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Biel

Am Anfang war Mahler auf Kassette

Heute Abend tauft der Pianist Nicolas Engel sein neues Album «Play». Nach einer Zeit der Experimente ist dieses eine Rückkehr zu ruhigen, unaufgeregten Kompositionen. Man darf auch abwaschen dazu.

Nicolas Engel steht auf und greift dem alten Wiener in den Bauch.  copyright: frank nordmann/bieler tagblatt
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Die Stücke "One" und "Nine"

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Tobias Graden

Klavier spielen müsste man können! So wie Nicolas Engel. Da setzt er sich an den Flügel, rumpelt zuerst in den Bässen rum, eine Woge aus Tönen ergiesst sich in den Raum wie ein rasch heranziehendes Gewitter; dann arbeitet er sich in die Mitte der Tastatur vor, flink und wuchtig; plötzlich steht er auf, greift in den Bauch des Instruments, zupft dort an den Saiten, schlägt mit der flachen Hand darauf, das Spiel wird zur Klang- und Geräuschmalerei; er klopft an die verschiedenen Verstrebungen, die Klänge sind verschieden hoch, er deutet einen Beat an, der Flügel wird zum Perkussionsinstrument; dann wünscht sich der Fotograf die Hände näher bei sich, Engel greift in die rechten Tasten, nun klingts ähnlich wie beim Intro zum Song «The Caterpillar» von The Cure, die Töne perlen und tropfen, sie fallen herunter wie gläserne Kugeln an einem Christbaum, der geschüttelt wird; dann ist Schluss, Nicolas Engel richtet sich auf und lächelt. Drei, vier Minuten hat das gedauert, es war bloss eine Spielerei, und doch hat Engel eben mal einen guten Teil des weiten Raums seines Schaffens abgesteckt.

Allein nach 40 Gästen
Er hat schon viel mitgemacht, der Flügel im Dachstock von Nicolas Engel. Er hat reichlich Patina, ist an den Flanken abgewetzt, mehr als 100 Jahre alt ist er, den Hersteller, Franz Richter in Wien, gibt es nicht mehr. Engel hat ihn für 120 Franken in einer Internet-Auktion ersteigert, teurer war der Transport vom Graubünden nach Biel. Jede Taste ist spielbar, der Flügel lässt sich auch stimmen, und doch, die Dynamik lasse zu wünschen übrig, sagt Engel, das Spektrum der Klangfarben sei recht eng, bei leisem Spiel kommen nicht alle Töne gleich klar zur Geltung, der Geräuschanteil wird dann auch recht hoch.

Nicolas Engel wünscht sich eigentlich einen anderen Flügel, doch davon später. Vorerst muss er mit den Eigenheiten des alten Wieners klarkommen, und er hat sie nun auch verewigt: Auf «Play», dem neuen Album, das er heute Abend im Bieler Literaturcafé tauft, sind sie allesamt zu hören – das Album hat er selber aufgenommen, bei sich im Dachstock, mit dem alten Flügel, dieser Zufallsbekanntschaft.

Es ist eigentlich eine Rückkehr, dieses Album. «Solo Piano» hat Nicolas Engel auf das Cover geschrieben, zur Sicherheit. Denn leicht könnte man anderes erwarten, wenn man den Namen des 32-jährigen Pianisten liest. Seine letzte Veröffentlichung hiess «Sound and Coffee», benannt nach der experimentellen Konzertserie, die Engel zwischen Dezember 2015 und Juni 2016 im Literaturcafé veranstaltete. Mehr als 40 Musikerinnen und Musiker hatte er in diesem Zeitraum eingeladen, mit ihm zu spielen. Ein bunter Haufen kam da zusammen, nach und nach fanden sich fast alle ein, die hier in der Gegend das Feld zwischen Jazz und freier Improvisation beackern, dementsprechend ausufernd und auch schräg fiel das Tonwerk aus.

Modal von «One» bis «Nine»
«Play» ist das Gegenteil davon. Neun eher kurze Stücke finden sich darauf, sie sind zumeist ruhig gehalten, es sind eher einfache Stücke, in denen zwar den komponierten Teilen auch mal Improvisationen entwachsen, in denen Variationen aus Mustern entstehen, die aber modal gehalten sind, also die Tonart nicht wechseln. Man könnte auch sagen, sie sind lieblich und schön, Nicolas Engel würde dem nicht widersprechen. «Man soll diese Musik auch einfach zum Abwasch hören können», sagt er. Die Stücke tragen denn auch keine vielsagenden Titel, sondern sind schlicht durchnummeriert, von «One» bis «Nine».

Es trifft aber keineswegs zu, dass dies alles einfach so dahergespielt ist. Im Gegenteil. Ein gutes Dreivierteljahr hat Nicolas Engel daran gearbeitet, die Stücke immer wieder aufgenommen, verschiedene Versionen ausprobiert, aber nie war er wirklich zufrieden. Dann fand er, es sei nun an der Zeit, das Vorhaben zu Ende zu bringen und nahm alle Kompositionen an einem Tag auf.

Er wollte Musik, die tief geht
Nicolas Engel ist mit der Musik aufgewachsen. Aus Jugendtagen finden sich an der einen Wand zwar noch Aufkleber von Skatermarken, musikalisch gaben aber die Klassik und der Jazz den Ton an. Engels Grossvater war Organist in der Stadtkirche und Klavierlehrer, statt Crossover und Beastie Boys hörte Nicolas Engel Mahler-Symphonien ab Kassette. «Ich suchte nach Musik, die tief geht», sagt er.

Die rein klassische Welt an der Musikhochschule in Luzern war ihm dann aber doch zu starr, dieser Perfektionismus, das Bestehen auf Werktreue. Engel spielte mit Jazzern, improvisierte, und neben dem Bachelor in Klavier Klassik und dem Master in Musikpädagogik erwarb er auch den Mastertitel in Music and Art Performance. So bewegt sich Nicolas Engel zwischen zwei Polen: Das klassische Repertoire pflegt er derzeit für sich allein, und er ist offen für jegliche Form von Experimenten, arbeitet selber auch mit Elektronik, und er ist der Ansicht, die Musik entwickle sich ohnehin zu einer interdisziplinären Angelegenheit, die auch andere Medien miteinschliesse.

Der Steinway wächst
Entstanden ist die Musik auf «Play» auch auf der Strasse. «Dort kann ich ja schlecht Free Jazz spielen», sagt er. Auf der Strasse? Ja. Weil da ist ja noch die Geschichte mit dem Flügel: Engel würde gerne auf einem «richtigen» Flügel spielen können, auf einem Steinway. Doch dieser kostet 89000 Franken. Darum hat er das «Steinway Project» gestartet:Mit Strassenmusik verdient er sich das Geld für das Instrument. Zuerst spielte er auf einem kleinen Spielzeugpiano – schliesslich soll der Steinway-Flügel aus etwas Kleinem wachsen. Doch die Ausdrucksmöglichkeiten auf dem «Toy Piano»waren beschränkt, es verfügte bloss über zwei Oktaven, und der Klang war auch nicht über alle Zweifel erhaben. Seit Engel mit einem transportablen Klavier auftritt, nimmt er auch mehr ein. Dieses hat zwar zwei Oktaven weniger als ein herkömmliches Instrument, lässt sich aber trotz ansehnlicher Grösse auch transportieren, Nicolas Engel nimmt es gar mit in den Zug.

Etwas über 14000 Franken hat er sich so bislang erspielt, Engel rechnet damit, in zwei, drei Jahren das Geld für den Steinway zusammenzuhaben. Als erstes wird er dann ein Konzert mit diesem geben. Für Strassenmusik dürfte der Steinway eher nicht in Frage kommen. Das wird dann die Chance für den alten Wiener sein.

Info: Nicolas Engel: «Play» (Eigenvertrieb). Plattentaufe mit dem Perkussionisten Zad heute Abend um 21 Uhr im Literaturcafé, Obergasse 11, Biel.

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