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Titelgeschichte

Christian Stucki – ein Jahr nach seinem Coup

Am 25. August 2019 setzt der Lysser Christian Stucki seiner Karriere die Krone auf. In Zug wird er im siebten Anlauf Schwingerkönig. Ein Rückblick.

Strahlender Sieger grüsst die Menge: Christian Stucki mit dem Kranz des Schwingerkönigs vor einem Jahr in Zug. Bild: Keystone

Beat Moning

Eine Top-Vorbereitung auf das persönlich siebte Eidgenössische Schwing- und Älplerfest ist es beileibe nicht: Zum Kranzfest-Auftakt im bernischen Zäziwil am 12. Mai 2019 verletzt sich Christian Stucki im vierten Gang gegen Curdin Orlik beim Herausdrehen aus einer unangenehmen Lage am linken Knie.

Dabei hat das Jahr eigentlich optimal begonnen: mit klaren Erfolgen gegen Matthias Aeschbacher und Angstgegner Hanspeter Luginbühl. Als Stucki später nach dem Kampf gegen Orlik verletzt davonhumpelt, sitzt der Schock im ersten Moment tief. Die Familie reiste ins Emmental, ebenso Personal- und Fitnesscoach Tommy Herzog, der sogleich mental gefordert ist.

Die Hoffnung stirbt zuletzt

Schon bald stellt sich für den Lysser heraus, dass das Innenband zwar angerissen ist, aber Meniskus und Kreuzband unbeschadet geblieben sind. Trotzdem: «Ich hatte in meiner langen Karriere noch nie etwas am Knie. Das wird eine Herausforderung.»

Und es ist ein Déjà-vu der unliebsamen Art: Sechs Wochen vor dem Eidgenössischen in Burgdorf 2013 riss er sich auf der Rigi die Bänder am rechten Fuss und 2016 in Estavayer plagte er sich mit einer Entzündung am Schambein herum und konnte, wenn überhaupt, nur reduziert trainieren.

Sechs Wochen Pause werden ihm vom Sportarzt auferlegt. Die Hoffnung, dreieinhalb Monate nach dem Unfall schliesslich in Zug die Schwingerhosen überzustreifen, sind indes intakt. Letztlich aber wird es ein Kampf gegen die Zeit. Mental-, Kraft-, und Ausdauertraining müssen von Herzog ins Programm aufgenommen werden. «Das Schwingen habe ich bis dann nicht verlernt», macht sich Stucki selber Mut.

Ziel ist die Teilnahme am Bernisch-Kantonalen am 11. August 2019. Ein letzter Test sollte es werden. Eine Woche zuvor bereits schwingt sich Christian Stucki auf dem Bözingenberg ein, siegt in sechs Gängen souverän, und auch in Münsingen kann er mit dem Kranz als Sechstplatzierter und trotz dem einen oder anderen Fragezeichen mit Optimismus nach vorne blicken.

Mehr Energie als die Gegner

Dann ist er also da, dieser 24. August 2019. Matthias Sempach zurückgetreten, Remo Käser angeschlagen, Titelverteidiger Matthias Glarner nicht in der nötigen Form, um wieder König zu werden. Auch Kilian Wengers Vorbereitung nicht optimal. Es liegt an Christian Stucki, die Kastanien aus dem Feuer zu holen und nach Wenger, Sempach und Glarner den Titel ein viertes Mal in Folge ins Bernbiet zu holen. «Vielleicht war am Ende die Vorbereitung gar nicht so schlecht. Vielleicht habe ich etwas mehr Energie als die härtesten Widersacher, die allesamt den Sommer durchgeschwungen haben», sagt sich Stucki. Er sollte am Ende recht behalten.

Über 50 000 Menschen sind in die Zuger Arena gekommen, ihre Augen auf den ersten Gang gerichtet. Der Einheimische Pirmin Reichmuth soll zu Beginn gegen Stucki schon alles für die Innerschweizer in die richtigen Bahnen leiten. Doch Stucki zeigt wild entschlossen, was er drauf hat, lässt dem kräftigen Königsanwärter nach gegenseitigem Abtasten keine Chance. Mit einem Kurz lässt er ihn buchstäblich durch die Luft fliegen. Ein erster Schritt in die richtige Richtung ist getan. «Alles bestens. Das Knie hält, ich bin gut drauf.» Der Lysser ist rundum zufrieden.

Drei Bremser, Wicki und Orlik

Die Wettbewerbseinteiler schonen den Seeländer nicht, legen ihm Stolpersteine wie Christoph Bieri, Werner Suppiger und Matthias Herger in den Weg. Aber Stucki ist nicht zu halten. Der zweite Tag muss die Entscheidung bringen. Hat es Stucki konditionell drauf? Es ist, als hätten sich Einteiler auf ihn «eingeschossen»: Er besteht zuerst die Prüfung Joel Wicki mit einem Gestellten, und auch danach kann Armon Orlik Stucki nicht besiegen.

Zwei Gestellte, das Aus? Bekommen die Kritiker wieder recht? «Ich habe eigentlich nicht mehr daran geglaubt», lässt sich Stucki nach dem Fest zitieren. Doch dann geschieht Unerwartetes: Armon Orlik oder Sven Schurtenberger können mit einem Sieg in den Schlussgang gegen den souveränen Wicki vorstossen. Die beiden neutralisieren sich und stellen. Stucki ist wieder im Rennen, holt sich gegen Domenic Schneider den nötigen Erfolg und zieht gegen Joel Wicki in den Schlussgang ein. Sein zweiter Schlussgang nach 2013. «Meine zweite Chance», wie er sagt.

Tränen vor und nach dem Gang

Dabei sind Emotionen im Spiel, wie man später erfahren kann. Stucki hat Weinkrämpfe, lässt alles raus, was er in sich hat. Tommy Herzog meint, es sei der Moment gewesen, um ihm zu sagen, dass er der Stucki Chrigu bleibe, auch wenn er jetzt wieder den Kürzeren ziehe. Er nimmt ihm sozusagen die Angst vor der Niederlage. Der Fokus aber, dieser unerbittliche Tunnelblick, der kommt rechtzeitig auf den Showdown. «Als ich Chrigu hereinlaufen sah, hatte ich das Gefühl, da komme ein anderer Mann als meiner», sagt später Ehefrau Cécile Stucki.

Schnelle Entscheidung

Die Geschichte ist bekannt. Stucki braucht den Sieg. Und er will ihn schnell, lässt sich nicht auf ein Zeitspiel ein: ein erster Zug, ein zweiter. Wicki liegt nach knapp einer Minute auf dem Rücken. «Auch wenn die Innerschweizer auf Joel hofften, so hatte ich danach das Gefühl, dass mir alle den Sieg gegönnt haben», sagt Christian Stucki – froh, dass er als Schwingerkönig akzeptiert und respektiert wird. Erneut kommen die Tränen, diesmal jene der Freude. «Ich habe etwas erreicht, das ich jahrelang angestrebt habe. Da löste sich die ganze Spannung.» Gedanken an all die Entbehrungen. Der Aufwand hat sich gelohnt.

Machtlos ausgeliefert

Heute, ein Jahr später, blickt Christian Stucki mit leeren Augen auf den Trainingsplatz in Lengnau, wo sein Klub Unteres Seeland beheimatet ist. Schon die zweite Hälfte 2005 und die ganze Saison 2006 musste er wegen einer Schienbeinverletzung auslassen. Das sei nicht einfach gewesen, aber nicht so schlimm wie jetzt, wo man gesund sei, als Schwingerkönig zeigen möchte, was man kann, und auf diese Weise zum Nichtstun verdonnert sei. «Es ist schwingerisch ein bitteres Jahr. Es zeigt uns allen auf, dass wir in einer solchen Lage machtlos ausgeliefert sind.» Dem Coronajahr mit der Zwangspause kann er allerdings auch Positives abgewinnen: «Es gab familiäre Momente, die ich so in einem Schwingsommer nicht erlebt hätte. Das habe ich genossen.» Vielleicht sei es gar nicht so schlecht gewesen, mal herunterzufahren.

Ein schnelles Jahr und Zweifel

Kommenden Dienstag also jährt sich das Erlebnis Schwingerkönig in Zug. «Die Tage fliegen nur so an einem vorbei», sagt Christian Stucki, und kann es fast nicht glauben, dass dieses einmalige Ereignis, das noch immer vor seinen Augen flimmert, das er sich am Fernsehen noch immer mal zu Gemüte führt, schon ein Jahr zurückliegt.

«Die Zeit bleibt nicht stehen, das Rad dreht sich weiter. Auch ohne Schwingen hat es sich weitergedreht. Ich hoffe einfach, dass es 2021 wieder losgeht. Aber ich muss heute sagen, dass ich noch etwas Zweifel habe. Die Ungewissheit, ob wir wieder vor vollen Rängen schwingen können, bleibt vorerst bestehen.»

In zwei Jahren, im August 2022, beim Eidgenössischen in Pratteln, soll dann Schluss sein. Oder vielleicht (noch) nicht. Es winken statistisch noch ein paar Rekorde: Bei 128 Kränzen fehlen ihm «nur» 20 bis zum Rekord von Arnold Forrer. Und bei 42 Siegen wäre die Zahl 50 auch ein lohnendes Ziel, um sich von der grossen Bühne als Schwingerkönig zu verabschieden.

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