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Literatur

Auch sie haben sich «in die Sterne geschrieben»

Früher wurden sie stiefmütterlich behandelt, heute ist es für sie schwierig, zu publizieren – dabei ist ihre Qualität unbestritten. Ein Versuch, Hanna Johannsen und Margrit Schriber nachträglich Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

Hanna Johannsen und Margrit Schriber haben beide ein umfangreiches und bemerkenswertes Werk geschaffen. Bild: zvg/Manfred Utzinger
  • Dossier

Charles Linsmayer

Bei genauem Hinsehen ist es unverkennbar: Bis zum Beginn der 90er-Jahre war es für Frauen in der Schweizer Literaturszene schwer, in die «Premium-Liga» aufzusteigen, die von Namen wie Urs Widmer, Adolf Muschg, Peter Bichsel, Jörg Steiner, Otto F.Walter, Franz Hohler, Hugo Loetscher oder Paul Nizon verteidigt wurde. 30 Jahre danach aber, während es von erfolgreich debütierenden Autorinnen nur so wimmelt, haben es die damals stiefmütterlich Behandelten schwer, überhaupt noch publizieren zu können – weil sie nicht zu den ganz grossen, unbestrittenen Namen zählen.

Hanna Johansen wurde 2013 nach 35 Jahren aus dem Hanser-Verlag hinausgeworfen, Margrit Schribers meisterliches Buch «Schwestern wie Tag und Nacht» fand 2014 bei Nagel & Kimche keine Gnade, Helen Meier, deren 90. Geburtstag am 17. April dieses Jahres von den Tamedia-Zeitungen und den NZZ-Medien ignoriert wurde, fand nach dem Untergang des Ammann-Verlags zehn Jahre lang für jene Bücher keinen Verlag mehr, die Christine Richard inzwischen mit Proust verglichen hat.

Diskriminierung aufgrund des Geschlechts?
Was in dieser Situation nottut, ist klarzumachen, dass die damalige stiefmütterliche Behandlung, die für eine gewisse Zeit zu einer Schweizer Zweiklassenliteratur auf der Basis des Geschlechts geführt hat, nichts, aber rein gar nichts mit der Qualität, der Grösse und der Bedeutung jener Schriftstellerinnen zu tun hat, die damals antraten, um dem Weiblichen den ihm gemässen Platz im Bereich Literatur zu erkämpfen. Was nicht mit Thesen oder Behauptungen zu bewerkstelligen ist, sondern ganz allein dadurch, dass wir die konkreten Umstände am Beispiel von zwei der wichtigsten noch lebenden Autorinnen jener Generation sichtbar und erkennbar machen.

In diesem Monat feiern Hanna Johansen und Margrit Schriber, letztere am 4. Juni, erstere am 17. Juni, ihren 80. Geburtstag. Was einen wunderbaren Anlass darstellt, Leben und Werk dieser Autorinnen, die ausser den Lebensdaten nichts verbindet als die über jeden Zweifel erhabene Qualität ihres Schreibens und das Vorliegen eines umfangreichen und höchst bemerkenswerten Oeuvres, näher unter die Lupe zu nehmen und zu zeigen, mit welch unbestreitbarer Berechtigung sie in die «Premium-Liga» ihrer Generation gehören würden.

Hanna Johannsen: Intellektuell und einfallsreich
«Ich stelle die Dinge so in Frage, wie Frauen das tun. Männer und Frauen leben in derselben Welt, aber sie erleben sie anders. Wir brauchen die Bücher der Männer nicht zu verbrennen – wir müssen sie ergänzen», meinte die Autorin 1993, die es als Frau und Ex-Frau von Adolf Muschg noch zusätzlich schwer hatte, Anerkennung zu finden. Und diesen ergänzenden Blick hat sie denn auch seit dem Erstling «Die stehende Uhr» von 1978 konsequent zum Tragen gebracht. Auf von Donald Barthelme und Grace Paley beeinflusste surreal-avantgardistische Weise zunächst, dann aber, von ihrer genuinen Erzählgabe getrieben, in einer Schreibweise, die Intellektualität mit Einfallsreichtum, formaler Eleganz und einer Offenheit für Geschichte und Gegenwart und vor allem für die immer neuen und immer wieder anderen Möglichkeiten weiblicher Existenz verband. In «Die Analphabetin» legte sie 1982 ihre eigene Kriegskindheit in Bremen einem kleinen Mädchen in den Mund, in «Zurück nach Oraibi» liess sie 1986 die Indianerin Polingaysi an der Zerrissenheit der Kulturen leiden, «Ein Mann vor der Tür» gab 1988 einer Frau eine Stimme, von der sie sagte: «Sie will nicht nur ein wenig lieben, sondern ganz. Sie ist ausgehungert nach einem Gefühl, das sie ausfüllt. Sie weiss, dass es falsch ist.» Auf bewegende Weise von der Sehnsucht handelte auch «Anderes Licht», der Text, mit dem Hanna Johansen 1993 in Klagenfurt Furore machte.

Und welche Autorin hat sich grossartiger mit den Themen Frau, Liebe, Scheitern, Rückzug zu sich selbst auseinandergesetzt als Hanna Johansen in der «Kurnovelle» von 1994 oder in der «Universalgeschichte der Monogamie» von 1997, die keineswegs ein trockenes Thesenbuch, sondern eine Ansammlung anrührender Frauenbiographien ist und im Roman «Lena» von 2002 eine späte Ergänzung fand: «Merkwürdig, dieses Gefühl von zu viel Zeit, jetzt, wo nur noch wenig übrig ist.»

Sie hat sich immer wieder neu erfunden
Nie hat Hanna Johansen sich wiederholt, jedes neue Buch öffnete eine neue Welt, und in ihren Kinderbüchern – erwähnt sei bloss «Omps – ein Dinosaurier zu viel» von 2003 – war sie ebenso grossartig in Sachen sprachliche Souveränität und Erzählreichtum wie in dem absurden Krimi «Der schwarze Schirm» von 2007, mit dem sie formal wieder an den Erstling von 1978 anknüpfte. Die Summe ihres Lebens und Schreibens aber zog sie 2014 in «Der Herbst, in dem ich Klavier spielen lernte», jenem Buch, das nach der Absage von Hanser bei Dörlemann erschien. Während sie Klavier spielen lernt und den Garten pflegt, tauchen da all die Figuren und Themen ihres Werks noch einmal auf: diskret, andeutungsweise und manchmal auch so, dass ein Geheimnis gelüftet wird, aber immer in Stil und Sprache einer Autorin, die, ob Frau oder nicht, ohne jeden Zweifel zu den ganz grossen, überragenden Namen ihrer Generation gehört.

Margrit Schriber:
 Aufbruch aus allen Fesseln
Es ist nach wie vor ein Wunder, wie diese Autorin 1976 mit 37 Jahren mit dem Roman «Aussicht gerahmt» auf einmal da war. Ohne Vorbildung, wie sie die Germanistin und Übersetzerin Hanna Johannsen vorzuweisen hatte, als Tochter eines kuriosen Wunderheilers in Brunnen, die als Bankangestellte einen Erzählband kaufte und beschloss: Das kann ich auch! Und wie sie es schon konnte in jenem Erstling: mit lauter Hauptsätzen, in hämmerndem Duktus und mit einer vereinsamenden jungen Frau im Mittelpunkt, die aus ihrem Villenfenster in die Welt hinausschaut, bis sie sich aus allen Bindungen zu befreien vermag. «Ein Mensch muss sich in die Sterne schreiben, damit es ihn wirklich gibt», sagte sie 2015, und letztlich ist dieser Aufbruch, dieses Sichselbstfinden, das ja jedesmal ein Befreiungsversuch oder der Befreiungsakt einer Frau ist, das zentrale Movens, das zentrale Ereignis in Margrit Schribers Werk, das inzwischen 18 Bücher umfasst und keineswegs zu Ende ist, sondern demnächst mit dem Roman «Sommer der Chormädchen» einen neuen Höhepunkt erreichen wird.

Einen geglückten und einen gescheiterten Aufbruch evoziert «Das Kartenhaus» von 1978, die literarische Umsetzung von Margrit Schribers Brunnener Kindheit im Banne eines ebenso originellen wie despotischen Vaters, dem sich die Tochter zu entziehen vermochte, während die Mutter in ihrem Dulden auf bewegende Weise das Schicksal einer ganzen Frauengeneration verkörperte. Lisa Plüss in «Vogel flieg» riskiert 1980 den Ausbruch in eine neue Freiheit, während die Wirtin in einem von Margrit Schribers grossartigsten Büchern, «Muschelgarten» von 1984, nicht aus ihrem Gefangensein herauskommt und in eine todesähnliche Erstarrung verfällt.

Grossartig und geradezu feministisch aggressiv, wie die zwei alten Frauen Marie und Agatha in «Rauchrichter» von 1993 vor dem Nachthimmel von Luzern, im Angesicht von schwarz in den Himmel ragenden Kaminfiguren, über die Welt und die Männer und Frauen zu Gericht sitzen. Eine Optik, die auch noch der Croupier-Leni eigen ist, die in «Schneefessel» 1998 den Stubenfliegen von der tödlichen Feindschaft zweier Frauen und dem Untergang einer Hoteldynastie erzählt.

Von der Faszination 
des Historischen
Und dann kam das Jahr 2006 und brachte eine neue, eine gereifte, eine noch kraftvollere Margrit Schriber hervor. Mit dem Griff in die Geschichte und mit einer Figur wie der misswüchsigen Anna Maria Schmidig, der Hauptfigur von «Das Lachen der Hexe», die 1753 von der bigotten Schwyzer Gesellschaft gnadenlos in den Tod getrieben wurde. 2008 folgte ein zweiter Mittelalterroman, «Die falsche Herrin», der in Anna Maria Inderbitzin eine clevere, mit allen Wassern gewaschene Figur hervorbrachte, die das Schwyzer Establishment und Herrschaften in halb Europa an der Nase herumführt und in einer filmreifen Szene im letzten Moment durch einen Liebhaber vor dem Schafott gerettet wird. Als hätte sie Lust bekommen, weitere ungewöhnliche, kämpferische Frauen als Mutmacherinnen vorzuführen, wandte sich Margrit Schriber 2009 zunächst der «hässlichsten Frau der Welt», der behaarten Julia Pastrana und ihrer Komparsin Rosie la Belle zu, um 2013 in «Syra die Stripperin» deren pures Gegenteil, Josefina Marty, die schönste Schauspielerin der Welt, ins Bild und in die Fänge eines skrupellosen Impresarios zu stellen. Dazwischen aber, 2012, machte sie in «Das zweitbeste Glück» Leny Bider, die unglückliche Schwester des Fliegerhelden Bider, auf eine Weise zum Thema, wie sie eindringlicher und bewegender nicht sein könnte.

Mit Neugierde
 zum erstaunlichen Spätwerk
Ihre Wandlungsfähigkeit und ihre Neugierde auf immer wieder andere Aspekte der weiblichen Erfahrung ermöglichte Margrit Schriber 2015 nochmals einen Neubeginn, der sie von den historischen Themen weg wieder zu selbsterfundene Konstellationen und Geschichten finden liess. Mit «Schwestern wie Tag und Nacht» schrieb sie 2015 ihren ersten Kriminalroman, der aber weit über die Möglichkeiten des Genres hinausgeht und das Schicksal zweier unterschiedlicher, aber in fataler Weise aneinandergebundener Schwestern darstellt, von denen am Schluss die eine zur Mörderin der anderen wird.

Mit Pia und Luisa, der hemdsärmligen Tankwartin und der liebesdurstigen Versicherungsagentin, stehen sich in Margrit Schribers jüngstem Buch, «Glänzende Aussichten» von 2018, wiederum zwei Frauen gegenüber, die wie so viele in ihrem Werk auf ihre je eigene Weise versuchen, sich in einer Welt der Männer als Frauen zu bewähren. Wobei die Arbeitsfelder Tankstelle und Waschanlage auf gekonnte, aber unaufdringliche Weise zeigen, wie die Frauen auf dem Weg zur Ebenbürtigkeit immer mehr Bereiche für sich in Anspruch nehmen, in denen sie jene Vision umsetzen, die Margrit Schriber ihnen in die Seele gepflanzt hat: «Ein Mensch muss sich in die Sterne schreiben, damit es ihn wirklich gibt!»

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