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Corona-Massnahmen

«Jetzt muss der Staat seine Position ändern»

Man müsse nun dazu übergehen, Corona wie andere Krankheiten zu behandeln, sagt der bernische Gesundheitsdirektor Pierre Alain Schnegg. Das bedeutet Änderungen bei den Regeln.

«Wenn wir das Isolations- und Quarantänesystem nicht anpassen, generieren wir ein neues Problem», sagt Regierungsrat Pierre Alain Schnegg. Bild: Adrian Moser

Interview: Brigitte Walser

Pierre Alain Schnegg, einige Gesundheitsdirektoren wollen die Quarantäne auf fünf Tage verkürzen. Sie auch?

Pierre Alain Schnegg: Der beste Weg wäre, bei den positiv Getesteten die Isolationszeit auf fünf Tage zu reduzieren, wobei mindestens ein Tag symptomfrei sein muss. Die Quarantäne für Kontaktpersonen sollte man abschaffen.

 

Warum?

Bei der Omikron-Variante sind viel weniger schwere Verläufe festzustellen als bei Delta. Hinzu kommt: Bei den Fällen ist nun mit einer sehr hohen Dunkelziffer zu rechnen. Das heisst, dass wir die Ansteckungen nicht mehr verfolgen können, und wir werden auch kaum noch über alle Kontakte informiert. Wir sind in einer neuen Phase angelangt.

 

Was bedeutet diese Phase?

Wenn wir das Isolations- und Quarantänesystem nicht anpassen, generieren wir ein neues Problem, das womöglich noch grösser ist als die Krankheit selbst.

 

Weil so viele Personen wegen Quarantäne oder Isolation ausfallen?

Ja. Jetzt braucht es viel mehr Flexibilität. Sonst benötigen wir bei der Rückverfolgung bald ein Team, das Personen in die Quarantäne schickt, und ein anderes, das Personen mit einer Sonderbewilligung von der Quarantäne befreit, weil sie am Arbeitsplatz dringend benötigt werden. Das ist nicht mehr machbar.

 

Werden die Fallzahlen nicht stärker ansteigen, wenn die Quarantäne wegfällt?

Das glaube ich nicht. Man kann ja davon ausgehen, dass die Betroffenen immer noch richtig ­reagieren: Wer krank ist, bleibt zu Hause und braucht nach einigen Tagen ein Arztzeugnis. Da ist nicht noch eine Anordnung von uns nötig. Mit Omikron müssen wir langsam dazu übergehen, Corona wie andere Krankheiten zu behandeln.

 

Halten Sie es für möglich, dass der Bundesrat die Quarantäne per sofort abschafft?

Vielleicht braucht es zwei Schritte. Zuerst eine Reduktion auf fünf Tage und die Abschaffung dann in ein oder zwei Wochen. Der Epidemiologe Marcel Salathé machte den Vorschlag, statt auf Quarantäne auf Selbsttests zu setzen. Das finde ich prüfenswert.

 

Dann wäre das Contact-Tracing also bald überflüssig.

Es könnte heruntergefahren werden, aber überflüssig würde es nicht so schnell. Wir müssen sofort reagieren können, wenn sich die Situation ändert und eine neue Virusvariante auftaucht. Im Sommer dürfte sich die Lage zwar entspannen, aber ich schliesse nicht aus, dass noch einmal eine Variante kommt, die harte Massnahmen verlangt.

 

Glauben Sie, dass die Spitäler die Situation gleich einschätzen wie Sie?

Die Zahlen in den Spitälern sind stabil – trotz der massiven Steigerung bei den Fallzahlen. Wir hören aber von Spitälern, dass eben auch ihnen die Ausfälle beim Personal aufgrund von Isolation oder Quarantäne zu schaffen machen.

 

In Adelboden feierten am Wochenende viele Menschen draussen ohne Maske. War das verantwortungslos?

Bei allen Ansammlungen von Personen ist damit zu rechnen, dass Fälle generiert werden – ob das nun eine Veranstaltung wie in Adelboden oder ein Kongress ist. Im Aussenbereich ist das Risiko tiefer, das wissen wir aus Erfahrung. Aber es ist nicht auszuschliessen, dass es am Wochenende in Adelboden auch drinnen zu mehr Treffen gekommen ist.

 

Also braucht es fürs Lauberhorn nächstes Wochenende strengere Massnahmen? Schliesslich gilt auch im Wankdorfstadion eine Maskenpflicht.

Wir als Kanton planen nicht strengere Massnahmen. Es kann nicht sein, dass der Staat alles diktiert und hinter jede Person einen Polizisten stellt, der ihr sagt, was sie zu tun hat. Organisatoren und Zuschauer stehen selbst in der Verantwortung. Alle wissen inzwischen, wie man sich möglichst gut schützen kann.

 

Aber hinter der Maskenpflicht für Erstklässler stehen Sie?

Ja. Wir gehen davon aus, dass wir dadurch Fälle verhindern können, auch wenn es keine absolute Garantie gibt. Als wir die Maskenpflicht bei den älteren Schulkindern einführten, konnten wir eine Wirkung feststellen. Wir wollen verhindern, dass die Zahlen in den ersten zwei Wochen explodieren, sodass stärkere Massnahmen nötig werden.

 

Danach entscheiden Sie erneut?

Ja, dann braucht es eine Analyse. Schliesslich ist auch zu beachten, dass die Erkrankung bei Kindern sehr milde verläuft. Von August bis Ende Jahr registrierten wir bei den 5- bis 16-Jährigen 16 000 positive Fälle. Ins Spital mussten 7, das sind 0,04 Prozent.

 

Wehren Sie sich deswegen gegen das Massentesten an Schulen?

Dazu muss man festhalten: Eine Maske kann eventuell vor der Krankheit schützen, ein Test ­hingegen schützt nicht vor einer Erkrankung, er zeigt an, ob 
jemand positiv oder negativ ist.

 

Mit dem Test könnten immerhin andere vor einer Ansteckung geschützt werden.

Ja, aber um eine solche Wirkung zu erzielen, müssten Tests obligatorisch sein, und man müsste sie mindestens zweimal wöchentlich durchführen. Selbst dann bin ich überzeugt, dass sich an der Verbreitung des Virus nicht viel ändern würde. Das zeigt mir die Entwicklung in Bern im Vergleich zu Kantonen mit Massentests. Wir verfolgen das genau.

Also brachten die Massentests vergangenes Jahr nichts.

Nein. Deshalb haben wir damit aufgehört. Jetzt können die Gemeinden sie wieder durchführen, der Bund hat das so mit seinem Partner weiterentwickelt. Wir akzeptieren das. Mit den Tests wird man sicherlich einige asymptomatische Fälle mehr finden als ohne, und sie geben wohl auch ein gewisses Gefühl von Sicherheit. Aber ich bin überzeugt, dass Gemeinden, die so testen, am Ende nicht besser abschneiden als Gemeinden, die auf das kantonale Ausbruchstesten setzen.

 

Sie äussern sich nun zu verschiedenen Massnahmen kritisch, zu Beginn der ­Pandemie war das anders. Hat das mit den bevorstehenden Wahlen zu tun, oder macht Ihre Partei, die SVP, Druck?

Glauben Sie wirklich, ich hätte mich für die Maskenpflicht in der ersten Klasse eingesetzt, wenn ich die Wahlen vor Augen gehabt hätte? Ich treffe keine Entscheidung auf Druck einer Partei oder im Hinblick auf die Wahlen. Es ist die Situation, die sich verändert hat.

 

Inwiefern?

2020 hatten wir keine Möglichkeit, uns zu schützen, und wir wussten nichts über dieses Virus. In einer solchen Lage ist es die Aufgabe des Staates, die Bevölkerung zu schützen und Massnahmen zu ergreifen, die nützen. Wir wussten zu Beginn nicht genau, was nützt, mussten vorsichtig sein und lernen. Inzwischen wissen wir viel darüber, wie man sich schützt, und es gibt die Impfung, die schwere Verläufe verhindern kann. Jetzt muss der Staat seine Position ändern. Wir können doch nicht in fünf Jahren noch der Bevölkerung sagen, was sie tun muss, darf, nicht mehr muss oder sollte.

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