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FFFH

Das Recht, selbst zu entscheiden

Nebst den Themen Migration und Familie haben sich am Festival viele der gezeigten Filmeum das Recht auf Selbstbestimmung gedreht. Dafür wurde und wird überall auf der Welt gekämpft – auch bei uns.

Jean-Pierre Améris ist am FFFH eine Spezialveranstaltung gewidmet worden, copyright: tanja lander / bieler tagblatt

Simone Tanner, Mitarbeit: Raphael Amstutz und Sven Weber

Ausgelassen tollen fünf wunderschöne Mädchen am Meer, gehen in den Kleidern baden, lassen sich von Jungen auf den Schultern tragen und haben Spass. Man wird sie danach nur noch selten lachen sehen, denn die Mädchen wachsen in einer konservativen Familie in einem kleinen Dorf in der Türkei auf. Ihr Verhalten wird nicht goutiert. Von diesem Tag an wird ihr Zuhause zum Gefängnis: verschlossene Türen und Gitterstäbe hindern die Kinder daran, die Welt und das Frausein zu entdecken.

Bestimmen, wen man heiratet
«Mustang» ist das eindrückliche und furiose Debütwerk der jungen Türkin Deniz Gamze Ergüven, die an einer französischen Filmschule studiert hat. Sie prangert darin das konservative Frauenbild und die Zwangsheirat in ihrer Heimat an. Trost finden die Mädchen beieinander. Immer wieder zeigt die Filmemacherin die eingeschworene Gemeinschaft, mal ineinander verheddert auf dem Fussboden liegend, mal beim Herumalbern und Tuscheln. Diese Bilder sind voller Sinnlichkeit, Wärme und Geborgenheit und stehen im krassen Gegensatz zum Schmerz und zur Härte der Erziehung. Durch die Kameraführung ganz nah an den Protagonistinnen wird man als Zuschauerin zur Komplizin der jungen Frauen und zur Mitleidenden. Das rebellische Ende lässt einen hoffen und zeigt, dass es sich lohnt, für seine Rechte einzustehen.

Bestimmen, wann man stirbt
Selbst bestimmen will auch Madeleine in Pascale Pouzadoux’ Film «La dernière leçon». Bei ihr geht es aber nicht um das Recht auf ein selbst bestimmtes Leben, sondern um das Recht zu sterben. In Frankreich ein noch brisanteres Thema, da Sterbehilfe verboten ist.
Madeleine ist müde und will gehen, was sie ihrer Familie am 92. Geburtstag mitteilt. Doch diese hat anfänglich überhaupt kein Verständnis für den Wunsch von Madeleine. Sie jedoch hält daran fest und bereitet minutiös ihren Abgang vor. Sorgfältig verpackt sie ihr Hab und Gut für die Erben, klebt gelbe Post-it-Zettelchen an die Pakete mit deren Namen. Gleichzeitig fällt es ihr immer schwerer, den Alltag zu meistern. Irgendwann realisiert ihre Tochter, dass sie sie nicht abhalten kann und respektiert ihren Entscheid. Der Regisseur zeigt auch das Leiden der Angehörigen auf und drückt zuweilen heftig auf die Tränendrüsen. Marthe Villalonga ist als liebenswürdige Oma, die darum kämpft, in Würde abzutreten, eine Wucht. Ein Film, der niemanden kalt lässt.

Freitod ist auch das Thema von Lionel Baiers «La Vanité». Er geht das Thema aber komplett anders an, mit viel schwarzem Humor: Ein kranker Mann mietet sich ein Motelzimmer, wo ihm eine fremde Sterbebegleiterin  in den letzten Stunden beistehen soll. Es läuft aber einiges schief. Da sein Sohn nicht auftaucht, muss der Stricher vom Nachbarzimmer als Zeuge herhalten. Baiers absurdes Kammerspiel erinnert aufgrund des farbenfrohen Dekors und der grotesken Szenen an die Filme von Pedro Almodóvar. Mit Carmen Maura konnte der Lausanner auch eine von Almodóvars Lieblingsschauspielerinnen für die weibliche Hauptrolle gewinnen. An ihrer Seite agiert der ehemalige Radiojournalist Patrick Lapp. Ein tolles Gespann.

Bestimmen, wen man liebt
Wie schwer Selbstbestimmung als lesbische Bauerntochter auf dem Land in den 70er-Jahren zu erreichen ist und wie viel Opfer sie von einem fordert, zeigt «La belle saison» eindrücklich. Catherine Corsini erzählt die Geschichte von Delphine, die hin und her gerissen ist zwischen dem Gefühl der Verantwortung den Eltern und dem Hof gegenüber und ihrer Zuneigung für Carole, einer Feministin aus Paris. Heftig werden Delphines Leben durchgerüttelt und ihre Prinzipien hinterfragt. Nach Momenten der grössten Trauer und der heftigsten Liebe wird klar:Nicht in grossen Worten und auf Pamphleten, sondern im täglichen Kampf um Anerkennung, Respekt und Freiheit zeigt sich die Stärke eines Menschen. 

Bestimmen, wer was erfährt
Auf eine ganz andere Weise handelt – der ebenfalls überzeugende – «Au plus près du soleil» von der Selbstbestimmung. Eine Untersuchungsrichterin trifft ungewollt auf die biologische Mutter ihres Adoptivsohnes, ihr Mann beginnt ein Verhältnis mit derselbigen – und mitten drin ist das Kind. Wer bestimmt die Regeln in diesem zerstörerischen Viereck? Wie frei sind die Menschen überhaupt? Eine Person wird die Geschichte nicht überleben.

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Kurzfilmwettbewerb
Der Samstagnachmittag gehört traditionell den Kurzfilmen. Aus438 eingesandten Werken wurden sechs gezeigt.

Die fünfköpfige Jury (Sänger und Schauspieler Carlos Leal, Regisseurin Stina Werenfels, Produzent Pierre-Alain Meier und die beiden Filmkritiker Jean-Philippe Bernard und Pascal Blum) entschied sich für «Bal de famille» von Stella di Tocco.

Sophie Vaslot, eine der Hauptdarstellerinnen, nahm den mit 3000 Franken dotierten Preis «Prix Découverte Bonhôte» entgegen.

Der rund 20-minütige Film zeigt eine junge Frau, die wegen einer Hochzeit von Verwandten nach Hause zurückkehrt und sich mit den alten familiären Mustern konfrontiert sieht, denen sie sich weiterhin nicht entziehen kann. Ein trotz der omnipräsenten physischen und psychischen Gewalt stiller Film. Starkes Kino, das viel zeigt, in dem vieles nur angedeutet wird.

Die fünf Konkurrenten («La séance», «L’étourdissement», «On The Road», «En bout de course» und «Foudroyés») bewegten sich inhaltlich zwischen morbider Fotografie, der Schwierigkeit, eine Todesnachricht zu überbringen, mordenden Frauen, den Folgen eines Betrugs und der Liebe zwischen zwei Aussenseitern. raz


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«Der grösste französische Filmemacher»

Jean-Pierre Améris ist am FFFH eine Spezialveranstaltung gewidmet worden. Statt über Filmtheorie zu sprechen, hat der Regisseur Privates offenbart.

Jean-Pierre Améris mag das FFFH – und die Menschen hier mögen ihn. Im vergangenen Jahr zeigte er mit «Marie Heurtin» eines der berührendsten Werke der Jubiläumsausgabe. Bereits 2012 war Améris mit «L’homme qui rit» zu Gast in Biel. In diesem Jahr gab es vom 54-jährigen Franzosen nun leichtere Kost:Die Komödie «Une famille à louer».

Am gestrigen Nachmittag stand Améris im Kino Rex 2 während knapp zwei Stunden ganz im Zentrum. Gezeigt wurden Ausschnitte aus seinen Filmen, der Regisseur erzählte von seinem Schaffen – und war dabei erfrischend offen. Er sprach von seinen Sorgen während seinen Jugendjahren (das Aussehen, seine Schüchternheit, die Konflikte in der Familie), seiner Flucht ins Kino («dort konnte ich mit allen schönen Frauen ein Rendez-vous haben»), seiner Angst, dass seine Filme nicht gemocht werden und seiner Unfähigkeit, zynisch zu sein. «Es ist eine grosse Arbeit, Leichtigkeit zu empfinden. Freude im Leben zu haben, das geht nicht von alleine.» Immer wieder sorgte er für Lacher, so auch mit der Bemerkung, Claude Chabrol habe ihm gesagt, er sei der grösste französische Filmemacher. Jean-Pierre Améris ist fast zwei Meter gross... Raphael Amstutz

Stichwörter: FFFH, Film, Kino, Biel, Festival, Filmfestival

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