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Interview

«Es ist schwierig,
 aussichtslos und traurig»

Korrupte Eliten, tausende resignierter Auswanderer jedes Jahr, ein massives Flüchtlingsproblem und die tägliche 
Angst vor einem neuen Krieg: Der 
SRF-Balkanexperte Christoph Wüthrich 
sieht wenig Hoffnung für Bosnien und Herzegowina.

Christoph Wüthrich hat Bosnien in den letzten Jahren für diverse Radio-Reportagen besucht. Bild: zvg

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Christoph Wüthrich, ist Bosnien ein gescheiterter Staat?
Christoph Wüthrich: So weit würde ich nicht gehen. Aber Bosnien befindet sich in einer schwierigen Situation, in der sehr vieles nicht funktioniert.

Was sind die grössten Probleme?
Wie andere Balkanländer wird Bosnien von Leuten beherrscht, die im Krieg reich und mächtig geworden sind. Die drei Bevölkerungsgruppen des Landes, die Bosniaken, Kroaten und Serben, sprechen zwar dieselbe Sprache, gehören aber nicht derselben Religion an. Jede Gruppe verfügt über eine eigene Elite. Diese Klüngel halten sich an der Macht, weil sie ständig die Ängste vor einem neuen Konflikt schüren und sich selbst als beste Kämpfer für die nationalen Interessen in Szene setzen. Ein grosser Teil der Wirtschaft befindet sich in den Händen dieser Kreise. Sie können darüber entscheiden, wer Arbeit erhält. Wegen dieser Abhängigkeit gewinnen die führenden nationalistischen Parteien auch immer wieder die Wahlen. Die Eliten sind höchst korrupt. Es geht ihnen bloss darum, sich an der Macht zu halten und zu bereichern und nicht darum, die Probleme des Landes zu lösen. Deshalb blockieren sie die Politik im Land. Theoretisch befindet sich Bosnien ja in einem Annäherungsprozess an die EU, aber dieser kommt nicht vorwärts. Die Politiker sagen zwar, die EU sei ihr Ziel, in Tat und Wahrheit machen sie aber gar nichts.

Der nationalistische Kurs lässt sich nicht wirklich mit einem Interesse an einem EU-Beitritt vereinbaren.
Ich glaube nicht, dass die Politiker wirklich in die EU wollen. Sie haben sicher ein Interesse an den Unterstützungsgeldern, die jetzt schon fliessen, und daran, sich in diesem Prozess zu befinden. Aber sie würden ihre Macht verlieren oder sogar im Gefängnis landen, wenn Bosnien zum EU-tauglichen Rechtsstaat würde.

Wie sieht es mit Oppositionsparteien aus?
In Sarajewo und in einigen Kantonen haben die Nationalisten nach den letzten Wahlen vom Oktober nicht mehr die absolute Mehrheit. Jetzt versuchen staatsbürgerlich orientierte, nicht nationalistische Parteien, eine Mehrheit zusammenzukriegen. Das Problem ist das Verfassungssystem, das das Abkommen von Dayton mit sich gebracht hat, weil es zwar die Gleichberechtigung der drei Bevölkerungsgruppen garantiert, damit aber auch das nationalistische Denken zementiert. Um sich davon befreien zu können, müsste das Dayton-Verfassungssystem überwunden werden.

Halten Sie einen Zerfall Bosniens für möglich?
Das kann man nicht ausschliessen. Vor allem der Serbenführer Milorad Dodik droht immer wieder damit, die Republika Srpska abzuspalten. Ob er das aber effektiv vorhat, ist nicht ganz klar. Es gibt nun auch von kroatischer Seite die Tendenz, sich klarer von den Bosniaken abzugrenzen. Ich glaube aber, dass der Druck von der EU und den USA so hoch gehalten wird, dass es nicht zu einer Abspaltung kommt. Die Ängste aber bestehen.

Gibt es in Bosnien überhaupt noch ein Zusammenleben der drei Gruppen?
Das gibt es schon, aber es ist wegen der ethnischen Säuberungen wesentlich geringer als noch vor dem Krieg. Die Mehrheitsverhältnisse in den jeweiligen Regionen sind heute viel klarer. In der Republika Srpska beispielsweise gibt es heute fast keine Kroaten mehr, und die zurückgekehrten Bosniaken haben aufgrund der Verhältnisse Mühe, wirtschaftlich zu überleben. Am ehesten gibt es das Zusammenleben noch in Sarajewo.

Einst galt Bosnien als moderatestes muslimisches Land. Heute wird befürchtet, dass sich radikale Gruppierungen wie der IS immer mehr breit machen. Wie kam es soweit?
Während des Bosnienkrieges wurden die Bosniaken vom Westen kaum unterstützt. Sie holten sich deshalb Unterstützung von Mudschahedin, also Guerilla-Kämpfern und Missionaren aus arabischen Ländern, die teils ziemlich radikal waren. Der grösste Teil von ihnen hat nach dem Krieg das Land aber wieder verlassen. In Bosnien gibt es heute einen kleinen Kreis von Leuten, die einem radikalen fundamentalistischen Islam anhängen, wie viele von ihnen auch gewaltbereit wären, weiss man nicht. Wenn man die Zahlen der Leute nimmt, die zum IS in den Nahen Osten gegangen sind und diese ins Verhältnis zur gesamten muslimischen Bevölkerung stellt, dann ist der Anteil radikaler Islamisten in Bosnien kleiner als in Frankreich oder Belgien. Rückkehrer wurden vor Gericht gestellt und kamen ins Gefängnis. Auf jeden Fall praktiziert ein grosser Teil der bosnischen Muslime ihren Glauben nicht intensiver als Schweizer Christen.

Das Land ist mit den Tausenden von Flüchtlingen komplett überfordert. Sanela Lepirica erwartet, dass die Situation ab Frühling noch schlimmer wird, wenn mehr Leute von Serbien nach Bosnien einreisen. Wieso schaffen es Staat, Hilfsorganisationen und die EU nicht, die Lage zu entschärfen?
Wegen der drei korrupten Eliten, die sich bereichern und den Staat aushöhlen, ist dieser unfähig, die sozialen Probleme der eigenen Bevölkerung zu lösen – die Armut ist gross in Bosnien. Somit schafft er es erst recht nicht, sich um die Leute aus dem Ausland zu kümmern, die auf der Durchreise sind. Die Machthaber sind froh, dass die Leute in Richtung EU weiterziehen wollen, und legen ihnen dabei sicher keine Steine im Weg.

Haben Sie Kenntnis von Misshandlungen und Enteignungen von Flüchtlingen an der kroatischen Grenze, sprich der Grenze mit der EU?
Die kroatische Polizei geht sehr unzimperlich mit Flüchtlingen um. Als ich im Herbst in Bihać war, haben mir Flüchtlinge erzählt, wie sie verprügelt wurden, wie die Handys kaputt gemacht und ihnen Gepäck und Geld weggenommen wurden.

Also passiert das systematisch?
Das ist schwierig zu sagen, aber es passiert in grosser Zahl, die NGOs haben viele Berichte gesammelt und ich habe es selber gehört. Vor Kurzem hat eine NGO an der Grenze versteckte Kameras aufgestellt und das Verhalten der kroatischen Polizei dokumentiert. Kroatien hat da ein Problem, und es sieht nicht danach aus, als würde dagegen etwas unternommen. Der Staat dementiert die Vorfälle, und kürzlich verbreitete er stolz ein Video, auf dem zu sehen war, wie Grenzwächter eine Gruppe von 15 Leuten aus dem tiefen Schnee gerettet haben.

Tausende Bosnier haben jedes Jahr genug und suchen ihr Glück ebenfalls in Europa – im Unterschied zu den Flüchtlingen allerdings vorbereitet und mit einer Arbeitserlaubnis in der Tasche.
Ein Grossteil von ihnen sind gut qualifizierte Leute, wovon es im Westen zunehmend einen Mangel gibt, im Gesundheitswesen etwa. Viele haben die Hoffnung verloren, dass das Land irgendwann aus der politischen Blockade herauskommt. Man will nicht immer nur Angst haben, dass es aus irgendeinem Grund zu Gewalt kommen könnte.

Sanela Lepirica sagt, in Bosnien spräche jeder jeden Tag von einem drohenden Krieg.
Das spielt den Nationalisten in die Hände, und zwar nicht nur in Bosnien, sondern auch in Kroatien, Serbien, dem Kosovo. Die politischen Eliten schüren die Ängste wie gesagt, um an der Macht zu blieben. Sie wollen wohl keinen Krieg, aber sie können nicht garantieren, dass dieses Spiel eines Tages ausser Kontrolle gerät.

Sie scheinen kaum Hoffung zu haben für das Land.
Es ist schwierig, aussichtslos und traurig. Oft hört man: Alles ist besser, solange nicht geschossen wird. Aber perspektivlos ist es trotzdem.

Interview: Andrea Butorin

Info: Christoph Wüthrich ist Redaktor und Balkanexperte bei Schweizer Radio und Fernsehen.

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