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Corona-Blog

Zeit haben, in andere Welten zu blicken

Was für ein Privileg, Zeit zu haben. Den Tag sanft, ohne Wecker zu beginnen.

Symbolbild Keystone
  • Dossier

Annelise Alder, Redaktorin Kultur

Auf ganz natürliche Weise in den Wachzustand hinüberzugleiten, im Vertrauen auf die innere Uhr, die auch dank dem Zwitschern der Vögel und den Geräuschen des einsetzenden Verkehrs in der Ferne einem das Zeichen für den richtigen Zeitpunkt zum Aufstehen vermittelt.

Den Beginn des Arbeitstags hinauszuzögern im Wissen, dass es keinen Zug zu erreichen, keine frühen Besprechungen vorzubereiten und keine Lunchboxes herzurichten gibt, da die Kinder auf Homeschooling umgesattelt haben.

Nicht in die Agenda schauen zu müssen, weil dort kaum Einträge verzeichnet sind. Stattdessen während des Homeoffice durchs Fenster hindurch den Lauf der Natur zu beobachten: Das sich langsam entfaltende üppige Grün an Bäumen und Sträuchern, das Aufblühen der verführerischen, üppigen Fliederblüten, das Entstehen eines Vogelnests in der Rotbuche. Stundenlang, tagtäglich, einem inneren Trieb gehorchend, fliegt das Elsternpaar Zweig 
um Zweig herbei.

Festzustellen, wie die Natur unaufhaltsam ihren Gang geht, während das Leben in den Strassen zum Stillstand verurteilt ist.

Zeit haben, mit den Teens über Themen zu diskutieren, die sie beschäftigen, auch solche, die aus den Zeitungsspalten verdrängt wurden. Kinderarbeit zum Beispiel. Zwei Drittel aller arbeitenden Kinder erhalten keinen Lohn. Es heisst doch, sie würden zum Familienunterhalt beitragen? Sie werden also einfach ausgebeutet?

Eine Schulaufgabe bestand darin, Lösungen für die überfüllten Flüchtlingslager auf Lesbos vorzuschlagen. Eine grosse Herausforderung. Trotzdem ist es höchste Zeit, dass die EU – und nicht nur sie – sich endlich der menschenunwürdigen Zustände annimmt.

Und folgende Frage: Weshalb haben viele Chinesen keinen Sinn für Ironie? Schwierig zu 
beantworten. Liegt es an den unterschiedlichen gesellschaftlichen Werten? Liegt es daran, dass Gedankenfreiheit, Kritikfähigkeit, aber auch die Leichtigkeit des Seins, alles Voraussetzungen für ironische Ausdrucksfähigkeit, in China stets bekämpft wurden?

Zeit haben also, um sich vor Augen führen zu lassen, wie gut es einen geht, auch wenn der Alltag für eine Weile ins Stocken geraten ist.

aalder@bielertagblatt.ch

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