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Nidau/Kabul

«Wir stehen unter Schock»

Roqia Alavi und Hakim Miri leben in Nidau, ihre Familien jedoch in Afghanistan. Dort harren sie in ihren Wohnungen aus. In Sicherheit sei zurzeit nur, wer sich den Taliban anschliesse, sagen die beiden.

Frauen demonstrieren in Kabul, bevor die Taliban an die Macht kamen. Fotojournalistin Roqia Alavi war dabei.  ZVG/Roqia Alavi
Hannah Frei
 
Roqia Alavis Schwestern befinden sich in ihren Wohnungen in der afghanischen Hauptstadt Kabul und warten. «Ihr Zuhause ist wie ein Gefängnis», sagt Alavi. Zu gross sei die Angst, von den Taliban – oder solchen, die es noch werden – bedroht oder angegriffen zu werden. Essen bringen ihnen andere Frauen, verhüllt, unauffällig, leise. So sind Alavi und ihre sechs Schwestern nicht. Eine von ihnen ist Fitnesstrainerin. Alavi zeigt ein Foto von ihr in enger Trainingskleidung vor dem Spiegel. Eine andere ist Lehrerin an einer Privatschule, deren Gründer sich gegen die Ideologie der Taliban stellt.
 
Auch Roqia Alavi sitzt in ihrer Wohnung in Nidau und wartet. «Wir stehen unter Schock», sagt sie. Der Fernseher läuft, die afghanische Popsängerin Aryana Sayeed ruft in einem Song zum Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung aus. «Sie ist mein grosses Vorbild. Sie hat so viel getan für unsere Rechte. Aber nun ist alles dahin.» Sayeed ist laut dem Fernsehsender CNN letzte Woche aus Kabul geflohen. Alavis Schwestern sind geblieben.
 
Kaum essen, kaum schlafen
In den letzten Tagen habe sie kaum geschlafen, sagt Alavi, kaum gekocht, kaum gegessen, nur gewartet. Sie wohnt mit ihrem Mann Hakim Miri und den gemeinsamen Kindern in einer Wohnung in der Nähe der Zihl. Im Wohnzimmer steht ein massiver Holztisch, eingepackt in Plastikfolie, genauso wie die Fernbedienung. Alavi sitzt auf dem grünen Samtsofa, Miri daneben auf dem Boden. Beide sind wütend.
 
Als Alavi vor acht Jahren als Familiennachzug in die Schweiz kam, hoffte sie, den Krieg in ihrer Heimat hinter sich lassen zu können. Doch heute sei er für sie präsenter denn je. «Ich finde keine Ruhe.» Damals sei die Situation in Afghanistan besser gewesen. Ab 2014 bis vor wenigen Wochen war Aschraf Ghani Präsident, «als Marionette der USA», sagt Alavi. Geprägt von Korruption, die von den Hilfsgeldern aus dem Westen befeuert wurde. Alavi und Miri demonstrierten in den vergangenen Jahren in der Schweiz gegen ihn, und dagegen, dass weiterhin Hilfsgüter nach Afghanistan geschickt werden. Die Gesellschaft habe kaum davon profitiert, sagt Miri. Das Geld sei dort verschwunden, wo es der Präsident haben wollte. «Und nun hat er Afghanistan verkauft und ist selbst verschwunden», sagt Alavi.
 
Gekämpft werde nicht nur zwischen den Taliban und der restlichen Bevölkerung, sondern auch zwischen den Ethnien. Alavi und ihre Familie sind Hazara, eine Ethnie, die in Afghanistan seit jeher Opfer von Diskriminierung und Rassismus ist. Präsident Ghani gehört der einflussreichsten Ethnie an, den Paschtunen. Diese würde Ghani bevorzugen. «Er hat den Weg geebnet für die Taliban», sagt Miri. Zwar seien nicht alle Paschtunen Taliban, aber praktisch alle Taliban seien Paschtunen. Was Ghani investierte, sei folglich auch den Taliban zugutegekommen.
 
Miri flüchtete vor 18 Jahren, als die Taliban eine terroristisch-militärische Kampagne gegen die Islamische Republik Afghanistan starteten. Er floh, weil er sich vor der Aussichtslosigkeit fürchtete, vor der Ideologie der Taliban und der Regierung. «Die Haltung der Taliban ist: Wenn wir sieben Schiiten, also Hazara, töten, kommen wir ins Paradies», sagt Miri. Nach Europa reiste er zu Fuss, auf, in und unter Lastwagen, im Gummiboot. In Afghanistan arbeitete Miri als Maurer, hier in der Schweiz als Mitarbeiter im Speisewagen der SBB.
 
Alavi und Miri wurden einander als Ehepartner vorgeschlagen, von der jeweils anderen Familie. Das sei in ihrer Kultur Tradition, sagt Miri. Sein Bruder lernte Alavi bei der Arbeit kennen, und so führte eines zum anderen. Miri war damals bereits seit einigen Jahren in der Schweiz, Alavi noch in Kabul. Drei Jahre lang hatten die beiden nur via Skype und Telefon Kontakt, bevor sie 2011 in Afghanistan heirateten. Heute besitzt Alavi einen C-Ausweis, Miri hatte diese Woche sein letztes Gespräch für die Einbürgerung. «Endlich», sagt Miri, und gibt sich alle Mühe, nicht in Tränen auszubrechen.
 
Der Blick aufs Handy
Zu ihren Schwestern und ihren Eltern hat Alavi täglich Kontakt, via Whatsapp und Skype. Mutter und Vater leben in der Stadt Masar-e Scharif im Norden des Landes. Prepaid-Guthaben sei zurzeit jedoch rar, es gebe nur wenige Möglichkeiten, es aufzuladen. «Niemand kann arbeiten, keiner hat Geld, die Menschen haben nichts», sagt Alavi. Geld könne sie ihren Verwandten auch nicht schicken, das komme nicht an, genauso wenig wie Pakete.
 
Die Taliban würden sich in Afghanistan immer mehr unters Volk mischen, neue Menschen rekrutieren, und diejenigen bestrafen, die sich gegen sie auflehnen. Bekannte und Freunde von Alavi und Miri hätten bereits Angebote erhalten, sich den Taliban anzuschliessen. «Bald weiss man nicht mehr, wer Freund ist und wer Taliban», sagt Miri. «Wer sich gegen die Ideologie der Taliban richtet, muss sich entweder verstecken oder verschwinden», sagt Alavi.
 
Die Taliban seien keine Menschen, sie seien Tiere. Das Bild, das man in Europa von den heutigen Taliban habe, sei völlig verharmlosend. Terroranschläge habe es zwar in der Tat weniger gegeben, aber nur, weil sie aus der Sicht der Taliban nicht mehr nötig gewesen seien, so Miri. Druck auf die Regierung müssten sie nicht mehr ausüben. Die Regierung ist weg, die Taliban sind an der Macht. Das sei für die Taliban aber kein Grund, nicht mehr zu morden oder zu vergewaltigen.
 
In Afghanistan arbeitete Alavi als Fotojournalistin, sie hatte dort eine feste Stelle, «als einzige Frau im Team». Dabei seien Frauen in solchen Positionen nicht aussergewöhnlich. Dies hat sie auf ihren Bildern mehrmals festgehalten: Pilotinnen, Ärztinnen, Politikerinnen, weibliche Generäle. Afghanistan verbinde man in den westlichen Ländern immer nur mit Krieg. «Mit den Bildern wollte ich der Welt zeigen, dass viel erreicht wurde. Nun wird all das wieder zerstört», sagt sie.
 
Alavi versucht mit allen Mitteln, ihre Schwestern als Familiennachzug in die Schweiz zu holen. Doch es gibt wenig Hoffnung. Zumindest solange keine Sonderregelung für Flüchtlinge aus Afghanistan gelten. Nachkommen dürfen nur die engsten Familienangehörigen: Ehepartner, Personen aus eingetragenen Partnerschaften oder Kinder bis zum 18. Lebensjahr. Mit ihren Eltern habe sie noch gar nicht über Fluchtmöglichkeiten gesprochen. «Ich wollte ihnen keine Hoffnung machen», sagt sie. Alavi und Miri bleibt indes nicht viel anderes übrig, als zu hoffen.
Stichwörter: Afghanistan, Nidau, Krieg, Taliban

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