Sie sind hier

Abo

Literatur

«Der Bauer füttert den Schriftsteller»

Um 4 Uhr morgens, bevor er die Ziegen melkt, schreibt Jean-Pierre Rochat Bücher. Preisgekrönte. Unter dem Titel «Melken mit Stil» ist einer seiner Romane jetzt auf Deutsch erschienen. Heute ist Vernissage in der Stadtbibliothek.

  • 1/8
  • 2/8
  • 3/8
  • 4/8
  • 5/8
  • 6/8
  • 7/8
  • 8/8
zurück

von Simone Tanner

Mit grossen Schritten geht Jean-Pierre Rochat auf seinen Hof zu. An seinen grünen Gummistiefeln Spuren von Gras und Erde. Ein Stiefelknecht vor der Tür hilft ihm, sie auszuziehen. Unter ihm liegt das Flachland, dahinter sieht man die Alpenkette. Atemberaubend. Aufgrund der exponierten Lage der Bergerie (1000 Meter über Meer) macht sich hier, oberhalb des Dorfes Vauffelin, auch die Bise bemerkbar. Drinnen wurde eingeheizt – mit Holz. Jean-Pierre Rochat behält seine schwarze Wollmütze vorerst auf. An ihr kleben ein paar Strohhalme.
In der Küche füllt er Kaffeepulver in das Moccakännchen. Es erscheint einem ganz klein in seinen grossen Händen. Viel wird nicht gesprochen. Rochat ist eher ein Mann des geschriebenen Wortes. Und einer der Tat. Seit 40 Jahren lebt er mit seiner Familie als Bauer auf der Bergerie. 60 Ziegen, 20 Kühe, 20 Pferde, ein Hund und ein paar Katzen. Mit der Zucht von Freiberger-Pferden hat es 1974 angefangen. Ein Aussteiger sei er gewesen, ein Hippie. Er träumte den Traum der  Autarkie und Autonomie. Zehn Jahre lang machte er alles von Hand, bestellte die Felder mit den Pferden. Fast 20 Stunden pro Tag habe er gearbeitet. «Als die Kinder kamen, ging es nicht mehr.» Heute lebt er vor allem vom Käse, der Wurstware und dem Brot, das er samstags auf dem Markt in Biel verkauft.


Wurst gegen Bücher
Das Faible fürs Bauern hat er vom Grossvater geerbt, der zwar selbst keinen Hof besass, «aber vor jedem Miststock den Hut zog». Gleichzeitig mit der Freude an den Tieren entdeckte Rochat auch sein Schreibtalent. Als Strafaufgabe mussten die Schüler damals bei einer Lehrerin Texte abschreiben. «Dabei habe ich gemerkt, dass es mir leichter fällt, wenn ich die Texte erfinde, statt sie zu kopieren», so Rochat.
Heute schreibt er jeden Tag, morgens von vier bis sechs Uhr, bevor er die Ziegen melkt. «Um das Gehirn anzukurbeln liest er. Ramuz, Proust, Thomas Bernhard. Den Grossteil der Literatur hat er von einem Buchhändler aus Biel. Dieser pflegt seinen Ziegenkäse und seine Würste mit Büchern zu vergüten.
So türmen sich in Rochats Schreibstube die Bücher fast bis unter die Decke: im Büchergestell, am Boden, auf dem Schreibtisch. Rochat weiss genau, wo welches liegt. Zum Arbeiten bleibt ihm nur ein kleines Plätzchen. Schreiben tut er alle seine Bücher von Hand und in seiner Muttersprache Französisch.
Den Kindergarten in Biel hat er noch auf Deutsch gemacht. In der französischsprachigen Schule ist es ihm später verboten worden, Deutsch zu sprechen. «Ich träumte noch lange auf Schweizerdeutsch», sagt er, auf Schweizerdeutsch mit rollendem R und leichtem Accent.
Bisher sind nur zwei seiner Bücher ins Deutsche übersetzt worden: 1984 die Erzählung «Hirt ohne Sterne» («Berger sans étoile») im Zytglogge Verlag, und soeben brachte der Bieler Verlag die Brotsuppe seinen Roman  «L’écrivain suisse allemand» unter dem Titel «Melken mit Stil» heraus. Übersetzt hat ihn Yla M. von Dach (siehe auch Infobox).
«Die Leute, die den Roman auf Deutsch gelesen haben, sagen, ich sei ein Philosoph», so Rochat, «von den Romands hat das keiner gesagt.» War das ein Grinsen, das sich da kurz hinter seinem Bart zeigte?


Ziegenkäse und Sehnsucht
Rochat gefällt die Übersetzung, auch wenn die deutsche Sprache für ihn zum Teil etwas zu distanziert wirkt. Yla M. von Dach schafft jedoch durch berndeutsche Einsprengsel Nähe zu den Menschen und zum Ort des Geschehens. Die Geschichte spielt auf einem Berg.
Der eine Protagonist ist ein Schriftsteller. Er hat sich in einem Wohnwagen auf dem Land eines Bergbauern niedergelassen. Den Wagen nutzt er als Liebesnest und Schreibstube zugleich. Die zweite, eigentlich zentralere Figur, ist der Bauer. Er erzählt auch die Geschichte, rückblickend, nach dem Tod des Schriftstellers. Die beiden ungleichen Männer –hier der geerdete Bauer, da der kosmopolitische Dichter – verbindet die Liebe zur Literatur.
Bauer und Schriftsteller? Ja, man finde in beiden Figuren ein wenig von ihm selbst, sagt Rochat. Er macht keinen Hehl daraus, dass sein Leben, sein Alltag auch in seinen Büchern auftaucht. Als Bauer füttere er den Schriftsteller nicht nur mit Brötchen, sondern auch mit Geschichten.  
So duften einem aus dem Buch frischer Ziegenkäse und blühende Blumenwiesen entgegen und umweht einen hie und da ein Hauch von Sehnsucht.  Ein sprachgewaltiges Buch, ungekünstelt aber kunstvoll, unzimperlich aber sorgfältig. In jedem Satz spürt man, dass hier ein genauer Spracharbeiter am Werk war, der viel Wert auf Rhythmus legt.


Zu glücklich zum Schreiben
Im Buch ist es der Schriftsteller, der dem Bauern «die Lust an Büchern einimpft». Doch dieser ist ein glücklicher Typ, was seiner Meinung nach ein Hindernis für die Schriftstellerei darstellt. Rochat spielt auch mit Klischees, zelebriert sie, um sie gleich danach wieder mit der Mistgabel aufzuspiessen.
Irgendwie beneiden sich die beiden ungleichen Freunde gegenseitig ein wenig, der eine den anderen für dessen Freiheit, seine Möglichkeit zu reisen, seine schönen Frauen. Der andere den einen für dessen Nähe zur Natur, sein Glücklichsein, eine andere Freiheit.
Jean-Pierre Rochat hat ein wenig von beidem. Oder? «Ich könnte nicht anders leben als hier oben», sagt er, streicht sich mit der Hand über den buschigen Bart, denkt nach und sucht nach den richtigen berndeutschen Worten. «Manchmal möchte ich auch reisen. Es gibt dem Denken eine andere Dimension.»
Mittlerweile liegt die Wollmütze neben ihm auf dem Küchentisch. Die Strohhalme kleben noch immer daran.
 
Info: Vernissage heute, 18 Uhr, Stadtbibliothek Biel. www.diebrotsuppe.ch
Jean-Pierre Rochat: Melken mit Stil, übersetzt von Yla M. von Dach, die Brotsuppe, Biel, 2015.



Jean-Pierre Rochat – Leben und Werk
• Jean-Pierre Rochat ist 1953 in Basel geboren, verbrachte seine Kindheit vom siebten Altersjahr an in Biel.
• Das letzte Schuljahr absolvierte er in Moron, wo er auch das Bauern erlernte.
• Später war er als Rinderhirte unter anderem in Freiburg unterwegs.
• 1974 hat er sich mit seiner Familie als Aussteiger, Bergbauer und Züchter von Freiberger Pferden in Vauffelin im Berner Jura niedergelassen.
• Seine zweite Passion ist das Schreiben. Er hat Erzählungen, einen Gedichtband und Romane veröffentlicht. Zuletzt erschien der Roman «Lapis-lazuli» (2015).
• Für die Erzählung «Berger sans étoile» (1984) erhielt er vom Kanton Bern einen Förderpreis. Für den Erzählband «Hécatombe» (1999) wurde er mit einem Literaturpreis des Kantons Bern ausgezeichnet und für den 2012 erschienenen Roman «L’écrivain suisse allemand» erhielt er den angesehenen Westschweizer Prix Michel Dentan.     sit

 

Nachrichten zu Kultur »