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Kolumne

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Von Zeit zu Zeit zieht es mich weg aus Biel, weg aus der Schweiz. Meist in eine Grossstadt. Rückzug in die Anonymität einer Grossstadt, nenn ich das. Ich suche die Distanz, ich suche den Raum zum Schreiben.

Donat Blum. Bild: zvg

von Donat Blum

Kürzlich traf es Istanbul. Drei Wochen verweilte ich dort. Es schneite viel. Oft nahm ich die Fähre vom einen Kontinent zum anderen, vom asiatischen zum europäischen Teil der Stadt. Meist ohne, dass ich dort etwas Bestimmtes gesucht hätte. Nein, einfach weil ich die Fahrten auf den Dampfschiffen liebte, die Vapur heissen und genauso aussehen: weisser Anstrich, spitzer Bug und obenauf Kamin und Kapitänskabine.

Selten war der Bosporus flach und königsblau. Auch an jenem Tag war er von eisigem Türkis und krause aufgewühlt. Schwärme von Möwen flatterten den Schiffen nach. Ich setzte mich auf eine der Kunstleder-Bänke, lehnte den Kopf ans Fenster und wärmte meine Hand an dem heissen Tulpenglas: Tee, alle tranken sie hier Tee. Die Menschen dieser Stadt, die zwischen den Welten pendeln, als wäre es das Normalste der Welt. Orient und Okzident. Mitten in der Stadt und doch auf dem Meer.

Ein Mann lachte mich an, vielleicht um die 45 Jahre alt. «Merhaba!» Er setzte sich mir gegenüber in die braune Schiffsbank, rührte in seinem Teeglas, lachte mir erneut mit den Augen zu. «Merhaba», sagte ich. Und als er weiter sprach, verlegen: «I don’t speak turkish, sorry!»

Auch er sprach nur spärlich Türkisch. «Syria», sagte er und zeigte auf sich, auf seine beige Stoffjacke, auf sein warmes Lächeln, den Dreitagebart. «Ooh,» sagte ich, an Bilder klaffender Ruinen denkend, Stoff- und Möbelfetzen. «Aleppo», sagte er und liess mit Händen und Geräuschen Bomben fallen: «Assad. Und du?» Er zeigte auf mich, der als Tourist zwischen den Welten pendelte. İsviçre – Schweiz: Kühe, Schokolade, Banken. Ich, der überallhin reisen darf, der sich Raum nehmen kann zu schreiben, zu romantisieren.

Eine kleine Formation Stare flog knapp über die Wasseroberfläche. «Family?», fragte ich und hoffte, dass er nicht allein in Istanbul war, dass er bei Verwandten unterkommen konnte. Sieben Finger zeigte er, zeichnete mit den Händen Stufen in die Luft: Sieben Halbwüchsige, sieben Kinder sind mit ihm nach Istanbul geflohen. Istanbul, wo sich die Welten treffen: Hügel voller Häuser, Moscheen, Kirchen, Synagogen.

48 schrieb er mit dem Kugelschreiber auf den Tisch und drückte ihn mir in die Hand. 28 schrieb ich daneben.

«How long Istanbul? Turkey? When?», fragte ich. Istanbul, Konstantinopel, Byzanz. «Seit 30 Tagen», sagte er und versuchte zu lächeln. Das Dampfschiff näherte sich dem europäischen Ufer. «Und in Zukunft?», deutete ich mit kreisenden Händen: «Turkey? Other Country?», Die Motoren heulten auf und das Wasser sprudelte weiss zwischen Schiff und Hafenmauer. Das wisse er nicht. Er zuckte mit den Schultern und versuchte, die Angst zu verbergen.

«Masa.» Er zeigte auf den Tisch. «Chai.» Er berührte das Teeglas. «Vapur.» Nun zeigte er um sich, zählte türkische Worte auf, die er im letzten Monat gelernt hatte.

Die Leute begannen aus dem Schiff zu strömen. Er stand auf. Ich stand auf. «Abdal», sagte er und schüttelte meine Hand. «Donat», sagte ich.

Info: Donat Blum studiert am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel «Literarisches Schreiben».

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