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Titelgeschichte

Die junge Generation braucht Hilfe

Den Kindern und Jugendlichen geht es schlecht. Die Nachfrage nach Therapieplätzen übersteigt das Angebot, auch im Seeland. Niederschwellige Ersthilfeangebote sind seit Pandemiebeginn wichtiger denn je, wie die Beispiele von zwei Jugendlichen zeigen.

Copyright: Matthias Käser / Bieler Tagblatt

Theresia Mühlemann/Sarah Zurbuchen

Im Herbst 2020 wollte die 15-jährige Bielerin Nora* plötzlich nicht mehr zur Schule gehen. Sie klagte über Bauchschmerzen. Die Mutter dachte sich erst nichts dabei. Doch schon bald häuften sich die Bauchschmerzen, und die Absenzenliste des Mädchens wurde länger. «Ich sah keinen Sinn mehr darin, jeden Morgen aufzustehen und mich in die Schule zu schleppen», so Nora. Dieser Zustand sei mit der Zeit so schlimm geworden, dass sie zwischendurch dachte: «Eigentlich möchte ich mit allem Schluss machen.»

Mitte November hat die Stiftung Pro Juventute ein Update zu ihrem Corona-Report vom Februar veröffentlicht. Der aktuelle Bericht zeigt Alarmierendes. Der Beratungsbedarf hat deutlich zugenommen. Waren es vor der Pandemie noch durchschnittlich vier Kinder, die mit dem Thema Suizid an die Beratungsstelle gelangten, so sind es heute sieben am Tag. Dieses Jahr mussten die Fachpersonen bis im September bereits 100 Mal die Ambulanz alarmieren, um Leben zu retten. Im Vorjahr war dies 96 Mal nötig.

 

Zweieinhalb Monate warten

In der Erziehungsberatungsstelle des Kantons Bern (EB) in Biel finden Kinder und ihre Eltern psychologische Hilfe. Es wird, wann immer möglich, die Familie als ganzes System gestärkt, um mit aktuellen Schwierigkeiten umzugehen. «Wir schauen, was es braucht, versuchen beratend zu unterstützen oder an geeignete Stellen weiter zu weisen, wo es Sinn macht», erklärt Kathrin Hersberger Roos, Co-Leiterin der EB Biel-Seeland und Fachpsychologin für Kinder- und Jugendpsychologie. Die Zusammenarbeit mit Fachpersonen funktioniere eigentlich gut, führt Hersberger weiter aus, doch der Bedarf sei schon lange und insbesondere seit Pandemiebeginn grösser als die Kapazität. Sowohl frei praktizierende Psychologinnen und Psychologen, als auch kinder- und jugendpsychiatrische Praxen seien stark ausgelastet.

Das musste auch der 17-jährige Markus* aus Biel erfahren. Er 
fiel letzten Frühling in eine depressive Krise und brach seine Ausbildung ab. «Ich zog mich vollkommen aus dem Leben zurück und verlor die Tagesstruktur», so der junge Mann. Weil er keine Suizidgedanken hatte, galt er nicht als Notfall. Bis Markus endlich eine Psychologin fand, die freie Kapazitäten hatte, vergingen zweieinhalb Monate.

 

Plätze für Notfälle

Für akute Situationen sei rasches Handeln auch heute noch gewährleistet, wie in Biel durch den Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienst (KJP). In Notfällen finden sich stationäre Therapieplätze. Häufig geht es für Familien auch primär darum, Distanz zu schaffen, um eine Eskalation zu vermeiden. Im Idealfall gibt es dafür im Umfeld des Kindes oder Jugendlichen eine Lösung.

Bei Nora war aufgrund ihrer suizidalen Gedanken klar, dass schnell gehandelt werden musste. «Weil ich nicht gleich einen Therapieplatz erhielt, musste mich ständig jemand begleiten», sagt sie. Schliesslich erhielt sie Hilfe auf der kinder- und jugendpsychiatrischen Station einer Klinik.

Wenn eine unmittelbare Gefährdung besteht, ist eine stationäre Platzierung des Kindes wichtig. In Bern gibt es zum Beispiel die Notaufnahmegruppe für Jugendliche (NAG) und diejenige für Kinder (Kinosch) des Kompetenzzentrums für Jugend und Familie Schlossmatt. Dort bietet man Kindern und Jugendlichen, die in einer akuten Notlage und dadurch gefährdet sind und die weder selbst noch mit ambulanter Unterstützung die Notlage und die Gefährdung bewältigen können, einen stationären Betreuungsplatz.

Eine Gefährdung könne entstehen, weil die Familie mit dem Verhalten des Kindes überfordert ist, und die Bewältigungsversuche ungeeignet sind und es somit gefährden. Auch wenn Familiensysteme nicht mehr angemessen funktionieren und dadurch die Entwicklung des Kindes gefährdet ist, könne eine Notplatzierung Sinn machen, fasst Mona Gross, Leiterin der Notaufnahmegruppen, die Gründe für eine Aufnahme der Kinder und Jugendlichen zusammen.

Besonders schwierig ist die Situation für Jugendliche, die jegliche Struktur verloren haben, die die Schule nicht mehr besuchen oder die Lehre nicht mehr bewältigen können. Oftmals sei diese Problematik gekoppelt an psychische Beschwerden und Suchtverhalten.

 

Ablenkung durch Schulbetrieb

Solche Zusammenhänge, vor allem in Bezug auf Schulschliessungen, bestätigt auch Barbara Fiorucci, Psychologin mit eigener Praxis in Biel. Sie erinnert sich: «Absolut schwierig war der Frühling im letzten Jahr für die Jugendlichen. Durch das Wegfallen der Tagesstruktur haben besonders diejenigen ihren Halt verloren, deren Eltern nicht präsent waren oder die aufgrund eines problematischen sozialen Kontexts froh gewesen wären, durch den Schulbetrieb Ablenkung zu erfahren.»

Themen, die Fiorucci seit Pandemiebeginn öfters begegnen, sind soziale Phobien, etwa Ängste, mit vielen Menschen auf engem Raum zusammenzukommen, wie in einer überfüllten Einkaufsstrasse, aber auch Suchtthematiken rund ums Essen und Gamen. Viele Jugendliche hätten bis heute nicht mehr viele Verbindlichkeiten und Regelmässigkeiten in ihrem Alltag, dies verstärke, dass sie sich unverbunden und auch isoliert fühlen.

Das Pandemiegeschehen und damit verbundene Existenzängste hätten die Gewaltbereitschaft in einigen Familien erhöht. Was dadurch losgetreten wurde, lasse sich nicht so rasch wieder lösen. «Vielerorts ist das Thema bis heute noch nicht wirklich entschärft», so Fiorucci.

Die Erfahrung der EB Biel ist, dass besonders Kinder und Jugendliche, die bereits vorher an Angststörungen oder anderen psychischen Leiden gelitten haben, seit der Pandemie vermehrt leiden. Für Familien, die generell auf wenige Ressourcen zurückgreifen können, Einelternfamilien etwa, waren die Schwierigkeiten, die sich mit Aufkommen des Coronavirus neu gestellt haben, verheerend.

Angst um die Stelle, das Wegfallen der Betreuung durch die Grosseltern sowie enge Verhältnisse in der Wohnung während Lockdown und Quarantäne brachten Strukturen ins Wanken. Vieles davon habe sich zwar bis heute wieder normalisiert, doch manche Nachwirkung all dieser Problematiken beschäftige Betroffene bis heute. «Was ich mir wünschen würde und wir hier leider nicht bieten können, wäre es, den Eltern Auszeiten zu verschaffen, in denen sie neue Kraft tanken könnten», meint Hersberger von der EB.

 

Was ist zumutbar?

Wie sieht es nun also aus, wenn es sich nicht um eine Notfallsituation, jedoch um ein dringend therapiebedürftiges Kind handelt? Kann ihm zugemutet werden, Wochen oder Monate auf eine Psychotherapie zu warten? Aktuell entspricht dies noch häufig der Realität. So sieht es auch Sozialarbeiter Thomas Bickel. Der Sozialpädagoge arbeitet als Schulsozialarbeiter und ist stellvertretender Leiter der Kinder- und Jugendfachstelle Lyss (KJFS). Er sagt: «Bei akuten Krisen ist es nicht einfach, dass jemand schnell Hilfe bekommt. Die Niederschwelligkeit ist nicht gewährleistet. Doch das war bereits vorher eine Baustelle.»

Pro Juventute schreibt in ihrem aktuellen Fachbericht, dass die ambulanten psychiatrischen Dienste im Kanton Bern seit 2019 fast eine Verdoppelung der Notfallkonsultationen verzeichnen.

Sowohl Nora als auch Markus haben darunter gelitten, dass sie so lange auf fachliche Hilfe warten mussten. Zudem empfanden sie den Behördenmarathon als enorm anstrengend. »Es war eine sehr dunkle Phase in meinem Leben, in der ich nicht fähig war, nach vorne zu schauen», so Markus. Und Nora betont, wie belastend die Situation auch für die Familie war, die in der gesamten Zeit sehr viel mitgetragen habe. Besserung bezüglich der Kapazitäten für ambulante Psychotherapien erhoffen sich nun viele involvierte Stellen und Fachpersonen davon, dass im Sommer 2022 das neue Anordnungsmodell in Kraft tritt. Es wird auch frei praktizierenden Psychotherapeutinnen und -therapeuten erlauben, auf ärztliche Anordnung ihre Sitzungen über die obligatorische Grundversicherung der Krankenkasse abzurechnen, was zumindest eine Hürde abbaut.

 

Erste Ansprechpersonen

Als erste Ansprechpartner für die Sorgen der Kinder und Jugendlichen, gerade an den Seeländer Schulen, amten die Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeiter der Jugendfachstelle in Lyss. Sie bieten unbürokratische Hilfe, unterstehen der Schweigepflicht und können auch denen helfen, die nicht möchten, dass die Eltern informiert werden. Die Sprechstunden der Jugendfachstelle sind schon lange sehr gefragt.

Auch hier zeigt sich dasselbe Bild; während viele Kinder, meist die, die ein stabiles familiäres Umfeld haben, die Veränderungen durch die Pandemie gut wegstecken, hat sich die Situation ohnehin schon vulnerabler Kinder verschlimmert. Themen wie Zukunftsängste, Stress bei der Berufswahl, Selbstwert, Körper und Entwicklung sind dominierend. Klinische Störungen wie Depressionen und Selbstverletzung haben zugenommen. «Je nach Fall knüpfen wir Kontakte mit der EB, dem KJP, Psychologen, Psychiatern und Ärzten. Wenn die Familiensituation sehr schwierig ist, braucht es manchmal den Sozialdienst, eine Familienbegleitung oder die Kesb», erklärt Thomas Bickel.

Die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter der Jugendfachstelle sind in den Schulen Ansprechpersonen für die heikleren Themen. Sie unterrichten in den Klassen Workshops, etwa zum Thema Sexualität, Sucht oder Medienprävention. Gibt es in einer Klasse Probleme, werden sie zu Hilfe gerufen.

 

Aus der Ohnmacht hinaus

Präventiv scheint die Stärkung des gesamten Familiensystems, der Ressourcen und Resilienz von hoher Wichtigkeit zu sein, wie sich zusammenfassend sagen lässt. In der Therapie setzt Psychologin Fiorucci unter anderem auf Wahrnehmungs- und Atemübungen, Rollen- und Gestaltdialoge. «Durch eine verbesserte Selbstwahrnehmung und das Benennen von diffusen Ängsten und Stressfaktoren können die Betroffenen aus dem Gefühl der Ohnmacht wieder in die Handlungsfähigkeit zurückgeführt werden», erläutert sie.

In ihrem aktuellen Positionspapier fasst die Pro Juventute zusammen: «Die jetzt sichtbaren Probleme sind nicht nur eine direkte Folge der Corona-Pandemie, sondern von jahrelangen Versäumnissen im Bereich der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen – trotz vieler Warnzeichen.» Die Organisation fordert daher eine Stärkung der kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgungsstruktur und anderer Hilfsangebote, damit eine angemessene Triage vorgenommen werden kann.

Alle, die mit Kindern und Jugendlichen zu tun habe, sei es in der medizinischen Grundversorgung, im Schul- oder Freizeitbereich, sollen besser geschult und sensibilisiert werden. «Dafür braucht es zusätzliche Ressourcen der öffentlichen Hand. Sparpakete auf Kosten von Angeboten und Programmen für die Jugendlichen sind nicht vertretbar!», schreibt Lulzana Musliu, Mediensprecherin von Pro Juventute.

Schulsozialarbeiter Thomas Bickel plädiert indes auf Mitwirkung: «Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die Bedingungen für die jüngste Generation zu verbessern. Kinder haben eine andere Wahrnehmung ihrer Lebenswelt. Wir sollten nachfragen, ihre Sichtweise in Änderungen dieser Lebenswelt miteinbeziehen, dann könnten wir ihnen auch besser gerecht werden. Kinder sollten geschützt aufwachsen, damit sie eine faire Chance für eine gute Zukunft haben.»

Markus steht nun auf der Warteliste für ein stationäres Angebot. Erster freier Termin: Ende Februar, Anfang März 2022. Nora wohnt heute in einer Einrichtung für sozialpädagogisch betreutes Wohnen. «Mir geht es gut, ich fühle mich integriert. Ich habe in den letzten Monaten viele Strategien gelernt, die mir helfen, wenn mich das Leben wieder mal überfordert.» Und wie sieht es mit den Suizidgedanken aus? «Ich denke, ich bleibe noch ein Weilchen», sagt sie und grinst.

* Namen der Redaktion bekannt

 

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Wenige Angebote für junge Erwachsene

Jugendliche und junge Erwachsene befinden sich in einer besonders krisenanfälligen Phase, die in der Fachsprache auch Transition oder Adoleszenz genannt wird. Es geht um den Abschied von der Kindheit, um die Ablösung von den Eltern und den Weg in die Selbständigkeit. Sie werden autonom, entwickeln ihre Persönlichkeit und Identität, machen oder planen eine Ausbildung und beschäftigen sich mit der Zukunft.

Viele erleben gerade in dieser heiklen Lebensphase eine Krise, aus der sie alleine nicht mehr herausfinden. Doch wie eine vom Bundesamt für Gesundheit in Auftrag gegebene Studie aus dem Jahr 2020 zeigt, gibt es in der Schweiz nur wenige stationäre und tagesklinische Angebote, die speziell auf die Bedürfnisse von jungen Erwachsenen bis 25 Jahre zugeschnitten sind und einen sogenannten transitionspsychiatrischen Fokus verfolgen. Für psychisch kranke junge Erwachsene besteht laut der Studie eine kritische Angebotslücke, sowohl was stationäre Institutionen wie auch eine grundsätzliche Versorgung betrifft. Die heute in der Schweiz bestehenden Angebote im stationären und tagesklinischen Bereich seien bei Weitem nicht ausreichend, so das Fazit der Studienverfasserinnen. Einen kleinen Lichtblick sehen sie: «Immerhin richten sich in den letzten Jahren vermehrt Angebote spezifisch an junge Erwachsene und ihre Sonderbedingungen in der Adoleszenz.»

Handlungsbedarf sehen die Verfasserinnen auch bei der Unterscheidung minderjährig/ volljährig. Denn ab dem 18. Geburtstag, also für die meisten mitten in der heiklen Phase, verändert sich für die betroffenen Personen so einiges: Gesetzlich, tariflich, fachlich und versorgungstechnisch fallen die Patientinnen plötzlich in andere Kategorien, müssen die stationäre Abteilung oder den Psychologen wechseln und werden durch andere Modelle oder Behörden finanziert. Nur vereinzelt bestehe bei altersdurchlässigen Angeboten ein integriertes Zusammengehen von Kinder- und Jugendpsychiatrie (KJP) und Erwachsenenpsychiatrie (EP), ist der Studie weiter zu entnehmen. sz

Info: «Stationäre und tagesklinische Angebote der psychiatrischen Gesundheitsversorgung an der Schnittstelle des Jugend- und Erwachsenenalters in der Schweiz.» Eine Bestandesaufnahme bestehender Angebote im Auftrag des BAG. Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften Departement Angewandte Psychologie. Januar 2020.

 

Hilfreiche Links

  • E-Mail Beratung der Erziehungsberatungsstellen des Kantons Bern: 
www.frageinfach.ch
  • Gesundheitsberatung für Jugendliche, Eltern und Lehrpersonen: www.feel-ok.ch
  • Beratung für Kinder und Jugendliche, rund um die Uhr, Pro Juventute: www.147.ch
  • Kinder- und Jugendfachstelle Lyss: www.kjfs-lyss.ch

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