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Sachbuch

Alte Geschichte von brennender Aktualität

Das Ende des Ersten Weltkriegs und die 68er-Unruhen stehen derzeit im Fokus. Aber auch der Dreissigjährige Krieg begeht einen runden Jahrestag. Was damals geschah, illustrieren zwei unterschiedliche Publikationen. Eine zieht Parallelen zur Gegenwart auf.

Heute nicht anders als früher: Die Zivilbevölkerung, allen voran Kinder leiden am meisten unter Krieg und Zerstörung. Bild: Keystone

Annelise Alder

400 Jahre ist eine lange Zeit. Kriegerische Ereignisse, die so weit zurückliegen, drohen deshalb vergessen zu gehen. Dies besonders angesichts der «Schrecken des Zweiten Weltkriegs», die diejenigen des Dreissigjährigen Kriegs abgelöst haben. Dass die «erste europäische Katastrophe» in den Hintergrund getreten ist, hat Herfried Münkler zufolge auch damit zu tun, dass die beiden geschichtlichen Grossereignisse sich auf unterschiedliche Weise in die kollektive Erinnerung der Betroffenen eingebrannt haben.

Im Krieg von 1618 bis 1648 sehen sich die Deutschen als Opfer von konfessionellen Konflikten und von Machtstreben habgieriger Nachbaren wie Spanien oder Schweden. Während in der Beschäftigung mit dem Zweiten Weltkrieg die Täterrolle der Deutschen im Mittelpunkt steht. Das «Trauma der Opferrolle» ist somit dem «Trauma der Schuld an furchtbaren Verbrechen» gewichen.

Aber auch das jüngste Kriegstrauma ist in Auflösung begriffen, wie der Autor in seiner umfassenden Gesamtdarstellung mit dem Titel «Der Dreissigjährige Krieg – Europäische Katastrophe, deutsches Trauma 1618 – 1648» ausführt. Weshalb also sich überhaupt mit Krieg beschäftigen, zumal mit einem, der so weit zurückliegt?

 

Parallele zur Gegenwart
Die damaligen Ereignisse, so die These Münklers, zeigen «strukturelle Ähnlichkeiten» mit den heutigen Kriegen und Konflikten in Nahost, in der Maghreb-Region und in der Sahelzone. Auch diesen liegen konfessionelle Auseinandersetzungen zugrunde. Und auch diese werden von Kämpfen um regionale Vormachtstellung – man denke nur an den Stellvertreterkrieg in Jemen – und von lokalen Territorialkonflikten überlagert.

Der Dreissigjährige Krieg lehrt die Nachgeborenen, dass es Zeit und Verhandlungsgeschick braucht, um «miteinander verflochtene, verschiedene Kriegstypen und unterschiedliche Konfliktebenen» in eine Friedensordnung zu überführen.

Der Westfälische Friede führt zudem vor, dass sich eine stabile Friedensordnung nicht zwingend an «vorherrschende machtpolitische Konstellationen» orientieren muss. Dem damaligen Friedensvertrag lag vielmehr «die Norm gleichberechtigter souveräner Staaten» zugrunde. Auf heutige Konflikte übertragen, würde dies beispielsweise ein souveränes Palästina und Kurdistan bedeuten.

So weit gehen die von Herfried Münkler vorgespurten Gedanken indes nicht. Zumal die derzeitigen Konflikte im Nahost, in der Maghreb-Region und in der Sahelzone, die dem Autor gemäss alle miteinander verwoben sind, noch meilenweit von einer Befriedung entfernt sind.

Das Hauptproblem des Dreissigjährigen Kriegs zeigt sich nämlich auch in Nahost: Die grossen Schlachten haben keine Entscheidung herbeigeführt – man denke an die amerikanische Invasion im Irak. Die Folge davon sind Kleinkriege und eine «Ermattungsstrategie der Kriegsparteien», die häufig gepaart ist mit einer «Verwüstungsstrategie, welche so lange anhält, bis alle Beteiligten so entkräftet sind, dass der Krieg aus purer Erschöpfung quasi von alleine zu Ende geht».

Um aufzuzeigen, wie solche Konflikte überhaupt entstehen und wie ihnen politisch beizukommen ist, führt der Autor die Komplexität des Dreissigjährigen Kriegs, der mit dem sogenannten «Prager Fenstersturz» am 23. Mai 1618 einsetzte, bis ins kleinste Detail aus.

 

Detailliert und bilderreich
Auf fast tausend Seiten schildert Heribert Münkler die bisweilen verwirrende Vielfalt an Kriegsakteuren und Konfliktherden. Letztere entwickeln oftmals eine Eigendynamik, was auch ein Grund dafür ist, dass der «Krieg nicht enden will». Dabei variiert Münkler die Erzählperspektiven immer wieder und sorgt so für Kurzweil: So fokussiert er sowohl die politischen Konstellationen, wie auch die grossen Kriegsschauplätze und die prägenden Persönlichkeiten wie König Gustav Adolf von Schweden, Albrecht von Wallenstein, Graf von Tilly oder Kardinal Richelieu.

In seine Betrachtungen bezieht er auch die literarische (etwa «Simplicissimus» von Grimmelshausen) und kunsthistorische Verarbeitung des Geschehens ein.

Wer die damaligen Ereignisse in ihrer teils verstörenden Drastik visuell ausgebreitet und die dafür verantwortlichen Persönlichkeiten vorgeführt haben möchte, der greife zur Spezialausgabe des Magazins für Geschichte von GeoEpoche «Der Dreissigjährige Krieg». Die unzähligen Abbildungen von alten Dokumenten, Stichen und Gemälden – Letztere entstanden freilich nicht immer zeitgleich zum Krieg, sind daher auch als spätere Interpretation anzusehen – veranschaulichen damaliges Leben auf vielfältige Weise. Kurze prägnante Texte und Bildlegenden, aber auch längere, von Historikern verfasste Aufsätze vertiefen die Geschehnisse und die Situation der Bevölkerung.

 

Bauern und Handwerker
Davon waren ein Grossteil Handwerker und Bauern, die aus schierer Not ins Feld zogen und die wiederum aus Not zu Vergewaltigern und Plünderern mutierten, weil die Kriegsherren ihnen keinen Sold ausbezahlen wollten oder konnten und weil es mit dem Nachschub von Esswaren nicht klappte, sie also Hunger litten.

Aufschlussreich sind auch die abgebildeten historischen Karten. Sie zeigen, wie das «Heilige Römische Reich deutscher Nation» – so der Name des damaligen politischen Konstrukts – 1618 aussah: ein Flickenteppich aus 300 Fürstentümern, Grafschaften und Reichsstädten. Mittendrin die Eidgenossenschaft, mächtig im Osten die Habsburger mit dem katholischen Kaiser, gegen den die Protestanten sich zur Wehr setzten. In den Flächenbrand, der darauf einsetzte, wurden nach und nach die Nachbarn Spanien, Frankreich, England, Dänemark und Schweden verwickelt.

 

Weiter Fokus
GeoEpoche weitet zudem den Fokus in Richtung Kulturgeschichte aus: Der noch junge Buchdruck florierte, die Bevölkerung war begierig nach den Flugblättern, Flugschriften und ersten Zeitungen, die über den Krieg berichteten und die heute als wertvolle Quellen dienen. Der Maler Peter Paul Rubens schuf nicht nur üppige Malereien, sondern agierte auch als Vermittler zwischen den Kriegsparteien England und Spanien. Ein Kapitel ist dem Philosophen René Descartes gewidmet, der als Rationalist gegen die Dogmen der katholischen Kirche ankämpfte und so zum wichtigen Wegbereiter der Aufklärung wurde.

In den Schlusskapiteln führen beide Publikationen auf ihre je eigene Weise aus, wie das endlos sich hinziehende Bekämpfen und Demütigen, wie die zahlreichen ineinander verschachtelten Konfliktherde im Rahmen des «grössten Friedenskongresses der Neuzeit» schliesslich zu «einer neuen Ordnung für Europa» geführt haben. Die Verhandlungen dauerten mehrere Jahre, über 100 Diplomaten beteiligten sich daran. Das lässt Hoffnung aufkommen, dass auch heute aussichtslos erscheinende Konflikte einmal befriedet werden könnten. Mit enormen Aufwand zwar, aber mit Verhandlungsgeschick und dank integren Persönlichkeiten.

Info: Herfried Münkler, «Der Dreissigjährige Krieg. Europäische Katastrophe, deutsches Trauma 1618 – 1648», 974 Seiten, Rowohlt 2018 (5. Auflage), 58 Franken. GeoEpoche, «Der Dreissigjährige Krieg», Band 29, Hrsg. von Peter-Matthias Gaede, 14 Franken.

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