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Verbrechen

Um ein Haar entkommen

Es gab keine Leiche, nur Indizien und ein verdächtiges Haar im Auto: Dennoch wurde Theodor Weber, der «Raubmörder vom Bielersee», 1956 schuldig gesprochen. Die erste Folge der Serie «Historische Kriminalfälle».

Vor dem Zürcher Schwurgericht wird der Hillman-Mietwagen, in dem Gustav Eichenwald entführt worden war, untersucht. Bild: Keystone
  • Dossier

Irene Widmer, sda

Am 15. September 1956 bildete sich vor dem Gerichtsgebäude in Zürich eine Schlange, so lang wie heutzutage am Erstverkaufstag des neuesten iPhones. Ein «Mord ohne Leiche» sollte verhandelt werden: Der Wiener Kaufmann Gustav Eichenwald war am 16. Oktober 1953 nachmittags um vier letztmals gesehen worden, als er mit einer Tasche voller Bargeld (etwa 200 000 Franken) eine Zürcher Bank verliess. Er wollte Theodor Weber einen grösseren Posten Uhren abkaufen.

Der wegen Eigentumsdelikten sieben Mal vorbestrafte Angeklagte hatte am Tag zuvor in Biel, seinem letzten Wohnort, einen Revolver gekauft und am Morgen nach Eichenwalds Verschwinden akribisch seinen Mietwagen, einen Hillman, gereinigt. Wieder einen Tag später zahlte der abgebrannte Weber bei verschiedenen Gläubigern Schulden in der Höhe von insgesamt 130 000 Franken zurück. Für den Mann und die Frau von der Strasse ein klarer Fall.

 

Ist Eichenwald 
überhaupt tot?

Doch würden die Indizien reichen, fragten sich Publikum und Presse? Zumal Eichenwald theoretisch gar nicht tot war? Am 
5. Oktober 1956 dann die Erlösung: Die Geschworenen beantworteten einstimmig alle Punkte auf dem Fragebogen mit «Ja». Weber erhielt lebenslänglich. Ausschlaggebend war ein im Hillman gefundenes Haar, das mit einer Wahrscheinlichkeit von 1:50 000 von Eichenwald stammte.

Nachdem Weber zu seiner Entlastung immer wieder neue Geschichten zusammenfabuliert hatte, wehrte er sich am Schluss nicht mehr gross. Er reichte noch halbherzig das Rechtsmittel einer kantonalen Kassationsbeschwerde ein – ohne Unterstützung seines Anwalts und ohne Begründung. Sie dürfte folgenlos geblieben sein, denn danach wurde in den Medien nie wieder über den «schönen Theo», den Lügenbaron und Raubmörder vom Bielersee, berichtet.

 

Nidauer Möbelhändler 
deckt den Täter

Beinahe wäre er davongekommen. Denn bei der ersten Einvernahme präsentierte er ein wasserfestes Alibi. Der tadellos beleumundete Möbelhändler Paul Scheidegger aus Nidau bezeugte, Weber habe am Abend des 16. Oktober 1953, dem Tag von Eichenwalds Verschwinden, zusammen mit seiner Braut bei ihm Möbel ausgesucht.

Bei einer Hausdurchsuchung in einem anderen Zusammenhang fiel den Beamten das luxuriöse Interieur in Theodor Webers Wohnung auf. Der angeblich mittellose Kleinganove wurde noch einmal unter die Lupe genommen. Es zeigte sich, dass die Einvernahme des Zeugen Scheidegger telefonisch erfolgt war. Auge in Auge knickte der Möbelhändler sofort ein.

Weber habe angegeben, in Bregenz in der vorherigen Nacht einen Baumputzer angefahren zu haben. Nachdem er dem Verletzten ein paar Tausender in die Hand gedrückt und ihn nach Hause gefahren habe, habe dieser auf eine Anzeige verzichtet. Nur sei halt jetzt der Hillman ein bisschen dreckig, ob er ihn vor Scheideggers Geschäft putzen dürfte?

Der Möbelhändler hatte nichts dagegen, und Weber schrubbte zusammen mit Walter Stützle – einem alten Knastbruder, der ihm den halblegalen Uhrenhandel beigebracht hatte – Innen- und Kofferraum des Wagens aufs Gründlichste. Die beiden Kumpane verbrannten sogar die Fussmatten und schickten einen von Scheideggers Angestellten neue kaufen.

 

Stützles Erbrochenes reichte nicht als Alibi

Als all das im Januar 1955 bekannt wurde, war seit der Tat schon über ein Jahr vergangen. Dennoch wurde bei der Untersuchung des Hillman unter dem Beifahrersitz eine alte Blutkruste gefunden. Die Polizei befragte alle ehemaligen Mieter des Autos zum Thema Blut. Einer hatte sich in den Finger geschnitten. Er war der einzige ausser Weber, der «blutige» Erfahrungen im Hillman gemacht hatte.

Nun ersetzte Weber den Bregenzer Baumputzer mit einer neuen Version: Der magenkranke Knastbruder Stützle – er war schon vor der Einvernahme an einem Zwölffingerdarmgeschwür gestorben – soll im Auto Blut erbrochen haben.

Das widerlegte Doktor Max Frei vom gerichtsmedizinischen Institut in Zürich: Erbrochenes enthalte immer Stärke, und solche wurde in der Kruste nicht gefunden. Ausserdem stimmte Stützles Blutgruppe nicht mit jener des eingetrockneten Blutrests überein.

Vollends zum Prozesshelden avancierte Frei mit der Analyse eines Haares, das in der Blutkruste eingebettet war. Obwohl DNA-Analysen damals noch nicht möglich waren – die erste Verurteilung aufgrund eines genetischen Fingerabdrucks erfolgte 1987 in England – konnte Frei das Haar allein aufgrund mikroskopisch erkennbarer Merkmale mit einer Wahrscheinlichkeit von mindestens 1:50 000 Eichenwald zuordnen. Besonders überzeugend: Das Hillman-Haar war schwarz gefärbt – wie die Vergleichshaare aus Eichenwalds Wiener Wohnung.

 

Fehlerhafte Gutachten 
des Biologen

Jahre später meldeten sich Zweifel an Doktor Freis Kompetenzen: Der «Beobachter» wies ihm 22 fehlerhafte Gutachten nach. Allerdings betrafen diese fast ausschliesslich Echtheitsexpertisen für Streichinstrumente. Das war ein Steckenpferd von Max Frei – obwohl er als Biologe dafür tatsächlich nicht qualifiziert war.

Und auch auf den Zürcher Polizeileutnant Fritz Pfister, der mit «tüpflischiisserischen» Massenbefragungen den Fall Eichenwald massgeblich vorangebracht hatte, fiel noch einmal Scheinwerferlicht: Kurz nach Prozessende angelte ein Fischer aus dem Nidau-Büren-Kanal ein Schädelfragment mit einer Perforation, die wie ein Einschussloch aussah. Es war gemäss Gerichtsmedizin nicht von Eichenwald.

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