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Biel 

«Wir wollen sein dürfen, wer wir sind»

Ari Lee hat stets gewusst, dass er keine Frau ist. Jetzt freut sich der Bieler Transmann, dass er dies ohne grossen Aufwand auch amtlich registrieren kann.

Bild: Raphael Moser

Markus Dütschler

Dass er kein typisches Mädchen war, spürte Ari Lee schon früh, etwa beim Puppenspielen. «Mädchenzeugs interessierte mich nicht.» In den frühen 80er-Jahren, als er bei seinen Grosseltern aufwuchs, bezeichnete man Homosexuelle verschämt als Leute «vom anderen Ufer». Travestieshows am Fernsehen galten als lustig, aber auch irritierend.

Lee hat den starken Verdacht, dass er als intersexuelles Kind mit uneindeutigen Genitalien unter dem Vorwand eines Leistenbruchs operiert wurde. Mit der körperlichen Veränderung in der Pubertät wurde es erst recht kompliziert: «Ich passte weder zu den Mädchen noch zu den Burschen.» Die Wahl der Kleider sei «ein Graus» gewesen, woraus Lee den Schluss zog, lesbisch zu sein.

Der Seelsorger in der Freikirche seiner Mutter war entsetzt, versuchte, Lee von den «satanischen Belastungen» zu kurieren, und riet zur Heirat mit einem Hetero­mann (das BT berichtete).

 

Aus Vater wurde Mutter
 – und umgekehrt

«Das habe ich getan», sagt Lee trocken. 23 Jahre später liess sich das Paar scheiden. «Es gab gute und schwierige Phasen, wir bedauern nichts.» Es habe einfach nicht mehr gepasst. «Wir haben beide die Maske abgelegt, um das zu werden, was wir wirklich sind.» So wurde aus der Ehefrau der Transmann Ari Lee. Aus dem Ehemann, der mit dem zugewiesenen Geschlecht ebenfalls unglücklich war, wurde eine Transfrau.

Die beiden Kinder des Paares erlebten also, wie aus dem Vater die Mutter – und aus der Mutter der Vater wurde. Ist das nicht irritierend? «Sie haben es verstanden und gut aufgenommen», sagt Lee. Allerdings hätten sie ihn gebeten, sich äusserlich nicht zu schnell zu verändern, also keinen Bart wachsen zu lassen.

Komplex ist auch Lees Familiengeschichte. Von der Grossmutter her existiert eine bodenständige Verbindung ins Schangnau, doch emigrierte die Oma aus wirtschaftlichen Gründen nach Deutschland. Der Vater ist, was man früher Indianer nannte und heute «Native American/Indigenous» oder Bipoc (black, indigenous and people of color).

Die Vorfahren, sephardische Juden aus Spanien, gelangten im Zeitalter von Kolumbus in die Karibik, wo sie sich mit schwarzen und amerikanischen Ureinwohnern vermischten, die als Sklaven dorthin verbracht worden waren. Die jüdische Kultur ist in Lees Leben präsent, was in seiner Bieler Wohnung am Inhalt einer Vitrine abzulesen ist, die liturgische Gegenstände dieser Religion enthält – etwa Thorarollen.

Heisst es in der Thora nicht auf den ersten Seiten in der Schöpfungsgeschichte: «Und Gott schuf den Menschen als Mann und Frau»? Lee kontert, dort stehe auch, dass Gott das Licht von der Finsternis oder das Land vom Meer geschieden habe. «Und doch gibt es die Dämmerung oder Sumpfgebiete», Zwischenformen zwischen zwei Polen, sagt der angehende Theologe. An der Uni Genf hat er einen Bachelor erworben und arbeitet jetzt an der Theologischen Fakultät in Bern am Master.

Die Rabbiner hätten dies früh erkannt und im Talmud sechs Geschlechter definiert, etwa Frauen, die mit fortschreitendem Alter immer männlichere Züge annehmen. «Ich bin stolz darauf, dass unsere Fakultät als erste Unisex-Toiletten eingerichtet hat», sagt Lee. Sonst werde er oft «blöd angeschaut», ganz gleich, ob er Männer- oder Frauentoiletten aufsuche. Die Aufregung um dieses Thema versteht er nicht: «Zu Hause haben alle eine Unisex-Toilette.»

Auch dieses Thema macht deutlich, wie stark der Alltag kulturell mit Weiblichkeit oder Männlichkeit konnotiert ist, oft so subtil, dass es die meisten nicht merken. Als Lee noch als weiblich identifiziert wurde, beantworteten Verkäufer im Elektronikfachhandel auch scheinbar dumme Fragen geduldig. Beim männlichen Lee setzen sie ein Grundwissen voraus.

Auch auf der Strasse sei der Unterschied spürbar, sagt Lee. «Eine Frau weicht entgegenkommenden Männern meist aus.» Das werde auch so erwartet. Als er dies – noch weiblicher aussehend – versuchsweise unterlassen habe, sei es beinahe zum Zusammenstoss mit sehr irritierten Männern gekommen.

Erlebte Lee ernsthafte Zusammenstösse oder Anfeindungen? Als er im Zug sass und eine Schutzmaske mit aufgedrucktem Regenbogensymbol trug, sagte ein Passagier: «Hier stinkt es nach Schwuchtel.» Sonst habe er bisher keinen Grund gehabt, sich zu fürchten. Er weiss von dunkelhäutigen Transmännern, dass sie – umgeben von hellhäutigen Kollegen – von der Polizei bei Kontrollen oft herausgegriffen würden – klassisches «racial profiling».

Lee hat auch Positives erlebt. Als sich der ausgebildete Make-up-Artist bei einem Warenhaus bewarb, um Kindern Halloween-Masken aufzumalen, reagierten die Personalverantwortlichen verständnisvoll darauf, dass in seinen Ausbildungsunterlagen ein anderer Name und ein anderes Geschlecht vermerkt sind.

Das Schminken ist seine Leidenschaft. Oft zeigt er unerfahrenen Transfrauen den Umgang mit Schminkutensilien und berät sie beim Finden des eigenen Stils.

 

Rauswurf nach
seinem Coming-out

Ablehnung hat Lee eher im persönlichen Umfeld erfahren. So wurde er als Pastor einer täuferisch ausgerichteten Freikirche nach seinem Coming-out abgesetzt. Von anderen Transmenschen weiss er, dass sie von der Familie verstossen werden. Für sie will er seine seelsorgerischen Fähigkeiten aktivieren und ihnen helfen, Schritt für Schritt ihre eigene Identität zu finden.

Am Montag hat Lee seinen Termin auf dem Zivilstandsamt. Die Geschlechtsänderung ist jetzt keine grosse Sache mehr. Kein Vergleich zu dem, was sein Ex-Partner an Befragungen vor Gericht über sich habe ergehen lassen müssen. Betroffene seien bisher völlig von Instanzen abhängig gewesen, sagt Lee. «Dabei weiss die Person selber am besten, wer sie ist.»

Manche kritisieren die freie Geschlechtswahl als Lifestyle-Marotte und Masche, um sich wichtig zu machen. Dies weist Lee entschieden zurück: «Ich kenne niemanden, der dies als coolen Modegag versteht.» Es gehe um Anerkennung. «Wir wollen sein dürfen, wer wir sind.»

Und überhaupt: Wenn ihn jemand frage, was er eigentlich sei, antworte er: «Einfach ein Mensch.»

Stichwörter: Mann, Frau, Transmann, Biel, Geschichte, Amt

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