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Biel

86 Tage Wahnsinn, 86 Tage Mut

Der Abbau der Robert-Walser-Sculpture ist fast vorbei. Am morgigen Abschiedsfest feiert
der Walser-Groove noch einmal Auferstehung. Zeit für einen letzten persönlichen Rückblick.

Bild: Peter Samuel Jaggi

Vera Urweider

Ein weisser Kastenwagen. Ein gelber Container. Zwei einsame Velos. Das steht auf der einen Seite. Auf der anderen drehen ein paar Taxifahrer ihre Runden. Oder warten ob des Regens in ihren Autos. Ihr Unterstand, der ist weg. In der Mitte des Bieler Bahnhofplatzes stehen und liegen wie immer Schang Hutters Vertschaupete. Davor vier noch immer mit braunem Klebeband eingewickelte Stühle, in Reih und Glied, als würden sie noch immer zu einem sagen: «Setz dich!» Setz dich, halte inne, verschnaufe, hör zu. Rund um die Vertschaupeten und die vier Stühle stehen letzte Holzpaletten-Stapel. Dazwischen bewegen sich mir bekannte Personen. Räumen auf. Putzen. Lesen tut hier niemand mehr.

Meine Füsse vergraben sich im sonnig warmen Sand, während ich dieses Szenario betrachte. Es sind Szenen, fünf Fotos, die mir heute Morgen ein Bieler Freund geschickt hat. Szenen des Aufräumens. Szenen des Beendens. Für mich auch ein wenig, oder sehr, Szenen der Wehmut. So weit sind sie also schon mit dem Abbau der Walser-Sculpture, denke ich. Die erste Woche des Abbaus hatte ich noch mitverfolgt. Menschen, wie ich, die während 86 Tagen die Walser-Welt belebt hatten, retteten ihre Kunst vor der Vernichtung. Andere brachten ihr Werkzeug nach Hause. Kochtöpfe. Malpinsel. Holzsäge. Das Klavier wurde ab und zu noch bespielt. Einzelne Besucher schlenderten noch über die Holzbrücken, langsam und schüchtern, als würde sie sonst die vergangene Welt aus ihrem Schlafe wecken.

Danach bin ich geflüchtet. In den Süden. In den Sommer. Wollte erst wieder zurück sein, wenn von Thomas Hirschhorns Skulptur nichts mehr zu sehen ist. Denn zuzuschauen, wie Schicht für Schicht unsere Sommerwelt abgetragen wurde, das war keine Option. Gar nicht mehr zum Bahnhof gehen jedoch auch nicht. Ich zögerte gar kurz, als vortags aus gut 800 Kilometern Entfernung die Anfrage zu diesem Text kam. Und während ich nun hier am Meer sitze, mir die Sonne auf die Nase scheint, ich mich von dem intensiven Walser-Sommer erhole, erreichen mich diese fünf Bilder. Szenen der Wehmut also. Doch erwecken sie in mir auch Erinnerung. Und zu guter Letzt ein unbeschreibliches Glücksgefühl und tiefe Zufriedenheit.

 

Das Walser-Theater

Vom 15. Juni bis zum 8. September war ich wie unzählige andere täglich auf Hirschhorns Walser-Sculpture tätig. Und wie zwölf andere gehörte ich zur unermüdlichen Walser Theater-Truppe. Wir performten täglich während 40 Minuten das vom Berliner Philosophen Marcus Steinweg extra für die Skulptur geschriebene Nicht-Stück «Robert Walser Theater».

Es waren 86 Premieren. Jedes Mal war es anders. Deutsch und Französisch gemischt, wie sich das für Biel, und auch für Hirschhorn, gehört. Einige Zuschauer kamen genau darum immer und immer wieder. Entdeckten bei jeder Vorstellung Neues, wie wohl auch wir immer wieder Neues erfuhren. Mal waren wir nur zu dritt. Mal der ganze Haufen komplett. Ein buntgmischter Tiegel: professionelle Theaterschaffende, Musiker, eine Kurdin, eine Brasilianerin, eine Rentnerin, ein Legastheniker, eine Schreibende, ein Schüchterner, ein Explosiver, Menschen, die noch nie auf einer Bühne standen, mal mit Gitarrenbegleitung, mal mit Klavier, mal mit genau einer Zuschauerin, mal mit tosendem Applaus, mal unter sengender Hitze, mal im strömenden Regen, mal mit voller Motivation und Energie, mal auf dem Zahnfleisch kriechend.

Aufgegeben haben wir nie. Eine Vorstellung ausfallen lassen kam nicht in Frage. Wir schrien uns an. Wir sprachen nicht miteinander. Wir prügelten uns. Wir umarmten uns. Wir lagen gemeinsam im Styropor. Wir assen gemeinsam in der Cantina. Wir tranken gemeinsam Pastis bei Chris’ täglicher Vernissage. Manche sind zwischenzeitlich auf der Strecke geblieben. Doch als Team, als Truppe, als Kern und schussendlich als neue Freunde sind wir zusammengewachsen und haben etwas schier Unmögliches, doch mindestens Verrücktes durchgezogen.

 

Das Walser-Leben

Und schliesslich ist das, was wir als kleines Theater-Team erleben, schaffen und erschaffen konnten, dasselbe, das sich ebenso in der gesamten Skulptur-Landschaft widerspiegelte. Zusammenhalt. Unterstützung. Bereicherung. Achtung. Über sich hinauswachsen. An einem Strang ziehen. Eine lebbare Welt erschaffen. Mit eigenen Regeln. Mit Hingabe. Mit kleinen Wundern. Jeden Tag.

Ja, vielleicht hat diese Welt finanziell etwas gekostet. Ja, vielleicht ging die Walser-Skulptur von aussen betrachtet nicht mit der allgemein gültigen Ästhetik konform. Und ja, vielleicht wäre die Stiftung an Hirschhorns Vorhaben beinahe zerbrochen. Doch war dieser Sommer, waren diese 86 Tage Wahnsinn, diese 86 Tage Mut, diese 86 Tage Grossartigkeit, eine unbezahlbare Bereicherung. Es war eben mehr als eine Plastik. Mehr als eine Skulptur. Mehr als ein Kunstobjekt. Keine Stiftung ist zerbrochen. Es ist vielmehr vielleicht das Beste, was man mit einer eingeschlafenen Plastikaustellung hat machen können. Leben schaffen. Einbinden. Grenzen überwinden. Und das ist es, was uns Walserianern bleiben wird: Das Holz ist weg. Das Wir bleibt.

Info: Vera Urweider war auf der Robert-Walser-Sculpture als Schauspielerin und Leserin tätig.

 

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Zum Abschied ein Fest

Morgen lädt die Stiftung Schweizerische Plastikausstellung SPA zur Abschiedsparty von der Bieler Robert-Walser-Sculpture. Der «Farewell-Day» auf dem Bahnhofplatz findet von 10 bis 22 Uhr statt und bietet gratis Essen und Trinken an. Die Verantwortlichen wollen sich damit noch einmal bei allen Bielern und Bielerinnen bedanken. 
Offiziell beendet wurde die 13. Schweizerische Plastikausstellung bereits am 8. September. mt/gau

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