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Filmfestival

Das Herz in Biel

Nach fünf Tagen ist das Festival du Film Français d’Helvétie gestern Abend zu Ende gegangen. Ein Blick zurück auf 
40 Filme, die Worte eines Stars und darauf, warum die Filmtage eine gute Übung sind.

Keine unliebsame Überraschung: Die Schutzmassnahmen wurden sorgfältig und unaufgeregt umgesetzt. Bild: Peter Samuel Jaggi
  • Dossier

Raphael Amstutz

Hätte es das Festival du Film Français d’Helvétie (FFFH) noch nötig gehabt, kommt es Samstagabend um kurz nach 20.30 Uhr zum Ritterschlag. Patrick Bruel, den man ohne Übertreibung einen französischen Star nennen darf, nimmt bei der Vorstellung seines Films «Villa caprice» das Mikrophon in beide Hände und sagt: «Dieser Einsatz und diese Initiative für das Kino, die ich von den Verantwortlichen spüre, diese Freundlichkeit, mit der hier die Gäste empfangen werden. Ich bin dem FFFH mit ganzem Herzen verbunden.»

Das Besondere an diesen Worten: Man glaubt sie ihm (das FFFH zahlt seit Anbeginn den Gästen keine Gage) und hat nicht den Eindruck, dass sie in jene Kategorie gehören, die Stars immer wieder bemühen: Jede Stadt, in der sie sind, ist die beste, jedes Publikum das fantastischste, der aktuelle Film gerade der wunderbarste.

Nach der Vorstellung und einem Podiumsgespräch, das bis fast um 23.30 Uhr dauert, kommt es vor dem Kino Rex zu einer Menschentraube: Fotos werden gemacht mit Monsieur Bruel, Autogramme sind gefragt. Obwohl das FFFH zurecht den Film ins Zentrum rückt (und das auch immer wieder betont), ist etwas Glamour ab und an eine durchaus feine Sache.

Das FFFH ist eine gute Übung in Sachen Fomo (the fear of missing out – die grosse Angst, etwas zu verpassen). Immer könnte man nämlich auch in einem anderen Film sitzen. Denn die Qualität hat offenbar auch in diesem Jahr wieder überzeugt. Beim Austausch vor, zwischen und nach den Vorstellungen hört man jedenfalls nie, dass ein Film gänzlich durchgefallen sei, dass frau eigentlich hätte den Saal verlassen wollen oder dass man sich ein Nickerchen gegönnt habe. Dazu kommt das wohl schönste Kompliment, das sich die Verantwortlichen in diesem Jahr vom Publikum wünschen konnten: Man habe zwar all die Sicherheitsmassnahmen gesehen, doch am Platz sei vom Coronavirus nichts zu spüren gewesen.

Apropos Publikum: Wie sagte Regisseur Bernard Stora («Villa caprice») doch so treffend: «Bei einem guten Drehbuch ist das Publikum immer Co-Autor.»

Das ist bei einem Festival nicht anders.

Mitarbeit: Clara Gauthey, Mario Schnell, Simon Dick und Sven Weber

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Die Preise

Neben dem Preis für den besten Kurzfilm (siehe Infobox rechts) wurden weitere Preise vergeben.

Der Preis des Forums für die Zweisprachigkeit (2000 Franken) gewinnt Noémie Merlant für ihren Kurzfilm «Shakira».

Der Prix Célestine (2500 Franken), der die Verbreitung eines Films auf deutschsprachigem Gebiet fördern soll, geht an «Petit Pays» von Éric Barbier.

Die Jugendjury hat entschieden, den Film «Profession du père» von Jean-Pierre Améris auszuzeichnen. mt/raz

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Trotzdem pünktlich

•Eine App und das Papier: Wer in die Säle wollte, musste aus Gründen der Rückverfolgbarkeit seine Daten hinterlassen. Dies geschah entweder via physischem Formular oder mit der App «Mindful Check-In». Zwar gab es immer wieder einige technische Probleme oder Apps, die einfach nicht wollten. Personal und Gäste blieben aber ruhig – und trotz einiger Verzögerung starteten praktisch alle Filme pünktlich. sd

Was fehlt

•Der Startschuss und die Wehmut: Es ist, wie es ist: Das Eröffnungsapéro, jeweils am Donnerstagabend im Duo Club, an dem alle dicht gedrängt und mit einem Glas in der Hand auf die Rede des Festivaldirektors warten, hat sehr gefehlt. Es ist stets ein magisches und familiäres Ereignis, wenn die Verantwortlichen mit dem Publikum beisammen stehen, um anschliessend den Eröffnungsfilm zu geniessen. Verständlicherweise wurde dieser Anlass wegen der Coronakrise abgesagt. Es bleibt ein bisschen Wehmut, aber auch die Vorfreude und die Hoffnung, dass das Apéro im nächsten Jahr wieder durchgeführt werden kann. sd

Die andere Zeit

•Die Vergangenheit und die Gegenwart: Wenn man in nur zur Hälfte gefüllten Sälen sitzt und der Sitznachbar auf Abstand gehalten wird, fällt einem beim Blick auf die Leinwand plötzlich auf, wie anders das Leben eben noch war. Es scheint, als stammten die Filme aus einer anderen Zeit: Niemand trägt eine Maske, es wird unbeschwert umarmt, geküsst und gefeiert. sw

Pragmatisch reagiert

•Die Sicherheit und die Organisation: Es kam dem Festival zugute, dass es seit seinen Anfängen durch eine ausgezeichnete Organisation und engagierte Mitarbeitende glänzt. Die zusätzlichen Sicherheitsmassnahmen, die infolge der Coronakrise zu treffen waren, liessen sich unaufgeregt integrieren. Wo nötig, wurde pragmatisch improvisiert: Wie verteilt man effizient Masken, ohne sie anzufassen? Natürlich mit einer Grillzange. Dies alles ermöglichte dem Publikum einen unbeschwerten Filmgenuss, der dankbar und rege in Anspruch genommen wurde. Es ist wichtig, dass die Menschen zu gemeinsam erlebter und gelebter Kultur zurückfinden können. sw

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Was filmisch in Erinnerung bleibt

«La Daronne»: Die Krimikomödie mit Isabelle Huppert als Übersetzerin bei der Pariser Drogenfahndung beweist, dass es für einen Film, der im Gedächtnis bleiben soll, vor allem eines braucht: eine gute Idee. Paart man diese mit französischer Leichtigkeit, entsteht ein Werk, das bestens unterhält. So geht französisches Kino. sd

«Lola vers la mer»: Lola lebt in einem Knabenkörper, fühlt sich aber als Frau. Eine Geschlechtsumwandlung steht bevor. Als ihre Mutter stirbt, trifft sie gezwungenermassen wieder auf ihren Vater, mit dem das Verhältnis arg zerrüttet ist. Eine berührende Reise  beginnt. raz

«Revenir»:Der Film trumpft mit kargen Kürzestdialogen auf, in denen dennoch alles enthalten ist, um die schwierige Beziehung zwischen Vater und Sohn zu erklären. gau

«Profession du père»: Einerseits Romanadaption, andererseits persönlich gefärbtes Porträt der eigenen Familiensituation des Regisseurs Jean-Pierre Améris mit einem dominanten Vater, der Kind und Frau mit wahnwitzigen Spielen auf Trab hält, demütigt und so ein Klima allgegenwärtiger Angst schafft. Améris Anliegen, die Perspektive des Kindes ins Zentrum zu rücken, packte das Publikum. Die Fragerunde schien kein Ende nehmen zu wollen, die Menschen  hatten es nicht eilig, nach Hause zu kommen. gau

«Schwesterlein»: Ein dichter Film, der einen mitnimmt, nicht nur, weil er von einem sterbenden Bruder und seiner sich für ihn aufopfernden Zwillingsschwester erzählt und davon, wie weh es tut, von der Bühne (des Lebens) abzutreten, sondern der auch zeigt, wie weh es tun kann, in einem Leben zu stecken, das sich nicht mehr richtig anfühlt. Der Film wird von der Schweiz ins nächste Oscarrennen geschickt. In Biel war das Interesse gross, obwohl vorwiegend deutsch gesprochen wird. Was einmal mehr zeigt: Das Publikum geht auch am Festival nicht in erster Linie wegen der französischen Sprache ins Kino, sondern aus purer Neugier am Kino – egal, woher es kommt. gau/mas

«Nuestras madres»:Im schlichten Erstlingswerk aus Guatemala geht es um einen jungen Forensiker, der Knochen ausgräbt von Opfern des Bürgerkriegs. Der Film fokussiert dabei auf die überlebenden Frauen. Ohne ein einziges brutales Bild zu zeigen, schafft es der Film, grosse Betroffenheit auszulösen. mas

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Ausgezeichnete Kürze

Anders, aber nicht schlechter – das Festivalmotto trifft auch auf den Wettbewerb der Kurzfilme (dotiert mit 3000 Franken) zu. Bis anhin im kleinen Kino Rex 2 gezeigt, bildete aufgrund der Abstandsregeln neu das deutlich grössere Lido 1 den Rahmen. Die räumliche Aufwertung hat der durchgehend hohen Qualität der gezeigten Kurzfilme konsequent entsprochen.

220 Werke wurden eingereicht, aus denen eine Vorjury die Auswahl für den Wettbewerb getroffen hat. Die Jury, die aus den sechs verbleibenden Kurzfilmen ihren Favoriten zu küren hatte, wurde in diesem Jahr bewusst aus einheimischen Fachkräften zusammengestellt: Nadia Chmirrou (Journalistin Radio Jura Bernois), Tamer Ruggli (Regisseur) und Dominic Schmid (freier Filmkritiker und Mitglied im Vorstand der Bieler Filmgilde).

Die grösste Einschränkung eines Kurzfilms macht gleichzeitig seinen besonderen Reiz aus. In maximal 30 Minuten ist es kaum möglich, eine umfassende, abgeschlossene Geschichte zu erzählen. Es sind in der Regel biografische Ausschnitte, kleine Begebenheiten, die auf die Leinwand kommen. Die Kunst der Macherinnen und Macher liegt darin, in der kurzen Zeit nicht nur eine Handlung zu etablieren, sondern auch das Vorher zu erläutern und das Nachher antizipieren zu lassen.

Die Jury hat mit «Lavande» von Alexandra Naoum einen Film prämiert, der mit zwölf Minuten nicht nur der kürzeste im Wettbewerb war, sondern diese Herausforderung ausgezeichnet gemeistert hat: Mit vielen Zeitsprüngen vor und zurück, wenigen, aber präzisen Dialogen, eindringlich agierender Besetzung und betörenden Bildern aus der sommerlichen Provence erschliesst sich dem Publikum nach und nach, wieso eine junge Frau Lavendel pflücken muss, ein junger Mann seine Sprache verloren hat und ein alter Mann einen Herzinfarkt erleidet. sw

Stichwörter: FFFH, Filmfestival, Filmtage

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