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„Krawattenzwang“

Wenn man in der Politik „über die Bücher geht“

Im persönlichen Blog berichtet Bernhard Rentsch, publizistischer Leiter der Gesamtredaktion und Chefredaktor „Bieler Tagblatt“ wöchentlich über Erlebnisse im privaten wie im beruflichen/gesellschaftlichen Leben – dies immer mit einem Augenzwinkern. Heute: Wenn man in der Politik „über die Bücher geht“.

Bernhard Rentsch: Krawattenzwang
  • Dossier

Die nationalen Wahlen sind vorüber, es stehen in einzelnen Kantonen noch zweite Wahlgänge für die Sitze im Ständerat an. Ansonsten: passé. Für die einen leider, für andere zum Glück. Die Resultate, ob überraschend, ob erwartet, ob als Welle bis zum Tsunami beurteilt oder als historisch bezeichnet – sie hallen nach und sind für die nächsten vier Jahre politisch mitentscheidend. Ob die nächste Legislatur als prägend und wegweisend oder wieder als «verloren» beurteilt wird, schätzen wir 2023 ein. Wir erwarten Ersteres.

Die Plakate verschwinden, die Werbesprüche verhallen. Was mir aus den letzten Tagen eindrücklich bleibt, ist die Floskel «wir müssen nun zuerst über die Bücher gehen». Damit wird generell infrage gestellt, was uns in den letzten Wochen und Monaten gebetsmühlenartig vorgekaut wurde, und womit letztlich um unsere Stimme gekämpft wurde. «Über die Bücher» gehen im Übrigen Siegerinnen und Sieger wie Verliererinnen und Verlierer, auf nationaler TV-Stufe, in der Lokalpresse oder in der Ortspartei.

Was will man uns sagen? Hier eine Auswahl an Interpretationen:

  1. «Wir sind echt überrascht und wissen nicht, wie auf Erfolg oder Misserfolg reagieren.» Dann wurden die Zielsetzungen mit Best- und Worstcase nicht richtig festgelegt. Die Antizipation mithilfe der zahlreichen Prognosen und Hochrechnungen wurde nicht gemacht.
  2. «Mit dem Erfolg/Misserfolg der andern haben wir nicht gerechnet». Dann wurde die im Sport bekannte Gegneranalyse vernachlässigt. Umfeld und Mitbewerber sind immer zu beachten.
  3. «Die Konstellation hat sich komplett verändert». Dann erfolgten nach den Wahlen neue Absprachen und neue Druckversuche. Hinter verschlossenen Türen wurde gestritten, gekämpft, analysiert und taktiert. So muss es gewesen sein. Fast als ob gelten würde: «Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern». Politikerinnen und Politiker: Also bitte!

Zugegeben, Spontanreaktion vor Kameras und Mikrofonen ist nicht Sache für jedermann/jedefrau. Wenn man sich jedoch ins sogenannte Haifischbecken der nationalen Politik begibt, muss man sich seiner Rolle in der Öffentlichkeit bewusst sein und sofort und ehrlich kommunizieren können. Gerade via soziale Medien wird ja aktuell sehr schnell reagiert, manchmal zu schnell. Ansonsten muss man generell «über die Bücher gehen».


brentsch@bielertagblatt.ch

Twitter: @BernhardRentsch

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