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Corona-Blog

Zugfahren,
 ein seltenes Privileg

Pendeln – schon dieses Wort löst bei mir ein Gefühl der Resignation aus. Während mehrerer Jahre bin ich aus der heimatlichen Provinz täglich nach Biel gependelt, eineinhalb Stunden hin, eineinhalb Stunden zurück.

Symbolbild Keystone
  • Dossier

Die Zeit sinnvoll nutzen, das ist mir nie so recht gelungen. Egal ob ich lesen, lernen oder Mails beantworten wollte: Immer lenkten mich das Scheppern von Popmusik aus billigen Kopfhörern oder das unerträgliche Schmatzen eines Kaugummikauenden ab. Setzte ich selbst Kopfhörer auf, öffnete garantiert jemand eine Dose Red Bull, und während der Betreffende langsam aus dem Halbschlaf auftauchte, breitete sich zeitgleich der ekelhafte Geruch des Getränks im ganzen Zugwagen aus. Spätestens auf dem Heimweg hielten mich die lautstarken Gespräche im Regionalzug, in dem jeder jeden kennt, von jeglicher sinnvollen Beschäftigung ab.

Letzte Woche nun bin ich für ein Interview nach Biel gefahren. Das erste und einzige Mal seit Beginn des Lockdowns habe ich für die Arbeit mein Homeoffice verlassen. Auf dem Weg zum Bahnhof erfasste mich ein feierliches Gefühl, ähnlich der Euphorie, die ich oft vor einer Ferienreise empfinde.

Es ist früher Nachmittag, der Zugwagen ist leer, die Sonne scheint durch die Fenster auf die blau gepolsterten Sitze. Die Fahrt geht los, gemütlich rauscht die Lüftung mit jener meines altersschwachen Laptops um die Wette. Niemand steigt ein. Niemand zieht, bereits auf dem Trittbrett stehend, ein letztes Mal an seiner Zigarette und bringt den Rauchgeruch mit in den Wagen. Niemand öffnet eine Papiertüte von Mac und setzt den penetranten Geruch nach Frittieröl frei. Niemand erzählt am Telefon ungeniert von seinen Beziehungsproblemen.

Während der flugzeuglose Himmel vor den Fenstern vorbeizieht und die Felder immer grüner werden, je mehr ich mich dem Seeland nähere, merke ich: Es ist schön. Es ist schön, für einmal blühende Obstbäume und gelb strahlende Forsythien zu sehen, anstatt die immer gleiche Wand hinter dem improvisierten Schreibtisch im Homeoffice. Es ist schön, die Welt hinter den Fenstern sich verändern zu sehen. Es ist schön, frei von einem Ort zum anderen pendeln zu können. Ja, was für mich lange Zeit ein notwendiges Übel war, scheint mir mit einem Mal ein seltenes Privileg geworden zu sein.

sgrandjean@bielertagblatt.ch

Stichwörter: Pendeln, Zug, Bahnhof, Biel

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