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Biel

«Wir gehen nicht, wir kreisen»

Seit zehn Jahren bietet Magdalena von Känel in Biel Rhythmikkurse für Personen über 65 an. Die Kurse verringern das Sturzrisiko massgeblich. Einige der ersten Teilnehmerinnen sind heute noch dabei und stolz auf ihre Fortschritte.

Magdalena von Känel (rechts) gibt Inputs. Bei der Ausführung gibt es kein Falsch. Bild: Yann Staffelbach

Mengia Spahr

Eine kleine, weisshaarige Frau steht aufrecht vor mir: «Sie müssen wissen, wir sind alte Damen. Es ist keine Selbstverständlichkeit, was wir hier machen», sagt sie. Die Frauen haben sich zum Klavierspiel ihrer Rhythmiklehrerin, Magdalena von Känel, aufgewärmt. Sie haben ihren Rücken gerundet, als lägen sie im Liegestuhl, um sich gleich darauf lang zu ziehen wie eine Marionette. Sie haben ihre Schritte Rhythmus und Tempowechseln angepasst und sind zu romantischer Musik mal mit pulsierenden, mal mit runden Bewegungen durch den Raum gegangen. Das sieht bei jeder Frau anders aus. Manche sind anfangs etwas zurückhaltend. Immer wieder lacht jemand auf. «Wir gehen nicht, wir kreisen», sagt von Känel. «Versucht, den ganzen Saal zu füllen.» Die Bewegungen werden immer grösser.

Laufen und zählen

Plötzlich liegen die Seniorinnen am Boden. Sie sollen sich Dinge ausdenken, welche lang und gerade sind, und jemand hat soeben «Strasse» gerufen. Ein guter Grund, am Boden zu liegen. Schlechte Gründe gibt es leider für Personen ihres Alters auch: Jede und jeder dritte über 65-Jährige stürzt mindestens einmal pro Jahr. Denn mit zunehmendem Alter schwinden Muskelkraft und Gleichgewichtssinn, ausserdem lassen Sehkraft und Hörfähigkeit nach. Die Folgen: Unsicherheiten beim Stehen und Gehen sowie eine eingeschränkte Reaktionsfähigkeit. Zwar bricht sich nur jede 20. betagte Person beim Stürzen einen Knochen. Doch Knochenbrüche ziehen oft einen Verlust der Selbstständigkeit nach sich. So sind die Betroffenen in der Folge manchmal pflegebedürftig. Ausserdem kann die Angst vor weiteren Stürzen dazu führen, dass sich ältere Menschen zurückziehen.

Reto Kressig, Professor für Altersmedizin an der Universität Basel, hat festgestellt, dass eine Stunde Rhythmik pro Woche das Sturzrisiko halbiert. Denn Rhythmik erhöht die Gangregelmässigkeit. Forscherinnen messen diese im Ganglabor, indem sie Versuchsteilnehmende über ein Band laufen lassen, das die Bewegungen aufzeichnet. Dann weisen sie die Personen die zum Beispiel an, während des Gehens in Zweierschritten rückwärts zu zählen. Ältere Menschen bewegen sich daraufhin in der Regel weniger gleichmässig und langsamer. Nicht so Seniorinnen, die regelmässig Rhythmik praktizierten – sie sind es sich gewohnt, mehrere Dinge gleichzeitig zu machen.

Auf die Musik reagieren

«Ein Grossteil der sogenannten Dalcroze-Rhythmik funktioniert über das Gehen», erklärt Kursleiterin von Känel. «Wir gehen in einem bestimmten Tempo, halten an, verdoppeln das Tempo.» 2011 hat von Känel begonnen, in Biel Rhythmikkurse für über 65-Jährige anzubieten (das BT berichtete). Viele der damaligen Kursteilnehmerinnen sind noch heute dabei. «Ich spüre, dass ich Fortschritte gemacht habe», sagt eine von ihnen. Von Känel findet, dass die Frauen bereits nach zwei Jahren regelmässigen Praktizierens von Dalcroze-Rhythmik viel sicherer unterwegs sind.

Rhythmik kennen die meisten wohl aus der musikalischen Früherziehung. Der Genfer Komponist und Musikpädagoge Émile Jaques-Dalcroze begründete anfangs des 20. Jahrhunderts eine rhythmische Lehre, die Menschen auf die Kunst vorbereiten soll. «Alles, was in der Musik ist, wird in der Bewegung auch gesucht. Wir bewegen uns miteinander, nacheinander oder im Wechsel. Jemand macht lange Schritte, jemand kurze. Regelmässiges und Unregelmässiges wird umgesetzt», sagt von Känel.

Rhythmik sei eine Vorbereitung für alles, was man brauche, wenn man in einem Orchester spiele, eine Choreografie oder ein Theater aufführen wolle. «Da muss man den Überblick behalten, auf Signale reagieren, Abläufe visuell und auditiv koordinieren und spüren, wie lange man den Spannungsbogen halten will, bevor man es knallen lässt.»

Die diplomierte Rhythmiklehrerin hat 30 Jahre lang an der Musikschule Biel Kinder und Jugendliche unterrichtet. Aufgrund der Unmittelbarkeit funktioniere Rhythmik auch für Menschen, die keine komplizierten Abläufe erfassen können, sagt sie. Ganz kleine Kinder oder auch demente Personen reagieren ihr zufolge direkt auf die Musik und die Bewegungen, die ihnen vorgemacht werden.

Gymnastik für das Gehirn

Die Übungen können aber auch kompliziert werden. Von Känel arbeitet an diesem Nachmittag mit den Seniorinnen viel mit Regeln: Wenn jemand klatscht, müssen sich alle schneller bewegen. Wenn jemand «schsch» macht, wieder langsamer. Immer eine Person muss stehen bleiben, während die anderen umhergehen. Nur jemand darf sich jeweils bewegen, während die anderen stillstehen. «Behaltet den Überblick», mahnt von Känel. Den Teilnehmerinnen ist die Konzentration ins Gesicht geschrieben. Sie reagieren immer schneller auf die Impulse.

«Man muss auf vielen Ebenen aufmerksam sein: Wo befinde ich mich im Raum? Wo sind die anderen? Was sehe, spüre, höre ich?», sagt die Lehrerin. Oft stelle sie fest, dass die Teilnehmenden sich verschliessen, wenn eine Schwierigkeit dazukommt. Dem müsse man entgegenwirken und notfalls ein Element weglassen, damit sie die Übungen gut ausführen können. Es ist erwiesen, dass das Multitasking, das die Teilnehmerinnen hier üben, ihnen hilft, sich im Alltag sicher zu bewegen.

In der Pause eingerostet

Wegen der Coronapandemie ist der Unterricht im letzten Jahr grösstenteils ausgefallen. Die Rhythmikerin sagt, sie habe den Teilnehmerinnen die fehlende Übung angemerkt: «Viele waren in sich zusammengekugelt. Man musste sie wieder öffnen, gemeinsam durchatmen und die Sinne benutzen.» Auch die Interaktionen seien etwas eingerostet und noch immer habe sie den Eindruck, dass einzelne Teilnehmerinnen weniger initiativ sind als vor der Pandemie und eher einmal abwarten, bevor sie selber kreativ werden. «Man kann die Schüchternheit und das Halbpatzige ablegen in der Rhythmik», sagt sie. Eine Übung sei nur so gut, wie das, was die Teilnehmenden daraus machen.

Vorhang auf

In der Burg der Bieler Altstadt bietet von Känel zurzeit zwei Kurse an – einen für deutschsprachige und einen für französischsprachige Seniorinnen. Männer seien selbstverständlich auch willkommen, doch die Rhythmik scheint ein «Frauending» zu sein.

Im deutschsprachigen Kurs sind diesmal nur drei Teilnehmerinnen anwesend. Sie sind 69, 76 und 87 Jahre alt. Als die Älteste ihr Alter nennt, sind alle erstaunt. «Manchmal spürt man es schon», sagt sie. Hin und wieder sei ihr etwas schwindlig. In der Rhythmik verbessere sie Standsicherheit und Gleichgewicht – «und es macht viel mehr Spass als ein herkömmliches Training».

Die 76-jährige Teilnehmerin besucht den Kurs seit zehn Jahren. Sie sei gefordert, finde es aber gleichzeitig sehr entspannend, sich frei bewegen zu können. «Ich dachte immer, ich sei nicht besonders kreativ. Hier komme ich auf neue Ideen», sagt sie. Alle drei sind sich einig, dass die Verbindung von Musik und Bewegung den Reiz des Kurses ausmacht. Eine musikalische Bildung ist nicht vonnöten, aber Freude an der Musik müsse man haben. Als von Känel gegen Ende des Kurses einen Tango ab CD spielt, reisst der Rhythmus mit. Die Frauen spannen ein Elastikband zwischen sich auf und bilden damit Figuren. Zuerst sitzen sie noch auf Hockern, bald bewegen sie sich durch den ganzen Raum. Von Zurückhaltung ist jetzt nichts mehr zu sehen.

Stichwörter: Biel, Rhytmik, Kurs, ü65

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