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Biel

Das Leben, ein Spiel

Seit 31 Jahren tourt der kleine Artistik-Zirkus «Chnopf» durch die Schweiz. Bis Sonntag gastiert er am Bielersee. Ein Besuch im Zirkusdörfli auf Rädern.

Seit sie gehen können stehen die drei Geschwister Luna, Levio (oben) und Lino Gioia auf der Bühne. Bild: zvg/Valentin Hehli
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Vera Urweider

 

Das Leben kann man wie ein Spiel betrachten. Man fängt bei Null an und sammelt Jahr für Jahr mehr Erfahrung. Punkte. Sterne. Und im Spiel wiederum braucht man Leben. Leben, um von Level zu Level zu kommen, Hindernis um Hindernis zu bewältigen, bis man – irgendwann - auf Level 2748 angelangt ist. «Level 2748» – so heisst die diesjährige Produktion des Zirkus «Chnopf». Das Ziel sind die vier Sterne. Der Einzug ins Schloss. Ob dies den elf Bühnenartisten und -musikerinnen gelingt?

 

«In unserem aktuellen Stück geht es um Lebensfreude und um Spielfreude. Und irgendwie auch darum, dass wir im alltäglichen Ernst des Lebens die Freude am Spiel nie ganz verlieren sollen.» Nik Huber gehört seit dieser Produktion neu zum Leitungsteam. Es ist insgesamt die siebte Tournee des heute 31-jährigen. Die allererste, da war er gerade mal 17 Jahre alt, bestritt er als Jungartist auf der Bühne. Die darauffolgende Lehre als Landmaschinenmechaniker führte ihn vor fünf Jahren zurück zum «Chnopf» – als Traktoren- und (Popcorn)Maschinenwart. Später half er mit beim Bühnenbau, dann entwarf er zwei Bühnenbilder und heute, wenn er nicht gerade mit dem «Chnopf» tourt, studiert er seit 2019 an der Zürcher Hochschule der Künste Bühnenbild. Es ist, als wären seine Etappen beim «Chnopf» Level für Level der Weg zu seinem heutigen Beruf gewesen.

 

Gemeinsam

Wagen an Wagen schmiegen sich die kleinen Zimmer auf Rädern und Zeit auf dem Bieler Joran-Platz aneinander. Montag ist Reise-, Aufbau- und Ruhetag. Geschminkt oder geprobt wird nicht. Am Morgen jeweils löst sich das Wagendörfli am vorangehenden Standplatz auf und trifft sich später am neuen wieder. Die Bühne, die Zuschauerbänkli, die Zirkusbar: Alles wird gemeinsam aufgestellt und hergerichtet. Aufbau, Küchenhilfe, Abwasch – jede und jeder hat ein Ämtli.

 

«Im Kern hat sich der ‹Chnopf› nicht gross verändert, seit ich selber auf der Bühne stand», so Huber. 1990 von einer kleinen Truppe aus Eltern und Kindern als Sommerferienspass gegründet, ist er heute ein schweizweit anerkanntes und gefestigtes Jugendförderprojekt im zirzensischen Bereich mit Schwerpunkt auf der Artistik. Doch bewältigen die vier Profis, die fünf Jungartistinnen, die weiteren Bühnendarsteller, das Backstage, Bar- und Küchenteam und das Leitungsteam eben nicht nur die Show gemeinsam, sondern auch den Alltag. Man lerne in der «Chnopf»-Zeit unglaublich viel, da sind sich alle Beteiligten einig. Man muss aufeinander eingehen, kann voneinander lernen, verbringt eine unvergessliche Zeit und verzichtet auf Einiges: Es gibt einen Wagen mit einer Dusche und einer Toilette für alle. Manchmal fehlt warmes Wasser. Der Platz im eigenen Zirkuswagenabteil ist sehr beschränkt, doch sorgfältig organisiert. Und man verzichtet auch auf seine Schulklasse. Oder gar auf ein ganzes Schuljahr.

 

Lebensschule

Ab April wohnt das gesamte Team für die zwei Probemonate im Zürcher Zirkusquartier. Ab Juni folgt die viermonatige Tournee. Lösungen für die Schülerinnen und Schüler gibt es fast immer. «In der ganzen Geschichte des Zirkus ‹Chnopf› gab es nur drei oder vier Jugendliche, die wegen der Schule nicht teilnehmen konnten», so Huber. In diesem Jahr sind zwei Gymnasiastinnen und zwei Gymnasiasten dabei. Die 16-jährige Luna Gioia entschied sich, das laufende Schuljahr zu wiederholen und so im Oktober nach der Tournee in eine neue Klasse zu kommen. «Das ist es mir definitiv wert», sagt Gioia. Ob sie nach der Matura dann tatsächlich die Zirkusschule oder Ähnliches machen will, das weiss sie noch nicht. Aber jetzt, jetzt ist ihr diese Erfahrung, das Leben im Zirkus, das Lernen auf der Bühne, wichtig.

 

Gioia – was italienisch «Freude» bedeutet und somit namentlich perfekt ins diesjährige Programm passt - kommt aus einer Artistenfamilie. Bereits fast ihr ganzes Leben macht sie Akrobatik im Zürcher Kinderzirkus Robinson. Schon ihre Mutter war als Kind im Robinson, der Vater ist heute Jonglagelehrer ebenda. Und Luna ist auch nicht die einzige Gioia im «Chnopf»-Team. Ihre beiden älteren Brüder Levio und Lino sind auch mit dabei, letzterer ist sogar schon zum dritten Mal beim «Chnopf».

Einer der drei anderen Gymnasiasten ist Simon Heigl aus Bern. Er entschied sich gegen das Wiederholen des Schuljahres und so ist bei ihm die Doppelbelastung ziemlich hoch. Er musste immer wieder online Prüfungen schreiben oder Vorträge halten. Momentan ist der Sekundaner an seiner Maturaarbeit und verbindet so Zirkus mit Schule: Die Erarbeitung seiner Luftringnummer ist gleichzeitig der Praxisteil seiner Arbeit, jetzt schreibt er am Theorieteil. «Ich bin selber dafür verantwortlich, dass ich den verpassten Schulstoff lerne», sagt Heigl. Für ihn und die beiden anderen Jungartisten, die sich gegen das Wiederholen entschieden hatten, gibt es jeweils donnerstags und samstags einen Schultag, ob Deutsch oder Mathematik.

 

Profis lernen von Anfängern

Da der Zirkus «Chnopf» eben ein Jugendförderprogramm und nicht bloss ein Freizeithobby ist, ist in jeder Bühnensparte auch ein Profi mit dabei. Anja Habegger unterbricht für die Zeit beim «Chnopf» die Zirkusschule in Montreal, Sibill Urweider steht als Musikverantwortliche auf der Bühne und Mayra Bosshard und Simon Thöni, beides Absolventen der Scuola Dimitri, sind für den Schauspielteil ziehend. Doch lernen die Jungen nicht nur von den Profis, sondern auch umgekehrt. «Von der Artistik habe ich ja fast keine Ahnung», so Thöni. «Es ist unglaublich, was die Jugendlichen da auf die Bühne bringen.» Diese Mischung aus Nachwuchszirkusartisten und jungen Profis, das mache den «Chnopf» aus.

 

Zurück auf Level 1. «Level 1», so hiess das erste Konzept des aktuellen «Chnopf»-Stücks. Gemeinsam wurde dann Level für Level das Stück «Level 2748» konzipiert und erschaffen. Die Musik wurde für die Artistinnen und Artisten komponiert, die Artistennummern zur Musik choreografiert. Jede und jeder auf der Bühne ist eine Spielfigur. Thöni und Bosshard sind die Figuren 0 und 1, sie sind der binäre Code des Stückes. Die Spielleiter. Ohne binären Code schmelzen die Spielfiguren jedoch und 0 und 1 kehren auf die Fläche zurück. Und die Jagd nach den vier Sternen geht weiter.

 

Info: Die Aufführungen des Zirkus «Chnopf» finden ab heute bis am Sonntag auf dem Joranplatz an der Bieler Schiffländte statt. Ein Covid-Zertifikat braucht es nicht, dafür aber eine Registrierung auf der Website www.chnopf.ch

 

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