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Literatur

«Corbu» als Romanfigur

Der junge Bieler Verlag Éditions Parallèles hat Nicolas Verdans «Saga Le Corbusier» ins Deutsche übersetzt. Darin wird der Architekt aus La Chaux-de-Fonds farbig und lebendig erlebbar.

Le Corbusiers "Villa Schwob" in La Chaux-de-Fonds hatte kürzlich einen Auftritt im Showdown der Krimiserie "Wilder". In der "Saga Le Corbusier wird Charles Édouard Jeannerets distanziertes Verhältnis zur Heimat deutlich. Bild: bt/a

Clara Gauthey

Es sind Momente, in denen Le Corbusier, seit 56 Jahren tot, für uns lebendig wird: Stumm malend in seinem Pariser Atelier über den Dächern der Stadt, die Architektin Minette de Silva, welche er in Briefen «sein kleines Inselvögelchen» nennt, schaut ihm über die Schulter. Oder vor seinem minimalistischen Ferien-Blockhaus «Le Cabanon» an der Côte d’Azur, wo er zum letzten Mal ins Meer steigen wird, um darin zu ertrinken. Dann in Harlem bei einem Konzert Louis Armstrongs, wo er euphorisch tanzend verkündet: «Der Jazz ist der Architektur weit voraus!» Schwitzend auf staubigen Spaziergängen durch Indien oder Brasilien und immer wieder schweigend auf dem Fensterplatz eines Flugzeugs nach irgendwo. Wenn er schliesslich die kalten Finger seiner langjährigen, aufgrund seiner vielen Reisen und Abwesenheiten oft einsamen, toten Ehefrau Yvonne umschliesst.

 

Faktengefütterte Romanfigur

Nicolas Verduns Roman «Saga Le Corbusier», 2019 auf Französisch erschienen und nun von der Bieler Verlegerin Bernadette Fülscher übersetzt (siehe Infobox), ist eine Art langer Brief an ein geheimnisvolles «Sie», das es zu ergründen gilt. Dieses Sie heisst Charles-Édouard Jeanneret oder, kürzer, Le Corbusier. Der einflussreiche und umtriebige Architekt, 1887 in La Chaux-de-Fonds geboren, wird in diesem Roman vermutlich erstmals wirklich für die Nachwelt lebendig, und zwar als eine Art faktengefütterte Romanfigur.

Nicolas Verdan hält dabei die Kamera strikt auf die Hauptperson, vielfach liegen seinen Beschreibungen Fotos, auch von Corbusier selbst, zugrunde. Aber auch eigene Besuche der Schauplätze. Die regelmässigen Briefe an «Maman» am Genfersee fliessen ebenso ein wie seine Malereien, Notizbücher oder sein Proportionsschema nach menschlichem Mass, der «Modulor». Ein mehrseitiges Literaturverzeichnis listet alle zugrunde liegenden Schriften. Verdan schert sich nicht um Zeitachsen und setzt nicht auf Entwicklungen, sondern auf szenische Ausschnitte, springt wild zwischen den Jugendjahren und späteren Grossprojekten wie dem UN-Hauptquartier in New York oder dem Städtebaukonzept für die indische Stadt Chandigarh.

Dabei versucht er gar nicht erst, Dialoge aus dem Leben des Architekten zu imaginieren, vielmehr hält er sich ans eigene Zwiegespräch mit teilweise durchaus banal anmutenden Erkenntnissen: «Sie mögen die kupferne Farbe des Darjeeling.» Oder «Sie verabscheuen die Alpen, diese grässliche Wüste aus Stein.» Oder: «Sie vögeln auf schmutzigen Bettlaken in den Freudenhäusern von Paris.» Es herrscht ein Durcheinander der Städte: Dehli, New York, Paris, Athen, Vichy, Marseille, Chicago, Prag, Bogotá, Buenos Aires.

 

Von Charlotte bis Yvonne

Architektonische und künstlerische Werke mischen sich mit Frauen, die seine Linien kreuzen und, ebenso wie die Männer, nur mit Vornamen genannt werden: Josephine (Baker), die für ihn in einer Schiffskabine singt und sich nackt malen lässt, Innenarchitektin Charlotte (Perriand), die Schöpferin «seiner» Chaise Longue, Minette (de Silva), die Architektin, mit der ihn eine jahrzehntelange Freundschaft verbindet, Marguerite (Tjader-Harris) die Affäre, mit der er gefühlsmässig stark verbunden ist und Yvonne (Gallis), das Mannequin, mit dem er ab 1930 bis zu ihrem Tod 1957 verheiratet ist und die ihn erwartet, wenn er erschöpft ins Pariser Nest zurückkehrt. Mit der er die einfachen Freuden des Lebens im südfranzösischen «Cabanon» geniesst.

 

Der Opportunist

Zwischen den Weltkriegen und zeitweise als politischer Opportunist zählt für «Corbu» vor allem die Arbeit. «Mit wem kollaborierst Du?», fragt seine «Maman», als er offensichtlich mit dem französischen Vichy Regime auf Tuchfühlung geht und für Mussolini schwärmt. Le Corbusier will arbeiten, will bauen. Persönliche und historische Katastrophen haben höchstens am Rande Platz in seinem Leben, Kinder kommen nicht in Frage, ein Hund muss genügen. Das Buch zeigt Licht und Dunkel im Leben eines Mannes, den der Autor offensichtlich bewundert. Und es ist ein guter Ausgangspunkt für solche, die sich nicht für trockene Biografien interessieren.

 

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