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Behinderung

So holen sich Betroffene Support

«Unterstützende Massnahmen zum Nachteilsausgleich bei Behinderungen»: Was sperrig tönt, ist für Betroffene im Alltag eine grosse Hilfe. Nur wissen längst nicht alle von ihrem Recht.

Es wird davon ausgegangen, dass 5 bis 10 Prozent der Bevölkerung von Dyslexie, Dyskalkulie oder anderen Lernbehinderungen betroffen ist. psj/a
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Im Kanton Bern finden jedes Jahr rund 10 000 Zwischen- oder Abschussprüfungen für angehende Berufsleute statt. In diesem Jahr wurden 270 Gesuche um Prüfungserleichterungen eingereicht, wie das Amt für Berufsbildung auf Anfrage mitteilt. Da solche Gesuche zumeist von Fachpersonen angeregt werden, dürfte der Anteil abgelehnten Massnahmen eher niedrig sein.

Das bedeutet natürlich nicht, dass die Jugend zunehmend an Behinderungen leidet. Alain Marti, einer der Prüfungsverantwortlichen, erklärt den Grund für diese Entwicklung: «Wir haben mit unseren Informationen über die Möglichkeiten des Nachteilsausgleichs in letzter Zeit noch mehr Ausbildungsbetriebe, Lernende und Eltern erreicht».

Einige resignieren

Wenn man bedenkt, dass 5 bis 10 Prozent der Bevölkerung von Dyslexie, Dyskalkulie oder anderen Lernbehinderungen betroffen sind, müsste die Zahl der Gesuche rein rechnerisch betrachtet bedeutend höher sein. Laurent Plantat, Vize-Präsident der Dyslexie-Vereinigung der Romandie, ist über die verhältnismässig kleine Anzahl der Empfänger von Lernhilfen nicht ganz erstaunt: «Etliche Personen wissen gar nicht, dass sie an Dyslexie leiden. Sie glauben fälschlicherweise, sie seien ganz einfach minderbegabt».

Andere kämen mit dem Handicap nicht zurecht und würden resignieren. «Dabei kann man am Ende sehr stark werden, sofern man es schafft, sich mit der Behinderung zu arrangieren», sagt Plantat. Er trifft auch immer wieder Betroffene, die sich eine Berufsausbildung ohne stützende Massnahmen zutrauen: «Das ist schade, denn diese Menschen schöpfen ihre Chancen nicht aus.» Plantat beobachtet auch eine Anzahl an Schulabgängern, deren Umfeld nicht über die Möglichkeiten des Nachteilsausgleichs informiert ist.

Es braucht ein Gesuch

Jede Person, welche an einer Behinde rung leidet, hat Anrecht auf Gleichstellung gegenüber den nicht behinderten Menschen. Dieses Prinzip ist sowohl in der Bundesverfassung als auch in Gesetzen verankert. Im Rahmen der schulischen und beruflichen Bildung gelten beispielsweise Dyslexie, Aufmerksamkeitsstörung sowie Hör- oder Sehschwäche als Behinderungen. Zum Ablauf von Prüfungen sagt die eidgenössische Schulbildungsverordnung: «Benötigt eine Kandidatin oder ein Kandidat aufgrund einer Behinderung besondere Hilfsmittel oder mehr Zeit, so wird dies angemessen gewährt.»

Allerdings werden diese Erleichterungen nur auf Gesuch hin genehmigt. Daher ist es wichtig, dass alle Akteure über eine Behinderung informiert werden (Lehrbetrieb, Berufsschule, kantonales Berufsbildungsamt). Nur dann können Massnahmen zum Nachteilsausgleich eingeleitet werden. Oft handelt es sich dabei um Hilfestellungen, die je nach Behinderung ohne besonderen Aufwand umzusetzen sind. Bei Vorliegen einer Dyslexie wird man dem Lernenden mehr Zeit für das Lösen einer Aufgabe zugestehen (bis zu 30 Prozent).

Wegen der Leseschwierigkeit können die Prüfungsfragen auch vorgelesen werden. Wenn jemand an einer Sehschwäche leidet, wird man ihm Dokumente mit vergrösserter Schrift unterbreiten. Jedenfalls wird jede behinderte Person als Einzelfall behandelt. Entsprechend werden die Hilfestellungen ausgestaltet. «Manchmal benötigen wir einen zusätzlichen Prüfungsraum. Dies erfordert auch einen weiteren Experten», so Alain Marti.

Rücksicht nehmen

Ihm geht es stets darum, die Rahmenbedingungen für alle Prüfungskandidaten gleichwertig zu gestalten: «Wenn man keine Rücksicht auf behinderungsbedingte Besonderheiten legt, sind die Betroffenen von Anfang an im Nachteil.» Der Prüfungsverantwortliche denkt dabei auch an Dyslexiker: Diese würden allein beim Lesen der Fragen viel Zeit verlieren. «Deshalb haben diese Lehrlinge unter normalen Bedingungen gar keine Zeit, ihr wirkliches Wissen unter Beweis zu stellen», folgert Marti.

Wenn Menschen mit einer Behinderung nicht durch angemessene Massnahmen unterstützt werden, sei ihr Ausbildungserfolg infrage gestellt. Deshalb fordert auch Marti alle Lernenden auf, ein Gesuch um Nachteilsausgleich für BFS-/BM-Unterricht» einzureichen, sofern «eine diagnostizierte und medizinisch anerkannte» Behinderung vorliege. Lernende, die vor einer Prüfung stehen, sollten sich beeilen, denn es gelten gewisse Fristen. NH/pl

Das Formular der Erziehungsdirektion, «Gesuch um Nachteilsausgleich für BFS-/BM-Unterricht»

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