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Literatur

Der Putsch in der Kirche St. Agatha

Margrit Schriber legt mit «Die Vielgeliebte meines Mannes» einen entzückenden Dorfroman vor. Dieser steckt
voller Poesie, Musik, Leidenschaft und Dramatik.

Mit dem Mädchenchor nimmt das Unheil in Margrit Schribers neuem Roman seinen Lauf (Symbolbild). Bild: Anita Vozza/a

Charles Linsmayer

Als das Dorf am See – katholische Innerschweiz, 1960er-Jahre, der Pfarrer bestimmt, wos langgeht – einen Organisten sucht, meldet sich Charly, ein Musikstudent: Mokassins, wilde Mähne, Humphrey-Bogart-Hut. Man stellt ihn an, und es zieht ein neuer Geist in die Dorfkirche St. Agatha ein. Die Orgel wird renoviert, der junge Mann füllt die bislang leere Kirche mit seinem Spiel, und als er auch noch einen Chor aus lauter 13-jährigen Mädchen gründet und der Pfarrer einschreiten muss, weil statt der Kirchenlieder «Mit siebzehn hat man noch Träume» und «Liebeskummer lohnt sich nicht» gesungen wird, ist klar, dass der musikalische Putsch sich nicht auf die Orgelempore beschränken wird.

Chormädchen versus Organistenfrau

Charly ist längst das Idol der Chormädchen, die ihr Lebensgefühl aus der «Bravo» beziehen, die Favoritinnen, die beim Notenblättern assistieren dürfen, wechseln sich ab, und als es Kitty, die ihr Abendgebet vor dem Bild Alain Delons verrichtet, gelingt, Lolo von dem Posten zu verdrängen, wird aus dem Getändel blutiger Ernst.

«Die Frau nistet sich ein. Sie soll verschwinden», schreibt sie in ihr Tagebuch, als Charly Rosy, die 22-jährige Alleinsekretärin der örtlichen Parfumfabrik, heiratet. Schon bei der Hochzeitsfeier bricht der Konflikt aus, und wenig später muss die Organistenfrau zwischen den zornigen kleinen Furien Spalier laufen.

«Wenn du weggehst,
 sterbe ich»

Rosy aber, die Icherzählerin des Romans, hat mit Charly das grosse Glück gemacht. «Wenn er den Mädchen vorsang, überkam mich die unbändige Lust, seinen Kehlkopf zu berühren, um das Vibrieren seiner Stimme zu spüren.» «Wenn du weggehst, sterbe ich», sagt sie, als man sie bittet, «die Liebe zu erklären.» Sie fühlt sich als «glückliche Gattin eines genialen Musikers, der das Dorf verzaubert», und will lange nicht wahrhaben, dass Charly ihr die Chormädchen vorzieht und die ehemals so leidenschaftliche Beziehung zu ihr erkaltet. Die weit gefährlichere Rivalin aber erwächst Rosy, die ihrem Mann mit ihrer Hände Arbeit ein feudales Faulenzerleben ermöglicht, in Madame Benz, einer reichen Villenbesitzerin, die im Neoprenanzug auf Tauchfahrt geht, in lasziver Pose Brahms spielt und mittels dressierter Tauben eine wundersame Musik erklingen lässt.

Madame Benz
 macht das Rennen

Charly verliebt sich restlos in die exotische Diva und schwankt zwischen ihr und den Chormädchen willenlos hin und her. Kitty durchschaut das Spiel zunächst nicht und hält Rosy für die eigentliche Rivalin um Charlys Gunst. Erst als sie bereits auf Rosy geschossen – und danebengetroffen – hat, erkennt sie den Irrtum, dringt in die Villa von Madame Benz ein, verletzt sich aber tödlich, als sie durch die Panoramascheibe fällt, hinter der Charly und Madame Benz Klavier spielen. Mit der tragischen, aber irgendwie doch komischen Szene geht der «Sommer der Gesänge» in dem kleinen Dorf zu Ende. Madame kehrt von einer Tauchfahrt nicht zurück, Charly sucht bei Kittys Mutter Trost, Rosy aber zeichnet auf, was passiert ist und geht dann zu einem unbeschriebenen Blatt über: «Nur für mich. Nur für das neu in mir Erwachende.»

Mit 81 Jahren
 ein erfrischend neuer Ton

Es ist, als hätte Margrit Schriber die Themen, Motive und Schreibweisen, die ihr Werk bisher auszeichneten, beiseitegelegt und mit 81 Jahren wie eine junge Autorin ganz neu begonnen. Was sie da vorführt, ist atmosphärisch zauberhaft, eminent dialogisch in der Personenführung und versteckt, alles in pure Poesie tauchend, den Zynismus hinter einer fröhlichen Liebenswürdigkeit und die Bosheit hinter einem abgründigen Lächeln.

Schon diese Rosy, der in einem langweiligen Sekretärinnenleben das grosse Glück begegnet und die ihren Alltag in Lust, Freude und Musik verwandelt, bis sie dann, als sie fast zum Mordopfer einer Pubertierenden geworden ist, der Wahrheit auf die Schliche kommt und Kraft zu einem Neuanfang findet, ist eine wunderbar lebensvolle, vitale Figur voller Liebessehnsucht und naiver Glücksgläubigkeit.

60er-Jahr-Teenie
und exotische Diva

Kitty, zu der Charly eine Beziehung unterhält, die an die damals so erfolgreichen Jungmädchenfotos von David Hamilton erinnert, führt auf theatralisch-leidenschaftliche, köstlich satirische Weise die zwischen Weltschmerz und Glückseuphorie hin und her pendelnde Physiognomie und Befindlichkeit eines 60er-Jahre-Teenies vor. Köstlich auch diese Madame Benz, in der die ganze Hohlheit und der sentimentale Kitsch ihrer Epoche verkörpert sind und die das hinterwäldlerische Dorf wie eine Dompteuse in ihren Bann schlägt. Meisterlich gezeichnet ebenso der Organist Charly, der das Genie spielt und die Chormädchen zum Vibrieren bringt und dabei doch bloss ein Versager ist, der sich von seiner Frau aushalten lässt und ohne wirkliches Talent von einer Komposition träumt, mit der er berühmt wird.

Die heimliche Drahtzieherin all der Dramen

Das Schwärmen und Turteln der Chormädchen, die als ein «lebhafter Haufen von Titelbildmädchen aus der Bravo» beschrieben werden, kontrastiert wundervoll mit dem immer trostloseren Eheleben von Rosy mit ihrem ungetreuen Charly, während nichts ausgelassen ist, um den männerverschlingenden Charme dieser Madame Benz zu charakterisieren, die Rosy als «Vielgeliebte ihres Mannes» zugleich hasst und bewundert und die sich am Ende als heimliche Drahtzieherin der Geschichte und all der kleinen und grossen Dramen entpuppt, die diesem Roman, der leicht wie ein Frühlingswind daherkommt, doch immer wieder Momente von Abgründigkeit und grotesker Diabolik vermitteln. Wobei die Leichtigkeit vor allem auch dadurch bedingt ist, dass Rosy wie in einem imaginären Dialog immer wieder aus Kittys Jungmädchentagebuch zitiert, das ihr am Ende zugespielt worden ist.

Sie sei nun «alt genug, um Himmel und Hölle der Liebe zu begreifen», lässt Margrit Schriber sich auf dem Umschlag ihres Romans zitieren. Wozu man eigentlich hinzufügen müsste: «und jung genug, um das auch glaubwürdig und unverstaubt in Sprache umzusetzen.»

Info: Margrit Schriber, «Die Vielgeliebte meines Mannes», Verlag Nagel & Kimche, Zürich 2020,
172 Seiten, Fr. 28.90.

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