Sie sind hier

Abo

Literatur

Das grausame Schicksal einer jungen Verliebten

«Aline», der Erstling von Charles-Ferdinand Ramuz, ist jetzt auf Deutsch wieder aufgelegt worden. 1905 markierte das Werk einen Wendepunkt in der Wahrnehmung der Welschschweizer Literatur durch Paris.

Charles-Ferdinand Ramuz, hier auf einem Bild von 1946 in seinem Arbeitszimmer in Pully, verlieh der Romandie in Paris erstmals eine eigene unverwechselbare Stimme. zvg/Schweizerische Nationalbibliothek

Charles Linsmayer

Als er am 13.September 1904 das Wort «fin» unter seinen im Jahr darauf publizierten Romanerstling «Aline» setzt, hat Charles-Ferdinand Ramuz laut einer Tagebuchnotiz «Lust zu weinen wie ein kleines Mädchen, das eine Seite in ihrem Schönschreibheft mit einem Tintenklecks verunziert hat». Die Traurigkeit überfällt ihn nicht nur, weil er nach Beendigung des Textes, den er als Hauslehrer in Weimar begonnen und am Genfersee zu einem ländlich-einfachen Gegenstück zum gängigen idealisierenden Gesellschaftsroman verknappt hat, von Selbstzweifeln heimgesucht wird, sondern weil ihm die Geschichte in ihrer strengen Konzentration, Schlichtheit und unaufhaltsamen Zwangsläufigkeit wohl auch selbst allzu grausam vorkommt.

Liebe zwischen arm und reich
Kaum siebzehn, lernt Aline mit Julien, dem Bürgermeisterssohn, die Liebe kennen. «Plötzlich spürte sie, wie ein Glück in ihr Herz eindrang, für das es zu klein war.» Sie treffen sich ohne Wissen von Alines Mutter, und hinter einer Böschung, wo das Gras dicht ist, gibt sie sich ihm schliesslich hin. Selig vor Glück, glaubt sie in den folgenden Wochen, als sie sich immer häufiger treffen, nun gebe es für sie beide «nur noch ein einziges Leben». Und sie kann sich überhaupt nicht vorstellen, dass der verwöhnte junge Mann Überlegungen anstellt wie: «Sie lässt alles mit sich machen, man hat’s leicht mit ihr, nur ist es immer das Gleiche.» Die Realität holt Aline erst ein, als sie schwanger wird und Julien auf ihr Geständnis hin schockierend Liebloses von sich gibt: «Verdammt! Du bist verrückt! Du bist schön blöd, das geht mich nichts mehr an! Mach, dass du fortkommst!»

Mit dem Gürtel am Apfelbaum
Für Aline, Tochter einer armen Witwe, wird das nun einsetzende trotzig-weinerliche Werben um das Mitleid und die Liebe des nichtsnutzigen Julien zu einem Ringen auf Leben und Tod. Ein Ringen, das damit endet, dass sie ihr neugeborenes krankes Kind in einer schrecklichen Szene unter einem Kissen ersticken lässt und sich selbst wenig später mit dem Gürtel an die untersten Ästen eines Apfelbaums hängt. «Da ihre Füsse den Boden berührten, hatte sie die Beine hochziehen müssen; und so blieb sie halb hängend an den Baumstamm gelehnt. Der Wind wiegte sie sanft; von weitem hätte man meinen können, da sei ein kleines Mädchen, das spielt, aber aus der Nähe sah man ihr bläuliches Gesicht und die glasigen Augen.»
Der treulose Herrensohn Julien aber, der sich darauf verlassen kann, dass man im Dorf der Meinung ist, «er habe sich richtig verhalten und überhaupt gingen solche Geschichten niemanden etwas an», feiert mit der «anderen», der standesgemässen Braut, eine prunkvolle Hochzeit. Als ein Freund ihn nochmals auf Aline anspricht, redet er sich heraus mit den Worten: «Weisst du, sie liess mich nicht mehr los; wie ein Blutegel, sage ich dir, so vernarrt war sie in mich.»

Denkwürdiger Erfolg in Paris
«Littérature romande? Connais pas!», konnte noch um 1900 der Pariser Kritiker Jules Lemaître ungestraft behaupten. Die Romands waren «Provinzler», die das Pariserische nachahmten und denen man das, bei Autoren wie Edouard Rod etwa, immer auch anmerkte. Bis dann der 1878 geborene Charles-Ferdinand Ramuz der Romandie in Paris erstmals eine unverwechselbare eigene Stimme verlieh.
Bald 115 Jahre sind nun vergangen, seit er mit dem Roman «Aline» auf den Plan trat. Und obwohl er ihm mit «Aimé Pache, peintre vaudois», «La Séparation des races», «La grande Peur dans la montagne», «Farinet ou la fausse monnaie», «Adam et Eve», «Derborence», «Si le Soleil ne revenait pas» oder «La Guerre aux papiers» weit gewichtigere Werke folgen liess, bedeutete eben doch diese einfache ländliche Geschichte etwas wie den Einzug der Romandie in die grosse französische Literatur.

«Niemand wird das lesen»
Gerade weil sie so einfach, aber mit unaufhaltsamer Konsequenz erzählt ist, weil sie ihre gesellschaftskritische Tendenz nicht explizit plakatiert, sondern in der Erschütterung verbirgt, die im Lesepublikum ausgelöst wird, war die Wirkung grösser als jene der meisten damals erschienenen Romane. Eine Wirkung, die von Ramuz gar nicht beabsichtigt war und die ihn selbst überraschen sollte. «Glücklicherweise wird das Buch niemand lesen», prophezeit er in der bereits erwähnten Tagebuchnotiz vom 13.September 1904, und noch 1927, als Bernard Grasset den Roman neu auflegen will, erklärt er in einem Brief an den Verleger, den Daniel Maggetti in seinem klugen Nachwort zur Neuausgabe zitiert, er könne nicht erkennen «inwiefern diese Geschichte die Leser noch interessieren könnte», die er doch geschrieben habe, als er noch «ein ganz kleiner Junge» gewesen sei.  
Wer immer zur deutschen Neuausgabe des Limmat-Verlags greift, wird Ramuz, auch wenn ihm die jahrzehntealte Übersetzung seines Romans da und dort etwas angestaubt vorkommen könnte, vehement widersprechen. Von Kindlichkeit oder Anfängertum kann da nämlich keine Rede sein, und das traurige Schicksal der unglücklichen Aline und ihres ungewollten Kindes wird auch heutige Leserinnen und Leser nicht kalt lassen.

Info: Charles-Ferdinand Ramuz: «Aline». Roman. Aus dem Französischen von Yvonne und Herbert Meier. Nachwort von Daniel Maggetti. Limmat Verlag, Zürich, 160 Seiten, Fr. 28.-.

Nachrichten zu Kultur »