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Grossratswahlen

Kein Spiegelbild des Bernervolks

Sind die 2111 Kandidatinnen und Kandidaten für die Berner Grossratswahlen vom März wirklich eine repräsentative Vertretung des Volkes? Die Datenanalyse nach Herkunft, Geschlecht, Alter und Job zeigt: Nein. 
Frauen, Rentner und die häufigsten Berufe sind krass untervertreten.

Grafik: Daniel Barben. Quelle: Staatskanzlei Kanton Bern, Bundesamt für Statistik

Stefan von Bergen

Wer sich Ende März in den bernischen Grossen Rat wählen lassen will, orientiert sich offenbar an einem bestimmten Steckbrief: Er oder sie sind über 40 Jahre alt und entweder Bauer, Juristin, Lehrer oder aber angestellt im Gesundheitswesen und in der öffentlichen Verwaltung. Im Feld der 2111 Kandidierenden jedenfalls sind die Ü-40er und diese Berufsgruppen übermässig stark vertreten. In der Berner Kantonsbevölkerung aber bilden sie bloss Minderheiten.

 

«Wählen ist undemokratisch»
Man kann sich also fragen, ob die 2111 Aspiranten und Aspirantinnen, die sich zur Wahl angemeldet haben, eine repräsentative Vertretung des Bernervolks sind. Nein, würde der belgische Historiker David von Reybrouck sagen. Er ist Autor des Buchs «Gegen Wahlen» (Wallstein 2016). Im Gespräch mit dieser Zeitung erklärt er: «Weil sich bei Parlamentswahlen vor allem Akademiker und Interessenvertreter politischer Parteien durchsetzen, kann man nicht von einer repräsentativen Demokratie sprechen, in der die Gesellschaft in ihrer ganzen Breite vertreten ist.»

Nun ist es in westlichen Demokratien wie der Schweiz üblich, dass die Kandidaten für politische Gremien von Parteien rekrutiert werden. Und nicht jeder Bildungsgrad und Job lässt sich gleich gut mit einem politischen Mandat kombinieren. Van Reybrouck hält dem einen Vorschlag entgegen, den man im ersten Moment für einen Ulk hält: Er plädiert dafür, politische Gremien nach dem Zufallsprinzip auszulosen statt zu wählen.

Er nennt gar konkrete Beispiele aus Irland, Kanada oder Australien, wo ausgeloste Bürgergremien an der Arbeit sind. Sie widerspiegeln die reale Zusammensetzung der Gesellschaft, weil aufgrund von vorgegebenen Kriterien ausgelost wird. Van Reybrouck zählt sie auf Englisch auf: «Origin, Sex, Age and Job.»

 

Höhere Wahlchance im Jura
Herkunft, Geschlecht, Altersgruppe, Beruf: Nach diesen vier Parametern hat diese Zeitung das Kandidatenfeld der Grossratswahlen in einer umfangreichen Datenanalyse durchforstet. Ein erstes Fazit: Ein repräsentatives Abbild der Berner Gesellschaft ist das Kandidatenaufgebot nicht. Immerhin die geografische Herkunft der Bernerinnen und Berner bildet sich in ihm korrekt ab. Wie viele Sitze die neun Berner Wahlkreise zugute haben (siehe Karte), wird nämlich nach den Daten der jüngsten Volkszählung definiert.

Und doch haben die Kandidierenden nicht in allen Regionen die gleichen Wahlchancen. Am höchsten sind sie im Berner Jura. Auf die 12 Sitze, die dieser Region unabhängig von ihrer schwindenden Einwohnerzahl garantiert werden, bewerben sich 107 Personen. Es entfallen also 8,91 Kandidierende auf einen Sitz (siehe Grafik). Im Wahlkreis Stadt Bern ist der Andrang doppelt und die Wahlchance halb so gross. Für die 20 Sitze treten 344 Personen an – 17,2 pro Sitz. Der kantonale Schnitt liegt bei 13,2 Kandidierenden pro Sitz. In den städtischen Wahlkreisen Bern, Biel-Seeland und Thun liegt der Wert über diesem Schnitt.

 

Die fehlenden Frauen
Dass die Kandidierenden die Berner Bevölkerung nicht repräsentieren, zeigt sich deutlich beim Geschlecht. Von den 1 026 513 Menschen, die laut Bundesamt für Statistik Ende 2016 im Kanton Bern lebten, sind 50,9 Prozent Frauen. Nur 729 der Kandierenden aber sind weiblich – magere 34,5 Prozent.

Je nach Region und Partei ist das Geschlechterverhältnis noch ungleicher (siehe Grafik). Im Wahlkreis Stadt Bern ist der Frauenanteil am höchsten, mit 136 von 344 oder 39,5 Prozent. Am tiefsten ist er im Berner Oberland mit 53 von 186 oder 28,5 Prozent. Auch in den anderen ländlichen Wahlkreisen übersteigt er die 32-Prozent-Marke nicht. Bei den Parteien schickt die SVP anteilsmässig am wenigsten Frauen ins Rennen, nämlich 22,8 Prozent. An der Spitze steht die SP, sie übertrifft mit einem Frauenanteil von 51,9 Prozent sogar die reale Verteilung.

Ernüchternd ist, dass sich bei der Wahl noch weniger Frauen durchsetzen werden. Im Grossen Rat in seiner aktuellen Zusammensetzung sind bloss 46 der 160 Mitglieder Frauen. Das entspricht 28,75 Prozent. Als einzige Partei erreicht die SP knapp die reale Frauenquote, in ihrer 33-köpfigen Fraktion gibt es 16 Frauen. Bei der SVP sind 9 der 49 Parlamentsmitglieder Frauen, bei der FDP gerade mal 2 von 17, bei der BDP 5 von 14 und selbst bei den Grünen bloss 5 von 15.

 

Rentner sind nicht gefragt
Das Klischee besagt: Das Sagen haben in der Politik ergraute Herren ab 60 Jahren, die den Sessel nicht räumen wollen. Die politisch desinteressierten Jüngeren aber bleiben aussen vor. Dieses Klischee ist falsch. Unter den 2111 Kandierenden finden sich gerade mal 56 Rentnerinnen oder Rentner ab 65 Jahren. Das sind 2,65 Prozent der Antretenden. In der Berner Bevölkerung aber waren laut Bundesamt für Statistik Ende 2016 über 20 Prozent älter als 65 Jahre, und ihr Anteil nimmt ständig zu. Obwohl Rentner Zeit, Erfahrung, Gelassenheit und finanzielle Unabhängigkeit mitbringen, sind sie in der Politik nicht gefragt – oder interessieren sich nicht dafür.

Erstaunlich hoch ist im Kandidatenfeld die Altersgruppe der 20- bis 49-Jährigen mit 40,1 Prozent. Dieses Segment, das in der Statistik leider nicht weiter unterteilt ist, macht nämlich nur 25,5 Prozent der Kantonsbevölkerung aus. Besonders hoch ist der Anteil der jüngeren Kandidierenden bei Parteien mit jungen Sektionen: den Grünliberalen (53,1 Prozent), der EVP (43,1), den Grünen (40,9), der FDP (38,6) und der SP (37,5).

Das Gros der Grossratskandidatinnen und -kandidaten aber ist zwischen 40 und 64 Jahren alt. Sie machen 56,6 Prozent der Kandidierenden aus, in der Realität stellen sie aber nur 35,1 Prozent der Berner Bevölkerung.

Noch viel extremer ist die Altersstruktur im aktuellen Grossen Rat. Die Ü-40er, die im stressreichsten Lebensabschnitt mit den grössten Belastungen stehen, machen auch noch die Berner Politik unter sich aus. 136 der 160 Grossrätinnen und Grossräte – das sind 85 Prozent – sind zwischen 40- und 65-jährig. Einzig die SP hat sieben Leute unter 40 Jahren. Weder die Perspektive der Jugend noch die des Alters kommen also im Berner Parlament zur Geltung.

 

Bauern, Juristen, Lehrer
Auch die Vielfalt der Bildungsgrade und Berufe widerspiegelt sich im Kandidatenfeld nur einseitig. Weil die Berufsangaben in den Kandidatenlisten bisweilen ungenau und schwer vergleichbar sind, lassen sich keine klaren Anteile berechnen.

Die grösste Gruppe nach Bildungsstand umfasste laut dem Bundesamt für Statistik 2016 im Espace Mittelland die Berufsleute mit einem Berufsabschluss EFZ. Sie machen 42 Prozent der Erwerbstätigen aus und bilden das Rückgrat all der Berner KMU-Betriebe. Im Feld der Grossratskandidaten und -kandidatinnen aber sind es nur rund 21 Prozent. Am meisten Praktiker mit Berufsdiplom schicken die SVP und die BDP ins Rennen, nämlich rund 60 von 240 beziehungsweise 47 von 174 Kandierenden. In den ländlichen Wahlkreisen liegt der Anteil bei 26 bis 28, im Oberaargau sogar bei 33,5 Prozent.

In der Stadt Bern sind es nur 11,5 Prozent. Dafür haben dort 23 Prozent einen Uniabschluss – was der Akademikerrate im Espace Mittelland entspricht.

In der Hitliste der häufigsten Berufe führen die Angestellten im Gesundheits- und Sozialwesen (inklusive Ärzte). 208 oder jeder Zehnte und jede Zehnte der Kandierenden arbeiten dort. 130 oder 6,1 Prozent sind Lehrerinnen und Lehrer, in der realen Gesellschaft machen sie aber nur 3 Prozent der Berner Erwerbstätigen aus. 111 oder 5,2 Prozent arbeiten in der öffentlichen Verwaltung, Verbänden oder Staatsbetrieben wie SBB und Post.

Bei der SP sind rund die Hälfte der Kandidierenden im Gesundheitswesen, den Schulen oder der Verwaltung tätig. Auch bei den Grünen und den Grünliberalen sind sie stark vertreten. Weil ihr Einkommen aus Steuergeldern stammt, dürften diese rot-grünen Kandidierenden eine staatsfreundliche Haltung vertreten.

Rund 100 Kandidierende – meist bei der SVP und BDP – sind Bäuerinnen und Bauern. Das entspricht im Kandidatenfeld wie auch in der realen Berner Arbeitswelt 5 Prozent. 130 Kandidierende bezeichnen sich als Unternehmer oder Selbstständige, 100 sind Ingenieure oder Architekten, 70 sind Juristinnen und Anwälte. Sie kandidieren mehrheitlich für die FDP.

Im aktuellen Grossen Rat bildet sich die reale Verteilung der Berufsgruppen noch einseitiger ab. Der häufigste Beruf im Berner Kantonsparlament ist Bauer oder Bäuerin, es sind 30 von 160, sie besetzen also jeden sechsten Grossratssessel. Allein die SVP entsendet 22 ins Berner Rathaus. 26 Grossratsmitglieder arbeiten in der Verwaltung und bei Verbänden. Die 15 Lehrerinnen und Lehrer sowie die 13 Angestellten im Gesundheitswesen gehören vor allem dem rot-grünen Lager an. Die 18 Unternehmer und die 14 Juristen sind in der FDP und der SVP. 20 Mitglieder sind Ingenieure, Architekten und Betriebswirtschafter. Die Akademikerquote ist hoch. Abgesehen von einem einzelnen Wirt oder Schreiner gibt es keine Kantonsparlamentarier mit Berufsdiplom EFZ.

 

Profis sind nicht besser
David van Reybrouck hat recht: Auch im Kanton Bern ist das Parlament keine repräsentative Volksvertretung. Aber soll man es deshalb nach dem Zufallsprinzip des Loses bestimmen und so in Kauf nehmen, dass inkompetente Leute politisieren? «Berufspolitiker und Akademiker sind nicht einfach besser, zudem verfechten sie Interessen», repliziert van Reybrouck. Wirklich heikle und langfristige Themen würden sie gar nicht antasten, weil sie um ihre Wiederwahl fürchten müssten.

Van Reybrouck erzählt von der vorbereitenden Verfassungsversammlung, in die 99 Irinnen und Iren repräsentativ nach Herkunft, Geschlecht, Altersgruppe und Gesellschaftsklasse ausgelost wurden. Wer nicht wollte, konnte ablehnen. Wer mitmachte, erhielt eine Einführung. 2016 debattierte das Gremium nach der Information durch Experten und Interessenvereinigungen über ein heisses Thema, das im katholischen Land kein Politiker angetastet hätte: die Einführung der Homosexuellenehe.

Die 99 stimmten mehrheitlich zu, die darauf folgende Volksabstimmung ergab eine sensationelle Ja-Mehrheit von 66 Prozent. «Entscheide eines wirklich repräsentativen Gremiums haben eine ganze andere Legitimität», sagt van Reybrouck.

Vielleicht wäre es nützlich, wenn über das nächste Sparpaket des Kantons Bern nicht bloss Bauern, Verwaltungsangestellte, Lehrerinnen, Anwälte und Ingenieure entscheiden würden.

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