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Amazonas-Riff

«Wir umarmen uns, lachen und klatschen»

Der Tauchroboter kommt endlich zum Einsatz; er liefert gestochen scharfe Bilder aus der Tiefe. Jérôme Tschudi empfindet Dankbarkeit, Mitglied der Crew zu sein. Und er freut sich mit seinen Kollegen ausgelassen über die «unglaublich schönen Fotos».

Der Seeländer Arzt Jérôme Tschudi (in der Mitte vorn mit dunkler Brille) posiert mit Aktivistinnen und Aktivisten auf der Esperanza. Bild: zvg
  • Dossier

Tagebuch: Jérôme Tschudi

Donnerstag, 19. April
«Endlich ist die See ruhig: kaum Wellen und nur geringe Strömung. Endlich können wir den Tauchroboter wassern und die Techniker können den beweglichen Teil ausfahren und die Gegend absuchen. Die so gewonnenen Bilder sind unglaublich schön und gestochen scharf. Auf 100 Meter Tiefe sind im schwachen Tageslicht nur Blautöne zu erkennen, bei Kunstlicht aber erstrahlt das Riff in allen Farben, wie im Schaufenster einer Bijouterie mit kunstvoll angestrahlten Rubinen, Smaragden oder Amethysten. Wir erkennen grosse Schwämme von etwa einem halben Meter Durchmesser mit einer Öffnung, in der kleine Fische Schutz suchen. Sie sind eierschalenweiss oder gelb, ähneln einer Meringue oder weisen eine kleinhöckerige Oberfläche auf. Daneben wiegen sich Korallen sanft in der Strömung, sie erinnern in ihrer Form an Galapagos-Eidechsen und Elchgeweihe. Bunte Fische suchen darin Schutz, sie sind durch den ungewohnten Besuch sichtlich verunsichert.

Die Zuschauer sind elektrisiert; dann löst sich die Spannung langsam und macht der grossen Erleichterung Platz, dass die Bemühungen endlich Früchte tragen. Wir umarmen uns, lachen und klatschen. Ich empfinde grosse Dankbarkeit, so etwas sehen zu dürfen. Schon für diese Bilder alleine hat sich die Reise gelohnt.


Freitag: Glück gehabt
Ich bin neu der Wache von 20 bis 24 Uhr zugeteilt. Mein Offizier heisst Nazareth, ein gewissenhafter und ruhiger 35-jähriger Italiener. Er arbeitete früher als «Macchinista di Teatro», half Bühnen und Zirkuszelte aufstellen. Für den Militärdienst bewarb er sich bei der Marine. Dort sah man nur «Macchinista» und teilte ihn einem Zerstörer zu, wo er im Maschinenraum Dienst tat. Als man ihm befahl, ölhaltiges Bilgenwasser über Bord zu pumpen, verweigerte er den Befehl. Deshalb erhielt er den Spitznamen «Greenpeace» und wurde zum Tellerwäscher umgeteilt. Vorher hatte er noch nie von Greenpeace gehört. Aber weil er sich mit den Zielen der Organisation identifiziert, fährt er nun auf ihren Schiffen zur See. Während der Wache arbeitet er voll konzentriert zwei Stunden an Inventarlisten und hakt jeden Posten genauestens ab. Ich bewundere ihn für seine eiserne Disziplin in einer sehr trockenen Materie.

Frühmorgens lassen wir in strömendem Regen das Sonar herunter. Obwohl das Haltetau noch um den Poller gewickelt ist, rutscht es plötzlich durch: Céline wird mitgerissen, fliegt über das Deck auf die Klüse zu, wo wir das Tau zu dritt bändigen können. Glücklicherweise hat sie sich nicht verletzt. Wir lernen gleich beide, solche Taue nur langsam unter dauerndem Zug zu lösen.

Der Tauchroboter wird heute mehrmals vor der Amazonasmündung eingesetzt, wo die Sedimente abgelagert werden. In diesem Bereich ragt das Riff als kleine Inseln aus den Sedimenten heraus.


Herausragende Bedeutung: Bei jedem Tauchgang am Amazonas-Riff wird eine neue Tierart entdeckt. Bild: zvg


Samstag: Freude am Zuhören
Bent, der Chef-Ingenieur, nimmt sich Zeit, mir den Motorenkontrollraum und den Motorenraum zu erklären. Die Esperanza wiegt über 2000 Tonnen. Die zwei Hauptmotoren haben je 3000 PS Leistung und sind etwa fünfmal so gross wie der Elektroantrieb, der aber immerhin 2400 PS leistet. Für Hafenmanöver sind sie nötig, weil dann der Elektroantrieb die Bug- und Heckstrahler antreibt und nicht gleichzeitig auch den Schiffsantrieb übernehmen kann. Ohne Hauptmotoren wäre die Esperanza auf Hafenschlepper angewiesen. Wie immer bereitet es mir besondere Freude, jemandem zuzuhören, der begeistert von seinem Fach spricht, auch wenn ich viele Erläuterungen nicht verstehe.

Bent hat seinen Beruf von der Pike auf erlernt, vom Maschinenschlosser bis zum Ingenieur. Ein Freund fragte ihn an, ihn während dessen Ferien auf der Esperanza zu vertreten. Das gefiel ihm so gut, dass er seit 18 Jahren der Esperanza und Greenpeace treu geblieben ist.
Heute sind die Bedingungen für den Tauchroboter wieder schlecht. Wir sind wieder am Ort, wo wir die Fischreusen verloren hatten, in etwas seichteren Gewässern. Die letzte noch vorhandene Reuse wird gesetzt, mit einem guten Anker versehen und markiert. Wir werden die Boje in der Nacht optisch verfolgen, um sie nicht aus den Augen zu verlieren und sie bei Tagesanbruch bergen. Die Wache verspricht, anstrengend zu werden.


Sonntag: Gute Stimmung
Gestern Abend wurde die Crew von den Kampagnenleuten informiert. Allein die Tatsache, dass wir Riffanteile in einem geplanten Bohrfeld fanden, ist schon ein Erfolg, weil die Umweltverträglichkeitsprüfung von Total von einer Distanz von mindestens acht Kilometern zum Riff spricht. Der Staatsanwalt des Bundesstaates Amapa hatte bereits nach der Expedition 2016 von den Behörden verlangt, die Bohrbewilligung vorerst auszusetzen. Aufgrund der neuen Erkenntnisse spricht er sich nun für die Aufhebung dieser Bewilligung aus.

Auch die Tatsache, dass wir den Tauchroboter wegen der starken Strömung nicht einsetzen konnten, ist ein Warnhinweis auf riskante Bohrungen. Die Gegend gehört weltweit zu jenen mit den stärksten ganzjährigen Meeresströmungen. Das ist mit ein Grund, dass die Ölvorkommen bisher nie nachgewiesen oder gar ausgebeutet wurden. Erste Versuche wurden 1970 unternommen. Der letzte von Petrobras datiert von 2011: Die Ölplattform wurde aus ihrer Verankerung gerissen.

Ronaldo zeigt uns Videosequenzen vom Riff und erläutert sie. Bei jedem Tauchgang in über 80 Meter Tiefe sei jeweils mindestens eine neue Art entdeckt worden. Während weltweit die Riffe in seichten Gewässern durch den Klimawandel akut bedroht sind und zu verschwinden drohen, sind tief reichende Riffe wie das Amazonas Riff von herausragender Bedeutung.

An Bord herrscht eine gehobene Stimmung, als ich meine Wache antrete. Plötzlich ertönt eine weibliche Stimme aus dem Bordfunk: «Brücke von Schlafzimmer, bitte antworten». Nazareth antwortet: «Mmh, von Brücke, was ist?» «I just call to say I love you», ertönt ein Lied als Antwort. Nazareth antwortet stoisch: «Verstanden.»

Wir sind die ganze Nacht in der Nähe der Markierungsboje der Fischreuse geblieben, was dank ihrer Beleuchtung relativ einfach war. Noch in der Nacht beginnt die Bergung. Die See geht wieder einmal sehr hoch, die Wellen klatschen gegen den Bug und es regnet zeitweise. Das Manöver ist schwierig: Das erste Seil hält der Belastung nicht stand und zerreisst mit einem Knall. Das haben wir kommen sehen, sodass sich alle rechtzeitig vor dem Peitschenschlag in Sicherheit bringen. Nach gut drei Stunden ist die Reuse an Deck, leider leer.


Montag: Keine Illusionen
Die Brasilianerinnen geben nicht auf. Sie kommen auf die Brücke und bringen Nazareth Kuchen mit. Das entlockt ihm ein Lächeln und ein paar nette Worte, dann fragt er sie, ob sie für mich auch Kuchen gebracht hätten. Haben sie nicht. Ich könne mir ja auf meinen Runden welchen besorgen, meinen sie. Nicht, dass ich mir irgendwelche Illusionen mache!

Was für eine Gegend: Wir wachen auf mit Wind und Wellen, hoher Dünung. Und es regnet horizontal, auf dem Achterdeck ist alles nass, selbst in seiner Mitte, wo wir den Morgenrapport haben und die Aufgaben verteilen. Heute handelt es sich aber nicht um ein Gewitter, die Wetterfront ist deutlich breiter und das Wetter bleibt uns über Stunden erhalten. Bei diesen Verhältnissen bleibt uns nur das Schleppen des Sonars, das wir wegen seiner torpedoähnlichen Form nur «Fisch» nennen. Fisch rein, warten, Fisch raus, mittlerweile können wir das im Schlaf.

Fabio und Juan wissen, wann sie die Esperanza verlassen: Der erste hofft auf einen Auftrag für einen Dokumentarfilm über die Schlafkrankheit im Kongo, der andere auf eine Bestätigung für einen Einsatz mit Ärzte ohne Grenzen in Bangladesch. Ihre Freundinnen werden wohl bald wieder alleine sein.


Dienstag: Verhaltenskodex
Dies ist unser letzter Forschungstag im nördlichen und zentralen brasilianischen Amazonas-Riff. Die Sonne strahlt, aber die Dünung ist sehr hoch und einige sind wieder seekrank und verlangen Medikamente. Kein Tag für den Tauchroboter, den wir bisher nur ein einziges Mal voll einsetzen konnten, dem wir aber die wunderschönen Bilder der Expedition verdanken. Stattdessen stehen Sonar, Boden- und Wasserprobengerät pausenlos im Einsatz.

Die Brasilianerin Juliana erzählt mir vom Kampf der indigenen Völker des Amazonas-Beckens für ihr Land und gegen Eindringlinge, die illegal holzen und Gold schürfen. Dank Greenpeace konnten sie ihre Landrechte geltend machen und können nun die Hilfe der Polizei anfordern, welche die Eindringlinge verhaftet. Die indigenen Völker sind der beste Garant für den Erhalt des Tropenwaldes.

Auf Greenpeace-Schiffen gibt es einen Verhaltenskodex. Dieser beginnt mit dem Satz, dass sexuelle Belästigung verboten und inakzeptabel ist. Weitere Themen: Gewaltverzicht, gegenseitiger Respekt, Nicht-Diskriminierung jeder Art, antisoziales Verhalten wie exzessives Trinken oder Lärm, Verhalten in der Öffentlichkeit, Drogen oder Waffen. Die Ahndung von Verstössen wird darin geregelt, das geht bis hin zur Entlassung. Wenn man bedenkt, wie viele Menschen aus verschiedene Ländern und mit unterschiedlichen Mentalitäten auf dem engen Raum der Esperanza vertreten sind, klappt das eigentlich hervorragend.


Mittwoch, 25. April
Auf meiner Wache erfahre ich, dass jene, die über drei Jahre lang regelmässig auf Greenpeace-Schiffen Einsätze fahren, fest angestellt und dann auch immer wieder aufgeboten werden. Auf der Esperanza sind rund 70 Prozent der Crew fest angestellt, was möglicherweise die familiäre Atmosphäre verstärkt.

Nazareth erzählt Müsterchen von der letzten Fahrt mit der Arctic Sunrise. In die Antarktis gerät man, wenn man die Breitengrade der «brüllenden Vierziger» und die «schreienden Fünfziger» durchfährt, wo es häufig zu schweren Stürmen kommt. Einmal sei das Speiseöl in der Küche ausgelaufen und vermischt mit Mehl über den Küchenboden geschwappt. Die klebrige und glitschige Masse im Sturm aufzunehmen, habe jeder Beschreibung gespottet.
Ronaldo Franchini-Filhos Publikation «Perspectives on the Great Amazon Reef» ist am 23. April in «Frontiers in Marine Science» erschienen. Im Artikel werden auch die Folgen der Ölpest im Golf von Mexiko erwähnt, die nach der Explosion der Ölplattform Deepwater Horizon auftraten. Die Riffe wurden schwer beschädigt. Die Publikation wurde bereits über 400_000 Mal angeklickt, was für eine wissenschaftliche Veröffentlichung eines Meeresbiologen ungewöhnlich viel ist.
Wir fahren auf direktem Weg nach Santana, dem Hafen von Macapa.» Bearbeitung: pst

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