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BT-Schreibwettbewerb

Krümel

von Fabienne Lehmann

Bild: Matthias Käser
  • Dossier
Diese Geschichte ist anderen Geschichten so ähnlich,
dass es ebenso ein Grund ist,
sie zu erzählen,
wie es bleiben zu lassen. 
 
Es ist die Geschichte einer Familie,
die es nicht mehr gibt. 
Die Geschichte eines Wohnzimmertisches ohne Stühle,
ausgeräumter Bücherregale
und fehlender Teetassen. 
Die Geschichte einer Familie,
ähnlich wie viele andere
in ihrem Bemühen
und letztendlichen Scheitern. 
Die Geschichte von Sonntagsbesuchen
in fremden Küchen,
in denen bekannte Stühle an unbekannten Tischen
und vertraute Tassen in unvertrauten Regalen standen. 
In denen altbekannte Gesichter
die altbekannten Lügen lächelten. 
 
Es ist die Geschichte eines Kindes, 
ein Kind,
das vieles für mich war.
Meine kleine Schwester, 
mein Computerpasswort,
mein Untergang. 
 
Es ist ihre Geschichte
und damit auch die unsere.
Es ist ihr «fuck you» an unsere Familie,
ihr Mittelfinger in unserem Gesicht. 
 
Sie war ein Kind,
gefangen 
in einer Familie,
einem Körper, 
einer Welt,
die ihr nicht gehorchten. 
Sie war das Kind,
das uns auf die Knie zwang,
uns den Pistolenlauf gegen die verschwitzte Schläfe drückte,
stumm,
ohne zu sprechen,
nur das Klicken des Entsicherns, 
das sich durch unseren Schädel bohrte. 
Zitternd und heulend machten wir Versprechen,
die wir nicht hielten,
gaben uns zuversichtlich,
ohne zu glauben,
bis sie verstand,
dass wir nicht verstanden,
bis sie, 
getrieben,
es noch weiter trieb,
die Waffe drehte
und abdrückte.
 
Diese Geschichte ist anderen darin ähnlich,
dass sie viele Anfänge
und ebenso viele Enden hat. 
Sie könnte bei der Hochzeit beginnen
oder erst bei der Scheidung,
bei der Geburt 
oder dem Sterben. 
Ich beginne sie hier,
zu einem Augenblick,
als sie viele schon für beendet erklärt hatten. 
Als Mütter ausgezogen
und Väter zurückgeblieben waren. 
Als das Schlimmste als überstanden
und wir als heilgeblieben erklärt worden waren. 
Wir nicht mehr die Kinder unserer Eltern,
sondern die einer Scheidung waren,
als wäre sie unser neuer Vormund,
der von nun an unsere Geschichte erzählte. 
Der die Geschichten vieler Kinder erzählt,
die sich in dieser eintönigen Erzählstimme
alle ähneln. 
Diese Stimme spricht von Normalität,
von Quoten und Raten,
die diese Realität,
die Realität ihrer Kinder,
als normal 
und damit aushaltbar verkauft. 
Und die Leute kaufen sie in Massen. 
Werfen ihr das Geld vor die Füsse,
schaufeln Münzen aus ihren Taschen,
nur, um sich dieses Stückchen Normalität mitzunehmen
und es ihren Kindern 
vor die Nase zu halten,
der Beweis,
dass es ihnen gar nicht schlecht gehen kann. 
 
Auch die Eltern dieser Geschichte haben sie gekauft,
diese Normalität. 
Doch es gab ein Kind,
ein Kind in dieser Geschichte,
das sie nicht schlucken wollte. 
Und so zog mich 
die zurückgebliebene Hälfte dieser Eltern
ins Schlafzimmer 
und drückte ein Blatt Papier 
in meine Hand. 
«Ich denke, du solltest das lesen.» 
Irritiert blickte ich auf die geschriebenen Zeilen,
erkannte 
ihre Handschrift. 
«Es lag auf dem Wohnzimmertisch. Es war wohl nicht für mich zum Lesen bestimmt. Aber es lag halt da, 
und ...» 
Und
ich las. 
Ich las die Welt zu porösen Krümeln. 
Ich las Löcher in den Boden hinein, 
brachte die Decke zum Einstürzen. 
Las, 
bis sich das Haus schüttelte wie ein nasser Hund, 
bis nur noch Trümmer und Splitter zurückblieben. 
Alles zerfiel,
die Welt,
ich,
nur das Blatt in meiner Hand 
blieb heil. 
Ausgerechnet diese Worte,
von säuberlicher Kinderhand geschrieben,
lösten sich nicht auf,
zerfielen nicht zu Staub. 
Sie waren das Einzige, 
das blieb. 
Das Einzige,
das alles andere überdauerte. 
Sie zerfielen nicht mit dieser Welt,
weil sie zu einer anderen gehörten. 
Einer Welt,
in der kleine Schwestern das Kleinsein verlernen. 
Ein paar Worte hatten die alte Welt zerstört 
und liessen uns keine andere Wahl, 
als in diese Neue einzutreten. 
Ein paar Worte hatten endgültig vernichtet,
was noch gerade so bei schwachem Atem am Leben gewesen war. 
Ein Kind hatte diesem röchelnden Familienwesen 
den gnadenlosen Todesstoss gegeben,
anstatt es noch weiter leiden zu lassen. 
Hatte beendet,
was schon lange am Ende war. 
 
Schon vor Wochen hatte sie heimlich begonnen,
in die neue Welt vorzudringen. 
Eine Forscherin war sie gewesen. 
Eine Forscherin auf unbekanntem Terrain. 
Ihr Schuh schabte über den Boden,
klopfte sacht darauf,
lauschte,
holte aus 
und rammte ihre Ferse hinein. 
Ein kleines Loch hatte sich aufgetan,
darunter war es dunkel. 
Auf allen Vieren bückte sie sich darüber,
zerrte an den brüchigen Rändern, 
bis ihre Hände bluteten.
Durch dieses Loch war sie nun geschlüpft,
bevor wir ihr Entschwinden bemerkt hatten. 
Liess uns keine andere Wahl, 
als geduckt 
und auf allen Vieren 
hinterher zu kriechen. 
Durch diesen Durchgang,
zu gross für ein Kind,
zu klein für Erwachsene,
tappten wir im Dunkeln,
tasteten nach uns,
Glieder griffen Glieder,
ein Klumpen Menschenkinder.
Versuchten, zu sprechen,
in einem Raum, zu gross für Geflüster,
zu klein für Rufe, 
und stolperten schliesslich hinaus, 
mitten hinein in ein Spiel,
das wir nicht zu spielen wussten. 
Mein Blick schweifte umher
an diesem fremden Ort,
vom Blatt 
in sein unleserliches Gesicht. 
 
Wollte sie sterben? 
Sie sagte Nein. 
Sagte, sie habe alles im Griff,
sagte, dass sie aufhöre, bevor es zu schlimm werde. 
Mit jeder Stunde ohne Essen drang sie weiter vor,
erweiterte die Grenzen
dieser neuen Welt,
ihres Körpers,
als wartete sie auf eine Linie,
einen Zaun,
eine Mauer,
die ihr zeigen würden,
dass hier Schluss sei. 
Doch all die Grenzen, die ihr begegneten, ignorierte sie stur.
Riss Stacheldrahtzäune mit blutigen Fingern nieder,
watete durch schlammige Gräben,
tanzte über Minenfelder,
immer weiter,
getrieben, 
weil bleiben
noch schlimmer wäre 
als dieser Todesmarsch. 
 
Sie war das Echo unserer Familie,
das wir entsandt hatten 
und das uns nun entgegenschlug,
schrill,
zitternd
drangen ihre Schreie
durch das Haus. 
Zuerst laut und erschütternd, 
bis sie brüchig wurden 
und wie Regenwasser im Schluchzen versickerten. 
«Du darfst in die Schule, wenn du etwas gegessen hast.»
Keinen Hunger hatte sie,
sagte sie,
schrie sie,
während sie zu Boden sank,
Stimme und Beine dünn und schwach.
Noch nie hatte ich sie so schreien gehört. 
Wütend, ja. 
Frustriert,
immer laut,
stark,
sicher.
Doch nun klangen ihre Schreie,
als würde sie jemand auseinanderbrechen 
und in den Händen zu Krümeln zerreiben.
«Ich lass dich so nicht in die Schule. Du kippst mir vom Stuhl.» 
Sie flehte,
bettelte,
schreiend,
weinend,
wie die Flut gegen den Felsen 
prallte sie gegen ihn.  
Und auf einmal,
in diese von Tränen und Verzweiflung schwere Gischt,
hörte ich ihn
im Wellental der Schluchzer,
zwischen Ekstase und Erschöpfung,
hörte ich
meinen Namen,
vermischt in das dunkle Wasser
rief sie nach mir,
die stumm da stand,
am Treppenabsatz,
die Hand auf den Mund gepresst,
gekrümmter Rücken, 
verzerrtes Gesicht,
und nichts tat,
sie im Stich liess.
Wie du mir, 
so ich dir.
Kleine Spuren hatte sie uns gelegt,
Hinweise,
die ihren Aufbruch verkündeten.
Die Waage unter ihrem Bett.
Die Weihnachtskekse, 
an denen sie nur roch,
wie sie an allem nur noch roch,
um es dann 
ungegessen
zurück auf den Teller zu legen.
Die etlichen Tassen Grüntee,
die sie trank,
um den Heisshunger
zu ersäufen.
Und als wir sie nicht sahen,
ihre Zeichen,
ihre Warnungen,
schrieb sie sie 
in Sätzen und Worten
auf Papier
und liess sie auf dem Tisch zurück,
ein kleiner Brief
zum Abschied. 
 
Ich besuchte sie im Krankenhaus. 
Pilgerte den Berg hinauf,
an dem das Spitalzentrum lag,
und fand sie 
in einem weissen Bett, 
in einem weissen Zimmer, 
ein Gesicht aus Schatten. 
Das Lächeln wie gezeichnete Falten, 
die nicht dahin passten. 
Schwebend zwischen Kindheit 
und Tod.
Ausgezehrt
wie eine alte Frau nach einem langen, anstrengenden Leben,
ausgemergelt,
als fresse sie sich selbst,
als sei sie innen schon ausgehöhlt,
die blasse Haut
nur noch eine dünne Hülle,
ein samtener Vorhang,
hinter dem,
wenn er fiel,
nichts mehr blieb. 
Wir haben beide gelächelt,
gaben uns unbeschwert,
als gäbe es keinen Grund, traurig zu sein. 
Sie war zu schwach, um lange zu sitzen,
zu schwach zum Sprechen,
lag in dem sich verstellbaren Bett,
das sich surrend bewegte,
als würde es gleich wie ein Buch zusammenklappen 
und sie verschlucken.
 
«Machst du Pizza auf meinem Rücken?» 
Wie früher,
als sie noch das Kind war,
legte sie sich auf den Bauch, 
und ich begann zu kneten.
Knetete die dünne Haut, die auf ihren Rippen lag,
strich die Sosse über die hervorstehenden Hügel der Wirbelsäule,
rieselte den Käse über die spitzen Schulterblätter,
rieb schnell über ihre Schultern,
die Oberarme,
den Rücken,
bis sie die Wärme,
ihren Körper 
und was davon übrig war,
wieder spürte.
 
Das Lächeln liess ich in ihrem Zimmer zurück,
das Kind und das Lächeln blieben dort,
während ich ging,
durch den Gang,
die Drehtür,
den Berg hinab,
Richtung Stadt,
wie von einer Lawine 
von dem schlechten Gewissen geschoben,
froh zu sein,
gehen zu können,
die Mörderin meiner Schwester
nicht mehr sehen, 
nicht mehr anlächeln zu müssen,
stolperte ich blind talwärts,
ihre dürren Finger über meinen Augen,
dunkle Striche,
in deren Schwärze all das lag,
was ich nicht sehen wollte. 
Worauf wartete sie?
Dass sich die Wunden dieser Familie wieder schlossen,
indem sie neue in ihr Fleisch schnitt?
Dass sie grosse Arme fassten,
ein Flüstern
an ihrem Ohr,
dass alles gut werde?
Doch all unsere Umarmungen,
all unsere Küsse 
und Versprechen,
waren zu klein,
weil sie zu gross für sie geworden war. 
 
Wie geschlagene Hunde 
schlichen wir um sie herum,
warteten auf die Erlösung dieses qualvollen Wartens,
das nur sie uns bescheren konnte. 
Doch das tat sie nicht. 
Knabberte ihre vier Darvida pro Tag,
kippte das Krankenhausessen ins Klo,
lachte
und weinte,
trunken vor Macht
und Verzweiflung. 
 
Vor ihrem Ende
war es am Ende 
kein mächtiges Wort,
keine heroische Geste,
sondern 
nur 
ein schmaler Schlauch,
der sie zum Stehen brachte. 
Ein kleines Plastikrohr,
das sich ihren Hals hinab
bis zum Magen schob. 
Eine Sonde
auf Mission,
entsandt 
von der Erde,
die ihr zeigte,
dass diese Welt, 
dieses Kind,
hier enden würden,
wenn sie nicht stehen blieb. 
 
Und so hielt sie 
zum ersten Mal
inne
und sah sich um.
Betrachtete
den Abgrund vor
und unsere erschöpften Gesichter
hinter sich
und machte
einen kleinen Schritt
auf uns zu. 
 
Es ist die Geschichte einer Familie,
einer Kindheit,
die es nicht mehr gibt,
und doch erzähle ich hier von ihr. 
Und es stellt sich mir die Frage,
ob es das Ende 
oder der Anfang ist,
den ich hier aufschreibe. 
Ob es die letzten
oder ersten Schritte sind,
die wir
in dieser neuen Welt
gemeinsam
oder alleine gehen. 
 
Diese Geschichte ist anderen Geschichten so ähnlich,
dass es ebenso ein Grund ist,
sie zu erzählen, 
wie es bleiben zu lassen. 
Ich bin froh, die Wahl zu haben, sie aufzuschreiben.
Ich hoffe, dass sie sich die Wahl lässt,
sie zu lesen
oder nicht. 
 
Info: Fabienne Lehmann lebt in Biel. Sie wurde 1996 in Biel geboren und ist in Oberwil aufgewachsen. Nach der Matura absolvierte sie das Bachelorstudium in Geschichte und Religionswissenschaft an der Universität Basel. Seit Herbst 2020 studiert sie am Literaturinstitut in Biel.
Stichwörter: Schreibwettbewerb

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