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Kristian Schneider

«Wir werden einem gewissen Massenansturm standhalten können»

Das Warten auf einen Tsunami: Am Spitalzentrum Biel ist es jetzt, wo viele geplante Eingriffe ausgesetzt und die Besucher ausgeschlossen wurden, gespenstisch ruhig. Direktor Kristian Schneider bereitet sich mit seinem Team aber darauf vor, dass die Coronavirus-Welle in den nächsten Tagen anrollt. Er orientiert sich dabei an der Lombardei.

Spitaldirketor Kristian Schneider sagt: «Ich glaube, dass das Personal verunsichert ist.» Bild: Matthias Käser
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Interview: Lino Schaeren

Kristian Schneider, wie viele Betten sind im Spitalzentrum Biel (SZB) derzeit mit Covid-19-Patientinnen und -Patienten belegt?

Kristian Schneider: Wir haben derzeit zehnt Stationäre Covud-19-Patienten (Stand Freitagmorgen, die Red.). Davon ein Patient an der künstlichen Beatmung. In den letzten sieben Tagen hatten wir immer zwischen sieben und zehn stationäre Fälle. Vier Patienten konnten bereits geheilt nach Hause entlassen werden.

Wie viele Spitalbetten stehen in Biel auf der Intensivstation zur Verfügung? Wie viele Covid-19-Fälle können Sie aufnehmen?

Wir haben neun Intensivbetten, sieben davon mit Beatmungsgerät. Das ist der Standard. In dieser besonderen Lage können wir aber im Aufwachraum eine zweite Beatmungseinheit einrichten. Dort haben wir zehn Überwachungsplätze und Beatmungsmaschinen. Wir legen uns derzeit aber nicht fest, ob wir im Aufwachraum wirklich zehn Patienten beatmen würden oder nur vier bis sechs. Denn die wichtigere Ressource ist die menschliche: Solche Fälle müssen während 24 Stunden von Fachpersonen überwacht werden können. Auf unserer Stroke-Unit gibt es bei Bedarf weitere vier Überwachungsplätze. Man darf aber nie vergessen: Wir haben auch noch andere Patientinnen und Patienten, die unsere Hilfe brauchen: Schlaganfälle und Herzinfarkte etwa hören nicht auf, nur, weil jetzt das neue Coronavirus da ist. Wir haben derzeit eine Covid-Abteilung, die 19 Pflegebetten umfasst.

Bereiten Sie sich darauf vor, weitere Abteilungen zu eröffnen?

Würden die Plätze nicht ausreichen, haben wir schon ein Kaskaden-Konzept erarbeitet, welche Abteilung zur zweiten und welche zur dritten Covid-19-Einheit umfunktioniert würde. Die aktuelle Situation ist auch deshalb speziell, weil man das Gefühl hat, dass in der internen Organisation kein Stein mehr auf dem anderen bleibt. Wir haben zum Beispiel die Tagesklinik geschlossen, weil wir keine medizinisch nicht zwingenden Eingriffe mehr machen. So hat es der Bundesrat verordnet. Das Personal muss neu eingeteilt werden, gleichzeitig müssen wir dringende Operationen weiterhin durchführen können. Wir sind kein Covid-Spital, wir bleiben ein Zentrumsspital, das sich auf Covid vorbereitet. Das ist eine Herausforderung.

Viele Fachpersonen bezeichnen die jetzige Situation als die Ruhe vor dem Sturm. Der Berner Gesundheitsdirektor Pierre Alain Schnegg erwartet den Sturm innerhalb einer Woche. Was glauben Sie, wo führen die nächsten Tage hin?

Regierungsrat Schnegg sagt drei bis sieben Tage, andere sehen den Sturm Mitte April kommen, wieder andere Ende April. Ich glaube, dass wir in zwei Wochen an einem ganz anderen Punkt stehen werden. Ob das dann der Peak sein wird, weiss ich nicht.

Wie bereitet sich das Spital darauf vor?

Es ist ein bisschen wie ein Tsunami. Die Vorbereitungen, unter anderem das Herunterfahren des Angebots auf das Nötigste, führen dazu, dass wir heute faktisch weniger zu tun haben. Bevor ein Tsunami auf die Küste trifft, zieht sich das Wasser ja oft zurück. Das ist bei uns nicht anders: Je mehr wir vorbereitet haben, desto ruhiger wurde es. Es ist ein unheimliches Gefühl, wenn keine Besucher mehr im Haus sind. Unser Sicherheitschef hat mir am Sonntag geschrieben, dass es richtig gespenstisch sei. Aber es ist nicht so, dass man jetzt einfach mal durchatmen kann. Die Ruhe verunsichert.

Weil Sie wissen, dass bald die Welle kommen könnte.

Genau. Das ist für unser Personal eine enorme Herausforderung. Hinzu kommt die ganze Materialdiskussion: Gibt es nun in der Schweiz genug Masken, kommen die Lieferungen an der Grenze wieder frei, gibt es noch etwas auf dem Markt und wenn ja zu welchem Preis. Wir sind mittlerweile mit Themen beschäftigt, die sonst höchstens am Rande interessieren: Masken sind wichtig, ja, aber sie sind im Normalfall einfach da. Plötzlich wird die Beschaffung dieser Masken aber essenziell.

Wir kommen auf das Material zurück. Bleiben wir aber noch beim Tsunami, den Sie erwarten. Auf was stellen Sie sich denn konkret ein?

Wir haben ja die Chance, dass wir nach Wuhan schauen können und nach Italien, was dort passiert ist. Im Krisenstab haben wir uns dann entschieden, dass das Bild, auf das wir uns vorbereiten, die Lombardei ist. Da wir nicht wissen, was kommt, müssen wir uns nicht auf das Halb-Schlimme, sondern das Schlimmste vorbereiten. Wenn ich vom Schlimmsten spreche, meine ich die Menge der Patienten. Wir wollen aber nicht, dass es sich bei uns so entwickelt wie in der Lombardei. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie es letztlich sein wird. Aber wir haben ein besseres System als Italien. Wir sind besser ausgestattet, haben mehr Intensivbetten und hatten jetzt Zeit, uns vorzubereiten. Selbst das Militär konnte bereits mobil gemacht werden. Wir werden deshalb einem gewissen Massenansturm gut standhalten können. Wir gehen in der Vorbereitung aber auch weiter, denn ein Bild der Lombardei ist ja auch, dass dort ethische Entscheide getroffen werden müssen, wie wir sie uns nicht gewohnt sind. Wir haben relativ früh angefangen, uns zu fragen, was wir tun würden, falls wir entscheiden müssten, wer an ein Beatmungsgerät angeschlossen wird und wer nicht. Wir haben versucht, eine Leitlinie zu erarbeiten, die unsere Experten jetzt lesen und reflektieren. Wir wollen diese Diskussion nicht erst führen, wenn die Situation bereits eingetroffen ist. Es gilt, unseren Zeitvorsprung zu nutzen. Wenn eine Katastrophe unmittelbar über Sie hereinbricht, sind Sie froh, wenn Sie irgendwie 30 Prozent richtig machen. Diesen Anteil können wir jetzt wahrscheinlich mindestens verdoppeln. In dieser ganzen Vorbereitungszeit kommen überhaupt oft überraschend Themen auf, die man so nicht erwartet.

Zum Beispiel?

Ein ganz schwieriges Thema: Wir müssen davon ausgehen, dass zwischen 10 und 15 Prozent unseres Personals ein posttraumatisches Stresssyndrom entwickeln könnte. Wir diskutieren jetzt mit Psychologen und Sozialberatungsexperten, wie wir das auffangen können. Ein anderes Beispiel: Weil wir das Programm der geplanten Eingriffe herunterfahren, können wir Reservelisten erstellen, damit das Personal, das jetzt schon an der Front ist, ersetzt werden kann, wenn es überlastet wird. Die Personalressourcen werden entscheidend dafür sein, was wir anbieten können. Ein Beatmungsgerät bringt Ihnen nichts, wenn Sie kein Fachpersonal haben.

Sie gehen also davon aus, zuerst an personelle Grenzen zu stossen, nicht an materielle?

In unseren Bildern sind die personellen Grenzen die wirklichen Grenzen. Entscheidend für die Betreuung unserer Patientinnen und Patienten wird sein, wie viele unserer Fachkräfte krank werden, wie viele aussteigen, weil sie nicht mehr können. Auch unser Personal macht sich natürlich Sorgen, zum einen auf privater Ebene. Aber auch die ganze Materialdiskussion in der Schweiz hat unser Personal nicht wirklich in seinem Sicherheitsgefühl gefördert. Verstehen Sie mich nicht falsch: Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben immer das nötige Material. Aber wenn ein Pflegender schon ein schlechtes Gewissen haben muss, weil er eine Maske benutzt, wo führt das hin?

Wird die Materialdebatte in Bezug auf die Spitäler Ihrer Ansicht nach denn übertrieben geführt? Das Spitalzentrum Biel verfügt über einen Vorrat an Masken für fünf bis sieben Wochen, Sie selbst haben diese Woche bei SRF Lieferanten massiv kritisiert, die das knappe Gut zu überrissenen Preisen anbieten. Diese würden mit den Leben des Gesundheitspersonals und der Patienten spielen, haben Sie gesagt.

Fragen Sie doch einmal in anderen Ländern, etwa in Spanien, ob die sich da überhaupt noch schützen können. Wir haben noch Material. Und wir sind im ständigen Austausch mit dem Bund. Ziel ist, dass alle Spitäler Materialien für acht Wochen vorrätig haben. Bei einem Anstieg der Patienten schrumpft der Vorrat natürlich zusammen, dann sind es plötzlich noch vier Wochen. Aber dann kann ich dem Bund zwei Wochen Zeit geben, nachzuliefern. Es ist auch völlig deplatziert, wenn jetzt in den Medien das Bild entsteht, dass man die Masken für die Verdachtsfälle sparen müsste. Auch wir versuchen, Social Distancing wo immer möglich zu leben. Aber das bedeutet ja nicht primär, dass man Abstand halten soll zu einem positiv getesteten Menschen oder einem Verdachtsfall. Sondern zu jedem. In der Pflege ist das aber gar nicht möglich. Deshalb müssen wir unseren Pflegenden die Möglichkeit geben, sich zu schützen. Jeder muss eine Maske tragen können. Und das längerfristig während zwei, drei Monaten; das haben wir in Wuhan gesehen. Was mich erschreckt: Nachdem ich diese Woche in der «Rundschau» die Lieferanten von Masken kritisiert habe, kommen nun etliche Firmen, die mich über mein Linkedin-Profil kontaktieren und mir Masken anbieten. Das zeigt: Es gibt noch ganz viele Masken bei irgendwelchen dubiosen Händlern. Da kommt mir gleich Emmanuel Macron in den Sinn, der die Masken in Frankreich schlicht konfisziert und dann an jene verteilt, die sie wirklich brauchen. Fakt ist: Wir wissen, dass es eng ist, aber wir haben kein Materialproblem.

Kehren wir also zurück zum Personal. Das Spitalzentrum beschäftigt weit über 1000 Menschen. Wie gehen Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit der extremen Situation um?

Unser Personal ist extrem engagiert und macht alles mit. Wir sind keine militärische Organisation, aber wenn wir, wie jetzt, vieles ändern müssen, wird das derzeit voll mitgetragen.

Und wie geht es dem Personal dabei?

Ich spreche mit meinen Mitarbeitenden, aber wie es den Menschen im tiefsten Innern wirklich geht, kann ich nur vermuten. Ich glaube tatsächlich, dass das Personal verunsichert ist. Die Grundstimmung, dass wir das schaffen, ist zwar da. Aber es gibt eben auch Ängste und Sorgen. Das Problem ist ja, dass man zuerst relativ wenig über das neue Coronavirus wusste. Man hat deshalb zu Beginn noch Aerosolisolation gemacht, weil man davon ausging, dass das Virus viel länger in der Luft bleibt als bei einer Tröpfcheninfektion. Heute weiss man, dass die Ansteckung über Tröpfchen erfolgt. Mit dem stetig wachsenden Wissen über das Virus und sein Verhalten mussten wir auch unsere Weisungen an das Personal immer wieder anpassen. Das fördert nicht unbedingt die Glaubwürdigkeit des Systems. Veränderungen verunsichern, das weiss jeder Manager. Wir versuchen deshalb, transparent zu sein, und erklären unseren Mitarbeitenden, wieso wir wann zu welchem Schluss gekommen sind. Wir haben derzeit keine Arbeitsüberlastung aufgrund zu vieler Covid-19-Patienten. Sondern eine hohe Belastung wegen Veränderungen. Unsere Leute dabei bei der Stange zu halten ist keine Selbstverständlichkeit. Auch deshalb ziehen wir bereits jetzt psychologische Unterstützung bei, denn nicht alle 1400 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden alles, was jetzt passiert und was noch kommen mag, aushalten. Das trifft mich auch persönlich, denn wir fordern von den Menschen etwas, das nicht normal und eigentlich nicht möglich ist: dass sie fast wie Roboter agieren. Auch ich bin nur ein Mensch und muss mich immer wieder ermahnen, ruhig zu bleiben. Das Organisieren ist letztlich nicht das Problem. Aber das Mensch-Sein wird herausgefordert.

Wie viele Mitarbeiter haben Sie heimschicken müssen, weil sie einer Risikogruppe angehören oder zuhause eine Bezugsperson haben, die zu einer Risikogruppe gehört?

Das weiss ich jetzt nicht so genau. Aber es sind nicht viele. Wir haben jedenfalls wie andere Firmen auch jene Personen angewiesen, zuhause zu arbeiten, die nicht unbedingt hier vor Ort sein müssen. Und natürlich haben wir die Mitarbeitenden, die zu einer Risikogruppe gehören, nach Hause geschickt. Dabei entstehen auch schöne Geschichten: Wir haben eine Mitarbeiterin heimgeschickt, die in zwei Monaten pensioniert wird. Sie arbeitet in der IT und ist normalerweise im ganzen Spital unterwegs. Weil wir gleichzeitig viele Personen ins Homeoffice versetzen mussten, macht diese Mitarbeiterin nun von zuhause aus über eine Hotline den IT-Support für sie. Damit ist sie locker acht Stunden pro Tag beschäftigt. Sie erledigt essenzielle Arbeit, damit wir hier überhaupt noch funktionieren können, und sitzt nicht zuhause mit dem Gefühl, alle im Stich gelassen zu haben, nur, weil sie zu einer Risikogruppe gehört.

Sie haben mehrfach angesprochen, dass die Situation auch psychologisch anspruchsvoll ist. Hilft es dem Spitalpersonal, wenn sich nun auch in der Schweiz Menschen in Isolation an die Fenster stellen und für die Menschen, die im Gesundheitswesen arbeiten, applaudieren?

Das ist Balsam für die Seele. Das ändert zwar nichts daran, was die Menschen im Spital erleben. Aber es hilft, weil man merkt, dass es wahrgenommen wird. Es ist eine Form der Anerkennung. 2020 ist ja, unabhängig vom Coronavirus, das Internationale Jahr der Pflege. Es wird zwar betont, wie wichtig die Pflegeberufe seien, sobald man aber politisch diskutieren will, wie diese Arbeit finanziell honoriert werden soll, ist relativ schnell fertig. Die Abhängigkeit von einem gut funktionierenden Gesundheitssystem wird nun allen vor Augen geführt. Die politischen Diskussionen darüber, welche Spitäler man doch aus wirtschaftlicher Sicht schliessen sollte, werden wir jetzt noch einmal führen, unter dem Eindruck einer Situation, in der wir ein grosses Gesundheitssystem gebraucht haben. Wir werden auch über unsere Ausbildungspolitik sprechen müssen: darüber, wie wir unsere Leute künftig pflegen wollen. Wir müssen hier zugunsten der Pflege valorisieren, damit nicht alle Ingenieure werden, in die IT gehen oder ins Bankwesen. Wir brauchen Leute, die pflegen in einem 24-Stunden-Betrieb. Ich finde: Die kleine, aber feine Anerkennung der applaudierenden Leute an den Fenstern kommt nun wirklich im richtigen Moment, denn sie fehlt den Rest des Jahres. Die Geste ist richtig schön.

Bei aller Solidarität: Gleichzeitig sieht man entgegen der Verordnung des Bundesrates nach wie vor viele Menschen in den Strassen, welche die Devise «Abstand halten» nicht umsetzen. Gerade auch ältere Menschen, die doch zur Risikogruppe gehören. Was sollte jeder einzelne für sich aus der jetzigen Situation für Schlüsse ziehen?

Pflegende haben in den letzten Tagen Bilder in den So zialen Medien gepostet, auf denen sie ein Plakat in die Kamera halten: «Wir bleiben für euch da, bleibt ihr bitte für uns daheim.» Die Leute sollen sich nun wirklich mal daran halten, was der Bundesrat vorgegeben hat: zuhause bleiben, so wenige Kontakte mit anderen wie möglich. Man kann das nicht genug oft wiederholen. Zu glauben, man sei selbst nicht betroffen, ist ein Fehlglaube. Es ist die Verantwortung jedes einzelnen, sich an die Vorgaben zu halten, als Teil der Gesellschaft für die Gesellschaft. Ich bin auch leicht überrascht, wenn nicht sogar schockiert darüber, wen ich noch im Bus und auf der Strasse in Gruppen sehe. Ich weiss, wie schwierig es ist, Kontakte zu minimieren. Auch wir im Spital hatten eine Lernphase. Wenn wir in der Mensa die Stühle nicht weggenommen hätten, hätte sich auch das Spitalpersonal nicht von Anfang an an die Abstandsregeln gehalten. Inzwischen funktioniert das aber – teils schon fast übertrieben gut. Und das erwarte ich auch von der Bevölkerung: Bitte, bitte haltet euch an diese soziale Distanz, die wir uns absolut nicht gewöhnt sind. Der Bundesrat hat eine gute Politik gemacht. Anders als in einem autoritären Staat, können Sie bei uns den sogenannten «Durchschnittsschweizer» nicht einfach von heute auf morgen einsperren. Die Regierung hat uns langsam hierhin geführt, zuerst mit einem gelben, dann mit einem roten Plakat bis hin zum nationalen Notstand. Doch jetzt war die Lernphase lang genug. Wenn sich die Bevölkerung nun immer noch nicht an die Regeln hält, muss man ihr befehlen, zuhause zu bleiben.

Der Bundesrat hat gestern die Vorgaben noch einmal verschärft, Versammlungen von fünf Personen verboten. Wird das reichen – oder braucht es doch noch eine Ausgangssperre?

Ich bin mir nicht sicher, ob wir um eine Ausgangssperre herumkommen. Es gibt zwei Gruppen, die sich nicht daran halten, ihre Kontakte zu minimieren. Zum einen die Verletzlichen, die sich nicht verletzlich fühlen. Zum anderen die ganz Jungen, die jetzt Corona-Partys feiern. Die Theorie der gewillten Durchseuchung funktioniert nicht. Die bringt meine pflegenden Ärzte an den Anschlag. Und es geht noch einen Schritt weiter: Wenn sich die Gesellschaft jetzt nicht an die Vorgaben hält, dann spielt sie mit Menschenleben. Und zwar nicht nur mit den Leben der alten, verletzlichen Bevölkerungsgruppe. Wir wissen, dass es auch junge Leute betreffend wird, wenn auch deutlich weniger. All die Infizierten landen irgendwann im Spital. Und ich will nicht, dass diese Leute mit dem Leben meiner Mitarbeitenden spielen. Wir wissen, was in den Spitälern in Wuhan und in der Lombardei passiert – inklusive dem Personal. Dieses setzt sich auch bei uns ein für die Gesellschaft und deshalb erwarte ich jetzt, dass die Gesellschaft die Sache ernst nimmt. Dass die Leute an ihren Fenstern klatschen, tut meinen Leuten wirklich gut. Aber sie sollen nicht klatschen, wenn sie sich danach nicht an die Regeln halten. Dann ist es nur Show.

In Zeiten, in denen die sozialen Kontakte minimiert werden sollen, werden die Sozialen Medien für viele wichtiger. Gerade hier tummeln sich aber auch viele fragwürdige Theorien. So spielt etwa der deutsche Arzt Wolfgang Wodarg, der als Fachperson wahrgenommen wird, aufmerksamkeitswirksam die Gefährlichkeit des Virus herunter.

Das gab es immer in unserer Gesellschaft, auch schon vor den Sozialen Medien. Es gab auch Historiker, die gesagt haben, es habe keine Konzentrationslager gegeben. Es gibt immer Personen, die das komplette Gegenteil erzählen, unabhängig von der Beweislast. Es geht letztlich um Vernunft: die Vernunft, wie ich mit sozialen Medien umgehe, die Vernunft, wie ich mit Informationen grundsätzlich umgehe, die Vernunft, sich jetzt an die Regeln zu halten. Es geht um gesunden Menschenverstand, mit Intelligenz hat das nichts zu tun. Die Leute sind beeinflusst. Und es wird immer solche geben, die sich so beeinflussen lassen, dass sie irgendwelchen Blödsinn erzählen. Die wirklichen Verschwörungstheorien setzen sich zum Glück aber gar nicht erst durch. Da haben wir immer noch die seriösen Medien, die uns etwas anderes erzählen.

Zurück zu den Spitälern. Wie kann es sein, dass in einem so reichen Land wie der Schweiz das Gesundheitssystem so rasch an seine Grenzen kommt, wie wir es derzeit bereits im Tessin beobachten können?

Die Frage ist doch, was «schnell» bedeutet. Jedes Spital, das eine Notfallstation organisiert, tut dies nicht für den Massenandrang. Sondern für einen Standardpatientenfluss mit einem leichten Plus – das sind die sogenannten Vorhalteleistungen. Auch wenn gerade kein Patient vor Ort ist, es ist immer dieselbe Anzahl an Personen vor Ort. Zusätzlich wird organisiert, was man, wenn nötig, an Reserven aufbieten könnte. Auf das gesamte Spital bezogen, funktioniert das nicht anders. Wir bereiten uns personell vor, etwa auf die saisonale Grippe. Und wir zeigen jetzt, dass wir in der Lage sind, auf aussergewöhnliche Situationen angemessen zu reagieren. Bis das Gegenteil bewiesen ist, sage ich, dass wir recht gut organisiert sind.

Würde es denn nicht Sinn machen, sich mehr Marge zu geben, also die Grenzen auszuweiten?

Es wäre nicht sinnvoll, einfach permanent mehr Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Man muss in einer Notsituation zusätzliche Mittel aufbieten können. Aber das sind Notfallpläne, die es in spezifischen Situationen zu aktivieren gilt. Unglücklich fand ich, dass einzelne Kantone vor eine Woche vorgeprescht sind und etwa kantonsweit den Notstand ausgerufen haben, bevor der Bund einheitliche Regeln beschlossen hat. Auch das führt zu Unsicherheiten. In einer solchen Situation braucht es eine gemeinsame Strategie. Aber die Schweiz ist nun mal föderalistisch aufgebaut. Ich glaube nicht, dass die Covid-Krise grundsätzlich etwas am Gesundheitssystem ändern wird, aber sie wird sicher zu Diskussionen führen. Etwa darüber, welches Spital welche Leistung anbieten muss.

Und was ist mit den Abhängigkeiten? Über die Masken haben wir diskutiert, doch jetzt werden auch gewisse Medikamente rationiert. Ist die Schweiz in Bezug auf medizinische Güter zu abhängig vom Ausland, insbesondere von China?

Die grosse Frage ist doch, ob die Gesellschaft etwas aus dieser Krise lernen wird. Wir dürfen da keine falschen Schlüsse ziehen. Das Wasser in den Lagunen von Venedig ist jetzt zwar klarer. Die Lagunen sind deshalb aber nicht sauberer, der Dreck wird jetzt einfach nicht mehr hochgespült; er liegt am Grund. In kleinen Gesellschaften werden wir etwas lernen, da bin ich mir sicher. Im Spital zum Beispiel sind wir eine Gesellschaft von Spezialistinnen und Spezialisten. Die Direktion steht zwar zuoberst, sie kann aber nicht in jedem Bereich einschätzen, was richtig und was falsch ist. Das fördert, dass jeder Spezialist für sich schaut. Das ist in jedem Spital so. Die Covid-Krise führt dazu, dass wir viel näher zusammenrücken. Ich glaube, das Durchschnittsspital geht deshalb gestärkt aus dieser Sache heraus. Das ist der positive Nebeneffekt von etwas wirklich Gravierendem. Gestärkt werden wir Spitäler vielleicht auch dadurch, dass wir künftig anders wahrgenommen werden. Wie lange die positiven Effekte anhalten, kann ich Ihnen aber nicht sagen.

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Zur Person

  • Kristian Schneider ist im deutschen Lörrach aufgewachsen, hat eine Pflegeausbildung am Kantonsspital Basel, dem heutigen Universitätsspital, gemacht.
  • Schneider hat sich als Pfleger hochgearbeitet und in Basel zuletzt die Pflege des Departements Innere Medizin geleitet. Sein Ziel: Die Pflegedirektion übernehmen.
  • Doch es kam ganz anders: Schneider wurde völlig überraschend vom jurassischen Kantonsspitals Hôpital du Jura für die Direktion angefragt. Das jurassische Spital hat er fünf Jahre geleitet, ehe er im November 2017 Direktor des Spitalzentrums Biel wurde.
  • Im Beaumont führt er ein Unternehmen mit 1400 Mitarbeitenden. Schneider sagt: «Meine Aufgabe ist es, die Leute bei der Stange zu halten, ich muss vereinfachen, nicht den Chef raushängen lassen.» Er sei der Wächter über die Werte, denn Werte seien das A und O eines Unternehmens.
  • Kristian Schneider pendelt nach Biel zur Arbeit; er lebt mit seinem Partner in Porrentruy. Sein Hobby: Er renoviert in seiner Freizeit gerne Häuser. lsg

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