unsere Männergesellschaft manövriert hat.»

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