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Pandemie 

«Aufgeben? Niemals!»

Die Musikerin Jessiquoi hat ein hartes Jahr hinter sich, in dem sie mit Selbstzweifeln kämpfte. Gleichzeitig fand sie als Produzentin ein neues Standbein. Sie kreierte etwa das Audiodesign für die Eishockey-Übertragungen auf Mysports.

"Es fühlt sich an, als hätte man mir neine Superkraft genommen", sagt Jessica Plattner alias Sessiquoi, deren Liveauftritte zur Marke geworden sind. Bild: Nicole Philipp

Martin Burkhalter

Ihre Stimme zittert ein wenig. Jessica Plattner alias Jessiquoi fällt es sichtlich schwer, über das letzte Jahr zu reden. Und doch muss irgendwie alles raus.

Die Pandemie hat nicht nur die Kulturbranche lahmgelegt, sondern sie hat auch Zweifel gesät in den Künstlerinnen und Künstlern. Nagende Zweifel, die nicht einfach so weggehen, nur schon, weil der Wert der Kultur so sehr infrage gestellt ist wie noch nie. Die Welt dreht sich weiter – auch ohne Konzerte, Theater und Lesungen.

«Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich verunsichert, und es ist ein schreckliches Gefühl», sagt Jessica Plattner. «Aber was wäre die Alternative? Aufgeben? Niemals! Auch wenn es hart ist: Das, was ich mache, ist das, was ich bin. Ich kann gar nicht anders.»

So kennt man die Electro-Künstlerin – eigentlich. Entschlossen, ungeduldig, kämpferisch. Der «Berner Zeitung» sagte sie im Frühling 2019, als sie ihr erstes Album veröffentlichte: «Mir geht immer alles viel zu langsam.» Oder: «Ich denke gerne gross, träume gerne gross.»

 

Lady Gaga aus Bern

Und das darf sie auch. 2018 erhielt sie am M4Music-Festival den Preis Demo of the Year. Das Festival gehört zu den wichtigsten Sprungbrettern für junge Schweizer Musikerinnen und Musiker. Ihr Auftritt hat viel Aufsehen erregt damals, so, dass sie schon als «Lady Gaga aus Bern» gehandelt wurde. «Glitch Trigger», ihr Debüt, wurde dann ebenfalls überall wohlwollend aufgenommen.

Mit Jessiquoi hat Plattner, die in erst mit 15 aus Sydney nach Bern kam, eine hinreissende Kunstfigur geschaffen, die elegant mit all den populären Elementen wie Hip-Hop, Electronica und C-Pop spielt. Es ist eine bis an die Grenzen ausgereizte Künstlichkeit, die doch ganz eigen bleibt, eine eigene Soundwelt aus greller Extravaganz, ein wildes bis nervöses, aber klug durchkomponiertes Spektakel. Das kommt an. Letzten Sommer wäre sie nicht nur für das Gurtenfestival gebucht gewesen, sondern hätte auch einen Auftritt am Sound-of-the-City-Festival in Liverpool gehabt. Er hätte den Einstieg in den englischen Markt bedeuten können. Eine Gelegenheit, die vielleicht nicht so schnell wiederkommt.

 

Der Wettbewerb

«Ich denke heute noch oft an diesen verpassten Auftritt», sagt Plattner. «Was alles daraus hätte entstehen können.» Sie wisse gerade nicht, wie sie jetzt ohne Auftritte ihre Karriere vorantreiben solle. «Ich habe so viel Zeit in meine Liveshow investiert. Die Auftritte waren zu meiner Marke geworden, sie sind meine Stärke. Es fühlt sich an, als hätte man mir meine Superkraft genommen.»

Das Treffen mit Jessica Plattner findet in einem alten Fabrikgebäude im Schönegg-Quartier statt. Hier ist die Produktionsfirma Neon Ray Films eingemietet, mit der sie seit den Anfängen ihre spektakulären Videos produziert. Gerade hat sie und das Neon-Ray-Team ein weiteres fertig geschnitten. Eines, das innert zwei Wochen entstanden ist und das sie an einen Wettbewerb von Blue TV schickt. Swisscom hat über den Fernsehkanal eine neue Plattform für Schweizer Kunstschaffende geschaffen. Open Stage heisst das Format, in dem Künstlerinnen und Künstler aus den Sparten Kurzfilm, Musik und Comedy die Möglichkeit erhalten, ihre Werke übers Fernsehen und online zu zeigen. Über ein Onlinevoting wird dann der beste Beitrag je Sparte erkoren. Die Siegerinnen und Sieger erhalten einen Förderbeitrag von 15 000 Franken. Jessica Plattner muss sich gegen neun Mitbewerberinnen und Mitbewerber durchsetzen. Die Entscheidung fällt am 24. April.

 

Schuld und Zweifel

Das Geld könnte sie gut gebrauchen. Das gibt sie gern zu. Zwar hat sie Ende 2019 noch Fördergelder erhalten, dazu kamen einige Ausfallsentschädigungen und ein paar Einnahmen durch Onlineunterricht. Langsam gehen aber auch diese Reserven zu Ende. Seit Jahren braucht Jessica Plattner zum Leben gerade mal 1200 Franken im Monat. Unter anderem, weil sie immer noch in einer Wohngemeinschaft wohnt. «Irgendwann möchte ich aber gern eine eigene Wohnung haben», sagt sie. «Dafür müsste meine Karriere aber besser laufen.»

Plattner spricht davon, wie schwierig es ist, sich nicht den negativen Gefühlen hinzugeben, den Kopf über Wasser zu halten. Sie müsse sich immer wieder bewusst werden, dass es nicht ihre Schuld sei, dass sie nichts dafürkönne, dass ihre Karriere stillstehe.

Kraft schöpfen kann sie im Studio. «Wenn ich für mich allein Musik mache, ist alles in Ordnung. Musikmachen ist eine unerschöpfliche Energie», sagt sie.

Sobald sie ihr Studio aber verlasse und sich wieder mit der Realität konfrontiert sehe, ändere sich die Stimmung. «Plötzlich sehe ich wieder die Musikindustrie vor mir, sehe eine Masse an gesichtslosen Leuten, die meine Musik beurteilen und entscheiden, ob ich erfolgreich sein darf oder nicht. Dann stresst mich das wahnsinnig.»

Dann ist sie auch nicht davor gefeit, gleich alles infrage zu stellen. Dann beginne plötzlich die ganze Existenz zu wackeln. Dann denke sie auch über ihr Alter nach. Sie ist jetzt 32. «Es ist mir ein bisschen peinlich, das zu sagen, aber es ist die Wahrheit: Wenn ich beim Videoschnitt Fältchen im Gesicht sehe, realisiere ich, dass viele andere, die das Gleiche machen wie ich, zehn Jahre jünger sind als ich. Ich weiss, dass es mir egal sein sollte, aber die Musikindustrie ist erbarmungslos.»

 

Das Jahr der Prüfungen

Es hilft ihr, wenn sie dieses Jahr als eine Art Prüfung ansehen kann. Und es hat ja nicht nur Schlechtes gebracht. Plötzlich hatte sie Zeit, sich um neue Musik zu kümmern. Acht neue Songs sind entstanden. Sie habe sich auch technisch weiterentwickeln können, sagt sie. «Wenn ich auf mein erstes Album zurückschaue, merke ich es ihm an, dass ich noch am Lernen war.»

Es ist schon fast ein Klischee, aber das Jahr hat ihr auch neue Türen geöffnet. Der Kreativchef des Fernsehsenders Mysports ist ein Jessiquoi-Fan und hat sie gefragt, ob sie nicht das Audiodesign für die Einspieler bei den Eishockey-Übertragungen kreieren wolle. Sie nahm den Job an, obwohl sie zuvor noch nie einen Eishockeymatch gesehen hatte. Die Auftraggeber waren zufrieden:

«Es tut mir gut, zu wissen, dass ich mich auch in mir gänzlich fremde Welten hineinfühlen kann», sagt Jessica Plattner. Der Auftrag habe ihr Selbstvertrauen als Produzentin gestärkt. Es war schon immer ein Traum von ihr, etwa für Games Sounddesigns zu kreieren. Inzwischen hat sie auch das Berner Influx Studio, das auch für Musiker wie Gus MacGregor und Caroline Alves produziert, angeworben. Der Job könnte sich zum zweiten Standbein entwickeln.

Was für ein Jahr.

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