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Titelgeschichte

Zwei Ungeduldige ziehen erste Bilanz

Dank ihrer Wahl wird Biel seit drei Monaten erstmals von einer Frauenmehrheit regiert. Glenda Gonzalez Bassi und Lena Frank erzählen, wie sie ihre neue Führungsaufgabe wahrnehmen, wie lange sich die Tage manchmal anfühlen - und wieso sie beim Altersheim Ried auf die Bremse treten wollen.

Die beiden sind als Gemeinderätinnen öffentliche Personen - aber bisher kaum im öffentlichen Raum unterwegs. Bild: zvg

Interview: Lino Schaeren

Glenda Gonzalez Bassi, Lena Frank, seit Ihrer Wahl in den Gemeinderat sind Sie beide mehr öffentliche 
Person denn je. Fühlen Sie sich in 
der Pandemie, wenn das Leben zu einem gewissen Grad stillsteht und wenn möglichst von zuhause aus 
gearbeitet werden muss, trotzdem auch manchmal etwas alleine?


Lena Frank: Zwischendurch schon, ja. Die Homeoffice-Pflicht wurde bereits kurz nach Amtsantritt eingeführt, seither sind viele Mitarbeitenden nur noch sporadisch im Büro. Das Zwischenmenschliche fehlt, es gibt keine Teambuildinganlässe und keine Apéros, die eigentlich wichtig sind, um sich in ungezwungenem Rahmen kennenzulernen. Alleinegelassen fühle ich mich deshalb aber nicht. Man steht ja trotzdem in Kontakt, insbesondere mit meinem Generalsekretär tausche ich mich oft aus.


Glenda Gonzalez Bassi: Mir geht es ähnlich. Es gibt Mitarbeitende meiner Direktion, die ich erst auf dem Bildschirm gesehen habe, anderen wiederum bin ich zwar schon vor Ort begegnet, habe aber ihr Gesicht wegen der Maske noch nie richtig gesehen. Alleine fühle ich mich deshalb aber nicht. Ich bin in diesen ersten 100 Tagen im Amt von meinen Teams und in jeder Abteilung sehr gut eingeführt und begleitet worden.
 
Haben Sie Ihr Verhalten im öffentlichen Raum als Mitglied der Stadt-
regierung angepasst?


Glenda Gonzalez Bassi: Vielleicht fahre ich etwas vorsichtiger Velo.
 
Sie überfahren keine Rotlichter mehr aus Angst, dabei erkannt zu werden?

Glenda Gonzalez Bassi: Nein, nein, das habe ich schon vor meiner Wahl selten getan. Aber ich achte mehr darauf, nicht auf dem Trottoir zu fahren (lacht).

Lena Frank: Ich hätte wohl ähnlich geantwortet. Natürlich ist ein etwas anderes Bewusstsein für das öffentliche Auftreten vorhanden, ich überlege mir zweimal, ob ich in Trainerhose das Haus verlasse, wenn ich schnell zum Detailhändler gehen will. So oft war ich aufgrund der Pandemie aber noch gar nicht im öffentlichen Raum unterwegs. Und wenn, dann mit Maske.

Glenda Gonzalez Bassi: Ich habe eher das Gefühl, dass nicht ich mich in meinem Auftreten verändert habe durch die Wahl in den Gemeinderat, sondern mein Gegenüber. Die Leute sind teilweise erstaunt, wenn ich als Gemeinderätin an denselben Orten auftauche wie zuvor und mich dann auch noch gleich verhalte. Dann schauen sie ab und zu komisch. Dabei gehe ich immer noch auf dem Märit oder im Coop in meinem Quartier einkaufen. Wir können uns in der Schweiz auch als gewählte Politikerinnen zum Glück völlig frei bewegen, auch die Bundespolitikerinnen und 
-politiker. Das ist leider in anderen Ländern nicht immer so.
 
Schafft das öffentliche Amt denn 
nun eher Nähe oder Distanz zur 
Bevölkerung?

Glenda Gonzalez Bassi: Nur, weil einen die Leute manchmal etwas beäugen, heisst das nicht, dass sie Berührungsängste haben. In einer anderen Stadt wäre das vielleicht eher so, in Zürich, Bern oder Neuenburg. Aber nicht in Biel. Das hat weniger mit der Grösse der Stadt zu tun als mit der Kultur, die hier gelebt wird. Hier sind die Menschen unkompliziert und gehen aufeinander zu, auch auf mich. Einige Bielerinnen und Bieler hatten vielleicht erwartet, dass ich als gewählte Politikerin jetzt etwas auf Distanz gehe. Aber das ist überhaupt nicht meine Philosophie.


Lena Frank: Ich stelle höchstens im Privaten fest, dass ich in meinem Freundeskreis nicht mehr gleichermassen über meinen Arbeitsalltag plaudern kann und darf. Vielleicht schafft das in einzelnen Fällen etwas Distanz. Bevor ich Berufspolitikerin war, konnte ich problemlos erzählen, was mich beruflich beschäftigt und vielleicht auch belastet. Heute muss ich mir stärker Gedanken darüber machen, wem ich was anvertraue und wo ich vielleicht auch einmal mein Herz ausschütte.


Glenda Gonzalez Bassi: Diese Erfahrung mache ich auch. Aber das ist für mich nicht eine Frage von Distanz oder Nähe. Es geht um die Rolle, die ich einnehme. Unter Freundinnen verhalte ich mich anders, als wenn ich als Berufspolitikerin unterwegs bin. Und es stehen auch andere Themen im Vordergrund. Ich versuche, mir immer bewusst zu sein, welchen Hut ich gerade aufhabe. Wichtig ist mir immer, dass ich erreichbar bin. Meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollen wissen, dass sie immer zu mir kommen können. Ich habe mein Büro zwar zuoberst im Kongresshaus-Turm. Das habe ich mir aber nicht ausgesucht, die Leute sollen nicht das Gefühl haben, dass ich auf sie hinabschaue.


Lena Frank: Auch ich schätze sehr die Kultur der offenen Tür. Ich habe stets ein offenes Ohr für die Bevölkerung und die Parteimitglieder. Aber auch für meine Freunde. Sie sollen wissen, dass sie mich nach wie vor jederzeit anrufen können, wenn sie mich brauchen. Diesbezüglich hat sich absolut nichts verändert.

Glenda Gonzalez Bassi: Absolut. Ich habe nur ein Mobiltelefon und die Nummer ist noch dieselbe wie am Wahlabend vor sechs Monaten.
 
Was hat Sie am neuen Amt am 
meisten überrascht?


Glenda Gonzalez Bassi: Was meine Direktion betrifft, so kann ich feststellen, dass alle Dienstleistungen direkt mit der Bevölkerung verbunden sind und sich unmittelbar auf das tägliche Leben der Bielerinnen und Bieler auswirken. Das ist eine grosse Verantwortung. Zudem fällt mir auf, wie unglaublich abhängig ich von einer vorgegebenen Agenda bin. Alles ist sehr strukturiert, es fühlt sich an, als würde die Zeit nur so vorüberfliegen.


Lena Frank: Es gibt Tage, die sich rein aufgrund ihrer Intensität anfühlen, als wären es drei gewesen. Mich hat aber vor allem die Breite der Leistungen überrascht, die meine Direktion und die Stadt insgesamt erbringen. Ein Schlüsselerlebnis war, als ich die Aussenstellen besucht habe und mir im Werkhof, in der Gärtnerei oder auf dem Friedhof erklärt wurde, was jeweils alles dahintersteckt. Da habe ich gemerkt, wie komplex etwa das Friedhofswesen eigentlich ist. Als Parlamentsmitglied macht man sich ja weniger Gedanken über den Businessplan des Krematoriums. Besonders eindrücklich finde ich den Einsatz und die Motivation der Stadtmitarbeitenden. Vom vermeintlichen Elfenbeinturm in der Direktion bis hinaus in den Werkhof habe ich Stolz verspürt für die Leistungen, welche die Stadt täglich erbringt.

Sie erhalten einen tieferen Einblick 
in die Dossiers der Stadt. Ausgehend von dieser neuen Optik: Macht 
 man es sich als Parlamentsmitglied manchmal etwas gar einfach?

Glenda Gonzalez Bassi: Die Rollen sind unterschiedliche. Das Parlament ist militanter als die Regierung. Als Parlamentarierin konnte ich meine Haltung und meine Werte unabhängig anderer Meinungen kompromisslos vertreten. Der Gemeinderat ist aber ein Gremium, das nach aussen eine gemeinsame Haltung vertritt. Dieser widerspiegelt nicht immer meine persönlichen Überzeugungen, aber so funktioniert die Kollegialität. Einen weiteren Unterschied sehe ich darin, dass wir als Gemeinderatsmitglieder die Dossiers aller Direktionen 
intensiv studieren und diskutieren. Im Stadtrat gibt es hingegen einzelne Mitglieder, die auf die Finanzen spezialisiert sind, während sich andere vor allem mit Verkehrsfragen befassen. Der Einblick in das Funktionieren der Gemeinde ist im Gemeinderat tiefer und ermöglicht eine andere Sicht auf die Stadt und die Zusammenhänge.

Lena Frank: Egal, auf welcher Ebene man tätig ist: Wichtig ist, dass man die politischen Abläufe und Zuständigkeiten nachvollziehen kann. Es ist nicht die Aufgabe des Parlaments, in jeder Hinsicht dieselben Überlegungen anzustellen wie die Stadtregierung.

Werden Sie es nicht vermissen, 
wie noch im Parlament auch einmal bedingungslos sein zu können?

Lena Frank: Wir können nach wie vor unsere Haltung sehr klar vertreten. Wir tun das aber im Gemeinderat und nicht mehr an öffentlichen Parlamentssitzungen. Zudem können wir uns zu nationalen Themen immer noch unabhängig und auch pointiert äussern.
Glenda Gonzalez Bassi: Die Meinungsäusserungen passieren nicht mehr so spontan wie noch im Parlament. Wir sind im Gemeinderat sehr abhängig von vorgegebenen Prozessen. Aber es liegt ja an uns selber, zu bestimmen, wie wir zusammenarbeiten.

Pflegen Sie, die beide neu im Amt sind, eigentlich einen besonders 
intensiven Austausch?

Lena Frank: Ich denke schon. Einerseits, weil wir eben beide neu sind. In den ersten Wochen haben wir uns durchaus mal angerufen und gefragt, wie es so geht (beide lachen). Andererseits haben unsere Direktionen viele Berührungspunkte: Die Direktion Bau, Energie und Umwelt setzt vieles auf Bestellung der Direktion Bildung, Kultur und Sport um.

Damit sind wir beim Stichwort Schulinfrastruktur. Diese stand im Zentrum der Amtszeit ihrer Vorgängerin Barbara Schwickert und ihres Vorgängers Cédric Némitz. Sie kommen nicht darum herum, hier auch einen Schwerpunkt zu setzen; der Aufholbedarf in der Schulinfrastruktur ist nach wie vor zu gross.

Glenda Gonzalez Bassi: Ja, aber vieles ist inzwischen aufgegleist.

Lena Frank: Zum Beispiel die neue Schulanlage Champagne ist so ein gemeinsames Projekt, das wir geerbt haben. Weitere Schulhäuser, die saniert werden müssen, werden folgen.

Immerhin nimmt der Druck dank 
der Pandemie etwas ab. Es gibt viele Abgänger und kaum Zuzügerinnen, erstmals seit vielen Jahren müssen deshalb keine zusätzlichen Schulklassen eröffnet werden. Sind Sie 
froh um diese Entspannung der Lage, Frau Gonzalez?

Glenda Gonzalez Bassi: Der Druck ist derzeit tatsächlich etwas weniger gross. Aber diese Entwicklung wird ja nach der Pandemie nicht anhalten. Gut möglich, dass die Situation bereits im Dezember wieder eine ganz andere sein wird. Wichtig ist mir bei der Schulinfrastruktur aber, dass der Schulraum den heutigen pädagogischen Bedürfnissen angepasst wird. Die Klassen arbeiten heute anders zusammen als früher, entsprechend sind auch die Anforderungen an die Infrastruktur nicht mehr dieselben.

Lena Frank: Kürzlich haben wir einen Teil der Sanierung der Schulanlage Geyisried abgeschlossen. Ich war beeindruckt, wie anders die Schulzimmer heute aussehen als noch zu meiner Schulzeit. Es gibt jetzt Multifunktionsräume zwischen den Klassenzimmern und die Digitalisierung hat Einzug gehalten. Ich habe aber vor allem auch das Gefühl, dass die Aufenthaltsqualität in den Räumen heute höher ist.

Glenda Gonzalez Bassi: Und das ist wichtig, denn Klassenräume sind letztlich Lebensräume, in denen die Kinder und Jugendlichen viel Zeit verbringen.

Vorerst arbeiten Sie die Hinterlassenschaften Ihrer Vorgänger ab. Verspüren Sie einen gewissen Drang, eigene Ideen umzusetzen?

Lena Frank: Ich verspüre natürlich eine Vorfreude darauf, selber Dinge zu gestalten. Es ist aber ein natürlicher Prozess, zuerst einmal in einem neuen Amt anzukommen. Ich bin eigentlich dankbar, kann ich Dossiers erben, anhand derer ich die Abläufe kennenlernen kann.

Sie haben beim «Journal du Jura» beide auf die Frage nach Ihrem grössten Makel angegeben, ungeduldig zu sein.

Lena Frank: Ich bin dann ungeduldig, wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt habe und es noch nicht umgesetzt ist.

Glenda Gonzalez Bassi: Ich bin dann ungeduldig, wenn ich das Gefühl habe, dass jemand die Sache nicht beim Namen nennt. Wenn mir Fragen gestellt werden, auf welche die Antwort doch offensichtlich ist. Gleichzeitig interessiere ich mich aber für alles, ich will immer alles wissen und vor allem auch verstehen. Dazu muss ich viel lesen und Gespräche führen. Alles, was bei mir auf dem Tisch landet, ist wichtig für mich, aber manchmal fehlt mir die Zeit. Auf der Direktion gibt es aber gerade jetzt in der Pandemie so viel zu tun, dass ich mir eigentlich gar nicht erlauben kann, ungeduldig zu sein (lacht).

Ein Thema, über das wir sprechen müssen, ist der drohende Abriss des Unteren Rieds …

Lena Frank: … müssen wir das?

Ja. Auch beim Wettbewerbsentscheid, der den Abriss des historischen Gebäudes der Malerfamilie 
Robert vorsieht, ist eine Altlast: Ihre Vorgänger haben ihn mitgefällt. Sie dürften angesichts der zahlreichen fassungslosen Reaktionen ganz froh sein, diesen nicht selber verantworten zu müssen.


Lena Frank: Es ist müssig, darüber zu diskutieren, wer wann welchen Entscheid gefällt hat.

Weil Sie den vorliegenden Entscheid nicht selber zu verantworten haben, ist es für Sie einfacher, jetzt die Notbremse zu ziehen.

Lena Frank: Es ist ja noch kein Entscheid gefällt worden, der das Ziehen der Notbremse nötig machen würde. Aber es stimmt, der Umgang mit der Kritik ist für uns beide vielleicht einfacher, weil wir das Projekt nicht schon seit Jahren bearbeitet haben. Käme bei einem Projekt, das ich aufgegleist habe, Fundamentalopposition auf, hätte ich wohl mehr Mühe damit als bei einem Vorhaben, das ich geerbt habe. Unabhängig davon haben wir aber auf den Gegenwind reagiert und die kritischen Stimmen angehört. Jetzt werden wir dem Gemeinderat dann unterbreiten, wie wir weiter verfahren wollen. Mehr dazu, wie es weitergeht, kann ich vor dem Gemeinderatsentscheid nicht sagen. Klar ist aber, dass es sich beim Altersheim Ried um einen komplexen Fall handelt, weil wir einerseits die betrieblichen Bedürfnisse und andererseits die baulichen Begebenheiten vor Ort und die Nutzungsvorgaben im gesamten Ried berücksichtigen müssen. Im Übrigen haben wir nicht nur negative Rückmeldungen erhalten. Es wurden aber medial vor allem jene gehört, die am lautesten geschrien haben …

… es wurde eine Petition mit immerhin 2600 Unterschriften gegen den Ried-Abbruch eingereicht.

Lena Frank: Das ist eine erhebliche Zahl, das stimmt. Aber wir hatten auch positive Reaktionen. Die muss man auch sehen.

Glenda Gonzalez Bassi: Die Direktion von Lena Frank hat auch das durchgeführte Verfahren noch einmal angeschaut und festgestellt, dass dies absolut korrekt war.

Lena Frank: Das Wettbewerbsverfahren wird in Fachkreisen sogar als vorbildlich bewertet. Die Reaktionen folgten auch nicht auf das Vorgehen, sondern auf das Ergebnis, damit müssen wir jetzt politisch umgehen.

Es hat Ihnen auch niemand vorgeworfen, dass das Verfahren formal fehlerhaft gewesen sein soll. Die Stadt hat in der Wettbewerbsausschreibung aber explizit festgehalten, dass der Abriss des Unteren Rieds möglich ist. Damit hat die Stadt 
das Robert-Gebäude zum Abschuss freigegeben.

Lena Frank: In den Unterlagen war explizit festgehalten, dass das Gebäude nicht abgerissen werden muss. Beides ist möglich, die Stadt war offen für alle Möglichkeiten.

Glenda Gonzalez Bassi: Wir machen jetzt eine Standortbestimmung. Dass wir beide neu im Amt sind, ist vielleicht tatsächlich eine Chance. Wir können als Vorsteherinnen der beiden involvierten Direktionen etwas auf die Bremse treten und die Ausgangslage unbefangen analysieren.

Lena Frank: Es stimmt also schon, dass wir etwas grössere Freiheiten haben, als wenn wir vom Projektstart an dabei gewesen wären. Gleichzeitig sind wir aber an frühere Gemeinderatsbeschlüsse gebunden. Einfach alles über den Haufen werfen können wir nicht. Wir halten die Verfahrensregeln ein und gehen seriös über die Bücher.

Glenda Gonzalez Bassi: Es ist auf jeden Fall ein sensibles Thema, mit dem wir im Januar nach erst zwei Wochen im Amt konfrontiert wurden. Damit hatten wir zum Auftakt nicht unbedingt gerechnet.

Wo wollen Sie in den nächsten Jahren eigene Akzente setzen?

Glenda Gonzalez Bassi: Ich möchte eine bessere Chancengleichheit in den Quartieren erreichen.

Wie meinen Sie das?

Glenda Gonzalez Bassi: Man sagt immer, Biel sei vielseitig. Vielfalt ist eine grosse Chance, aber auch eine Verpflichtung. Im Quartier findet das Leben statt. Hier gibt es öffentlichen Raum, Heime und Schulen. Aber auch Kultur und Sport muss in den Stadtquartieren stattfinden. Ich denke, wir können einen noch besseren sozialen Zusammenhalt erreichen, indem wir etwa die Begegnungsorte besser auf die Bedürfnisse aller abstimmen. Es gibt heute im öffentlichen Raum zum Beispiel kaum Infrastruktur, die auf alte Menschen ausgerichtet ist. Oder die Genderfrage: Wir müssen für Jungen und Mädchen denken bei der Planung des öffentlichen Raums und der Spielplätze. Die Qualität des Zusammenlebens muss sich erhöhen. Ganz wichtig dabei ist mir die Partizipation der Bevölkerung.

Lena Frank: Als Baudirektorin liegt es in der Natur der Sache, dass ich viele aufgegleiste Projekte erbe. Viel ist zudem getrieben von der Dringlichkeit, das macht es schwierig, projektbezogen eigene Akzente zu setzen. Ich setze deshalb bei der Qualität der Projekte an, sowohl beim Hochbau als auch bei der Infrastruktur. Ich setze mich dafür ein, dass nachhaltig gebaut wird. Wir haben ein Klimaschutzreglement umzusetzen und auf die Ökologie zu achten. Dabei ist es wichtig, Dinge zu hinterfragen.

Zum Beispiel?

Lena Frank: Zum Beispiel die Bodenbeläge: Muss es schwarzen Asphalt sein oder geht auch ein heller Belag, der das Stadtklima nicht zusätzlich anheizt? Und wie sieht es mit der Versickerung aus? Natürlich müssen wir auch die Nutzung eines Ortes anschauen. Aber es soll auch künftig nicht einfach reflexartig betoniert werden.

Die Esplanade würden Sie heute also anders planen.

Lena Frank: Wahrscheinlich, ja. Die Plätze in der Innenstadt, aber auch in den Aussenquartieren, müssen eine bessere Aufenthaltsqualität haben. Da spielt auch der Verkehr mit rein. Als gutes Beispiel dient dabei der Kreuzplatz, bei dessen Planung sehr offensichtlich von den Bedürfnissen des Autofahrers ausgegangen wurde. Man hat den motorisierten Individualverkehr ins Zentrum gestellt und dann geschaut, wo der Rest noch Platz findet. Das muss man in der Planung genau umkehren. Durch die Entlastungen, die der A5-Ostast in diesem Perimeter mit sich gebracht hat, kriegen wir jetzt die Chance dazu: Ich will die verkehrliche Entlastung nutzen, um mehr Platz zu schaffen für Velofahrer und Fussgängerinnen. Das heisst aber nicht, dass sich von heute auf morgen etwas ändern wird. Auch das habe ich in meinen ersten drei Monaten auf der Direktion gelernt: Gerade Verkehrsprojekte brauchen sehr, sehr viel Zeit. Und gerade die Gestaltung des Kreuzplatzes ist ein Projekt, das wir mit einem partizipativen Ansatz angehen könnten.

Sie waren beide Gegnerinnen des Projekts Agglolac, Sie, Frau Frank, sassen gar im Vorstand von «Stop 
Agglolac» vor Ihrer Wahl in den 
Gemeinderat. Sie müssen ganz 
zufrieden sein, dass Sie nach der 
Ablehnung in den Parlamenten jetzt in der Exekutive mitreden können, wie es weitergehen soll.

Lena Frank: Es ist immer schön, wenn man mitdiskutieren kann. Ich denke, was Agglolac betrifft, müssen wir den Perimeter jetzt umfassend anschauen: Mit der Beerdigung des A5-Westasts bietet sich die Chance, Biel-West zu gestalten.

Glenda Gonzalez Bassi: Für mich lag das Problem bei Agglolac im partizipativen Prozess. Ein solches Quartier muss zusammen mit der Bevölkerung und den Interessengruppen geplant werden. Quartiere sind heute nicht einfach mehr Wohnorte, sie sind Lebensräume.

Lena Frank: Ich finde die Vorstellung, dass Quartiere wie kleine Dörfer sind, sehr schön. Natürlich braucht es die Innenstadt für spezifische Bedürfnisse und als Treffpunkt. Aber das Leben muss heute in den Quartieren autark funktionieren können.

Glenda Gonzalez Bassi: Wir konsumieren heute auch anders. Wir sehen ja, dass die Grossverteiler plötzlich wieder vermehrt kleinere Geschäfte in den Quartieren eröffnen, die sie vor ein paar Jahrzehnten noch zugunsten grosser Läden in der Innenstadt geschlossen haben. Die Leute wollen in den Quartieren leben und konsumieren und diese auch gestalten.

In der Stadtregierung gibt es erstmals überhaupt eine Frauenmehrheit, 
dasselbe gilt für das Bieler Parlament. Wird sich der Fokus in der städtischen Politik dadurch verschieben?

Lena Frank: Es kommt auf das grosse Ganze an. Jedes Individuum bringt seinen eigenen Rucksack mit Erfahrungen mit. Wenn wir in einem 60-köpfigen Parlament nur zehn Frauen haben, werden die Erfahrungen der Frauen entsprechend zu wenig repräsentiert. Natürlich ist jede Person einzigartig. Aber als Frau erlebt man nun einmal zum Beispiel den öffentlichen Raum ganz anders. Das kann bei einer besseren Frauenvertretung deshalb durchaus in die Ausgestaltung von Projekten einfliessen. Auch Vorstösse können durch eine bessere Frauenvertretung anders gefärbt sein.

Glenda Gonzalez Bassi: Wir haben ja bereits in den vergangenen Amtszeiten gesehen, dass sich Parlamentsmitglieder nicht nur der Parteilinie nach verbünden. Geht es um die Anliegen der frankophonen Bevölkerung, spannen die französischsprachigen Stadträtinnen und Stadträte auch einmal unabhängig ihrer politischen Färbung zusammen. Ich denke, das wird auch bei den Frauen so sein – und sie haben jetzt eine bessere Chance, für ihre Anliegen eine Mehrheit zu finden. Die neue Frauenmehrheit bringt eine neue Dynamik.

Führen Frauen anders als Männer?
Glenda Gonzalez Bassi: Ich bin kein Mann, ich weiss es nicht (lacht). Ich brauche immer den Dialog. Ich habe nicht das Bedürfnis, immer allen zu sagen, wie sie etwas zu tun haben. Ich stelle viele Fragen und aufgrund der Antworten kann ich entscheiden, wie der gemeinsame Weg aussieht. Dialog, Zusammenarbeit und Transparenz: Das sind für mich wichtige Eckpfeiler in der Führung. Ob das bei Männern anders ist? Keine Ahnung.


Lena Frank: Bei mir spielt das Alter sicher auch mit rein. Mit Jahrgang 1989 habe ich eine etwas andere Führungskultur, weil ich ein anderes Erleben habe, anders und in einer anderen Zeit aufgewachsen bin als jemand, der 20 Jahre älter ist als ich. Bei mir gibt es keine typischen Hierarchien. Mir ist wichtig, dass verschiedene Fachpersonen unterschiedliche Blickwinkel einbringen. Das passiert auch bei mir durch viel Austausch, der zu vielen Aha-Erlebnissen führt. Ich pflege viel mehr ein Zusammenspiel, als dass ich als Politikerin auftrete und den Fachleuten erkläre, wie der Laden jetzt läuft.

Glenda Gonzalez Bassi: Ich habe 20 Jahre eine Institution geleitet, in der partizipative Prozesse ungemein wichtig waren. Da habe ich gelernt, dass flache Hierarchien gut funktionieren. Das heisst nicht, dass es keine Chefin gibt. Ich treffe die Entscheidungen und trage die politische Verantwortung. Aber den Weg dahin beschreiten wir gemeinsam.

Lena Frank: Um die politische Verantwortung wahrnehmen zu können, sind wir auf Fachpersonen angewiesen, denen wir vertrauen können. Deshalb finde ich Transparenz ein gutes Stichwort. Ich bin darauf angewiesen, dass die wichtigen Informationen zu mir finden und nicht hinter meinem Rücken gesprochen wird. Dieser Austausch funktioniert mit flachen Hierarchien besser als mit starken Autoritäten, davon bin ich überzeugt. Als Chefin muss ich durchgreifen können. Aber nur dann, wenn es wirklich nötig ist.

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