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Popmusik

Alte und neue Songs braucht 
die Weltuntergangsstimmung

Noch hat die Coronakrise keine eigene Hymne hervorgebracht. Als Ersatz dienen Songs aus den 1970er- 
und 1980er-Jahren – auch wenn sie zu anderen Zwecken geschrieben worden waren.

Bild: zvg

Nick Joyce

Sie meinen es nur gut mit uns: Die vielen Musikgrössen, die ihr weltweites Publikum über Facebook, Instagram und YouTube mit Heimkonzerten beglücken wollen. Dazu gehören Robbie Williams und Chris Martin von Coldplay, die sich herrlich unbeholfen durch kurze Unplugged-Sets manövrieren.

Nicht im Internet, aber von seinem Balkon aus spielt der Basler Americana-Spezialist Pink Pedrazzi Kleinkonzerte für seine Nachbarn. Anderen Musikern ist der allgemeine Trend zur Fremdbeglückung zuwider. Mitte März musste der englische Singer-Songwriter James Blunt seine Europatournee wegen des bevorstehenden Shutdowns abbrechen, trotz der behördlich verordneten Bühnenabsenz will er keine Minikonzerte im Internet geben. «Ich tue Euch einen Gefallen, wenn ich darauf verzichte», vermeldete Blunt über Twitter.

 

Bono hätte sich besser
etwas Zeit genommen

Bono von der irischen Stadionband U2 ist bislang einer der wenigen Musiker mit einem eigenen Corona-Song. Zu «Let Your Love Be Known» hatten ihn die in ihren Wohnungen und Häusern gestrandeten Italiener und Italienerinnen inspiriert, die einander von ihren Balkonen und Dächern aus zu sangen.

Bono soll «Let Your Love Be Known» schnell am Klavier geschrieben und gleich bei Instagram gepostet haben. Besser wäre es gewesen, er hätte sich mehr Zeit für die Feinarbeit an diesem Song genommen. «Let Your Love Be Known» klingt Bonos ganzen Ergriffenheit zum Trotz nach einer Reflexaktion.

Ein Song muss nicht tagesaktuell sein, um krisenrelevant zu wirken. Von David Bowie, den Hofbarden der Apokalypse, stammen gleich mehrere Songs über den Weltuntergang , dazu gehören «Panic In Detroit» und «Diamond Dogs». «Five Years» (1972), eine Mischung aus Chanson-Pathos und Doo-wop-Nostalgie, ragt aus diesem endzeitlichen Kanon heraus.

In kleinen Vignetten dokumentiert Bowie den gesellschaftlichen Zerfall in Angesicht einer unausweichlichen Apokalypse –und erkennt dabei, wie viele Menschen er doch braucht, um selber Mensch zu sein. Eine Erkenntnis, die in der Solidarität in Zeiten von Corona ihren Widerhall findet.

 

Gitarren hämmern
wie eine Artillerieoffensive

Bei «London Calling» aus dem Jahre 1979 blickt die Londoner Punk-Band The Clash missmutig in die Zukunft – zu Recht: Wenige Monate vor der Erscheinung dieser Single war es im Reaktorpark Three Mile Island im Bundesstaat Pennsylvania zur Kernschmelze gekommen.

Gleichzeitig bauten Nato und Warschauer Pakt ihre Nukleararsenale weiter aus. The Clash verstanden es, ihren tiefen Pessimismus fesselnd zu kaschieren: Unter Joe Strummers barschem Leadgesang hämmern Gitarren, Bass und Schlagzeug mit der Intensität einer Artillerieoffensive.

1980 meldete sich auch Kate Bush zum Thema der atomaren Vernichtung. In «Breathing» stürzt sich die junge Sängerin und Pianistin in die Rolle eines Fötus, der die verseuchte Luft fürchtet, die er nach seiner Geburt einatmen wird. Der als Ballade versteckte Protestsong ist beklemmend und sinnlich zugleich: Bush lenkt den Fokus ihrer Zuhörer auf die eigene Atmung und macht ihnen so das grosse Privileg bewusst, saubere Luft atmen zu dürfen.

Auch «Ghost Town», der letzte Hit der Ska-Band The Specials, wirkt heute gespenstisch aktuell: 1981 stellten die Musiker ihren Heimatort Coventry, einst eine Bastion der englischen Autoindustrie, als Geisterstadt dar.

Mit «Ghost Town» wollten The Specials den Niedergang der Wirtschaftsmacht Grossbritannien und der damit einhergehenden Massenarbeitslosigkeit beklagen. Die menschenleeren Strassen mit den vielen geschlossenen Läden und Pubs im begleitenden Videoclip könnten einer TV-Reportage über den Corona-Lockdown entnommen sein. Mit ihrem Mix aus einlullenden Reggae-Rhythmen und atonal angehauchten Melodiefetzen lieferten The Specials 1981 den Soundtrack dazu.

 

Gangs in den Strassen,
Viren in den Venen

Nicht weniger aktuell wirkt «Sign O’ The Times» von Prince. In diesem minimalistisch arrangierten Popsong kombiniert der wendige Amerikaner eine schnittige Funkgitarre mit hüpfenden Maschinen-Beats zu einem Schnappschuss des Erscheinungsjahres 1987. Im Songtext beherrschen Jugendgangs und religiöse Wirrköpfe die Strassen der Städte, in ihren Venen kreist das HI-Virus, wogegen es Mitte der 1980er-Jahre kein Antidot gab.

Nach «Sign O’ The Times» wirkte Prince nie wieder so politisch. Allgemein kehrte sich die Popkultur in den Neunziger- und Nuller-Jahren von den ganz grossen Zeitfragen ab. Nach der Jahrtausendwende zwangen sinkende Tonträgerumsätze die Musiker und Musikerinnen, sich als Brands neu zu erfinden, über die sich allerlei branchenfremde Produkte verkaufen liessen.

Sogar The Clash, einst bekennende Anti-Kapitalisten, gaben «London Calling» für einen Werbespot der Automarke Jaguar her. Dieser ideologische Fauxpas ist natürlich längst verziehen, und «London Calling» hat dadurch nichts von seiner verzweifelten Energie eingebüsst.

 

Bob Dylan stösst ins 
Vakuum hinein

Es stimmt aber nachdenklich, dass man 30 bis 40 Jahre zurückschauen muss, um passende Soundtracks zur aktuellen Corona-Krise zu finden. In dieses Vakuum hinein lanciert Bob Dylan seinen ersten neuen Song in acht Jahren.

Das 17 Minuten lange «Murder Most Foul» handelt von der Ermordung John F. Kennedys im Jahre 1963. Dylan nimmt zum Attentat wechselnde Perspektiven ein. Mal begleitet er den sterbenden Präsidenten beim Übertritt ins Jenseits, mal versucht er, sich dem Chaos zu entziehen, den Kennedys Tod nach sich zieht. Auch wenn die Thematik eine alte ist: Mit «Murder Most Foul» beschwört Dylan Gefühle von Verlust und Verlorenheit, die zeitgemässer nicht sein könnten. Dass er sein Publikum mit seiner kaputten Stimme auch nicht wie in vergangenen Jahren foltert, tut das Übrige, um «Murder Most Foul» als Momentaufnahme des Jahres 2020 zu empfehlen. Dylan klingt hier so tröstlich und engagiert wie seit Jahrzehnten nicht mehr.

Stichwörter: Popmusik, Musik

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