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Titelgeschichte

Der tote Schriftsteller macht Marketing

Friedrich Dürrenmatts «Der Richter und sein Henker» hat die Bielerseeregion in die Welt hinaus getragen. Mit einer Krimiwanderung wollen die lokalen Tourismusorganisationen nun an den Erfolg anknüpfen. Zum 100. Geburtstag des Autors ist noch mehr zu erwarten.Titelgeschichte

Gastmanns Haus in Lamboing, abgeschieden in der Ebene des Tessenbergs gelegen, spielt nicht nur im Buch «Der Richter und sein Henker» eine wichtige Rolle. Es ist auch Schauplatz der neuen Krimiwanderung.

Text: Andrea Butorin

Bilder: Peter Samuel Jaggi

Alphons Clenin, der Polizist von Twann, fand am Morgen des dritten Novembers neunzehnhundertachtundvierzig dort, wo die Strasse von Lamboing (eines der Tessenbergdörfer) aus dem Walde der Twannbachschlucht hervortritt, einen blauen Mercedes, der am Strassenrande stand.

Damit hat das Unheil im Krimi «Der Richter und sein Henker» von Friedrich Dürrenmatt bereits seinen Lauf genommen, befindet sich in besagtem Mercedes doch der ermordete Ulrich Schmied, ein Polizeileutnant der Stadt Bern. Die Hauptprotagonisten sind der alte, todkranke und scheinbar nach veralteten Methoden operierende Berner Kommissär Bärlach – der Vorgesetzte des Ermordeten –, dessen motivierter junger Gehilfe Tschanz und Gastmann, ein geheimnisvoller Vertreter der Hautevolee.

«Der Richter und sein Henker» hat die Gegend um Twann, Ligerz und Lamboing weltbekannt gemacht. Meist agieren die Protagonisten in der dem Seeland an nebligen Wintertagen so eigenen, leicht bedrückenden Stimmung, zwischendurch gelingt es der Sonne, den See zum Glitzern zu bringen. Dürrenmatt beschrieb, was er kannte und als Bewohner von Schernelz täglich beobachten konnte:

Sie fuhren gegen Ligerz hinunter, hinein in ein Land, das sich ihnen in einer ungeheuren Tiefe öffnete. Weit ausgebreitet lagen die Elemente da: Stein, Erde, Wasser. Sie selbst fuhren im Schatten, aber die Sonne, hinter den Tessenberg gesunken, beschien noch den See, die Insel, die Hügel, die Vorgebirge, die Gletscher am Horizont und die übereinandergetürmten Wolkenungetüme, dahinschwimmend in den blauen Meeren des Himmels.

Diese Aussicht auf den See, die Kühle der Twannbachschlucht und die Einsamkeit oben auf dem Plateau de Diesse sind auch bei Ausflüglern und Touristinnen beliebt, die «Der Richter und sein Henker» nicht gelesen haben. Am vergangenen Dienstagvormittag etwa passierten immer wieder mit Rucksack, Hut, Sonnenbrille und Stöcken ausgestattete Wanderer oder Spaziergängerinnen die kleine Brücke über den Twannbach, von unten, aus der Schlucht, oder von oben, von Magglingen her kommend.

Tourismus Biel Seeland und Jura bernois Tourismus luden die regionalen Medienvertreter ins Glasatelier in Lamboing, um ihnen ihr neustes Projekt vorzustellen. Dürrenmatt und sein Krimi sollen noch mehr Touristen in die Region locken: Die beiden Touristenorganisationen bieten neu gemeinsam eine Wanderung an, bei der die Teilnehmer den bärbeissigen Kommissär unterstützen und den Mordfall lösen sollen. Begleitet werden sie den ganzen Tag von einem Guide, und am Nachmittag erscheint mehrmals ein Schauspieler, der den Krimiwanderern verschiedene Rollen spielend Hinweise gibt.

Einer dieser Schauspieler ist Vincent Fontannaz. Er und Marianne Thomann haben die Krimi-Wander-Tour 2016, als das Schluchttheater «Der Richter und sein Henker» als grossen Erfolg direkt am Tatort durchführte, als Firmenanlass konzipiert. Thomann organisierte bereits eine ähnliche Tour, inspiriert vom Buch «Bergsturz auf Derborence» von Charles-Ferdinand Ramuz. Die Tourismusorganisationen haben das Projekt nun ausgebaut und erweitert, so dass auch Einzelpersonen daran teilnehmen können.

Wo ist Gastmanns Haus?
«Entschuldigung, können Sie uns sagen, wo sich das Haus von Gastmann befindet?» Marianne Thomann fragt den als Fischer verkleideten Fontannaz in der Twannbachschlucht nach einem weiteren Hinweis. Den Wanderern ist bereits klar, dass der ominöse Gastmann etwas mit dem ermordeten Polizisten zu tun hat. Ausführlich berichtet der Fischer über dieses und jenes, ehe er seinen Geheimweg zum gesuchten Haus preisgibt, das nächste Ziel der Tour.

Gastmanns Haus, abgeschieden in der Ebene zwischen Lamboing und Prêles gelegen, dient ranghohen Gesellschaftsvertretern für geheime Verhandlungen, die als kulturelle Gesellschaftsanlässe getarnt sind. Als Bärlach und Tschanz die Spur des ermordeten Berufskollegen verfolgen, begeben sie sich eines Abends zu diesem von Pappeln umrahmten Haus, in dem ein Konzert stattfindet. In der Dunkelheit schleichen die beiden um den Gitterzaun, als sie plötzlich von einem Hundeungetüm überrascht werden. Als das Vieh Bärlach angreift, erschiesst es Tschanz, was die Aufmerksamkeit der gesamten Gesellschaft auf sich zieht.

Ein besonderes Erlebnis der Krimitour ist, das «echte» Gastmann-Haus aufzusuchen. Um es aufzuspüren, wird den Wanderkriminalisten nebst den Hinweisen des Fischers eine originale Landkarte von 1948 zur Verfügung gestellt, dem Jahr, in dem Dürrenmatts Buch spielt.

Wer vor dem Haus steht, hat keine Zweifel: Genau hier muss einst auch Dürrenmatt gestanden sein und seine Beobachtungen notiert haben. Wer damals in jenem Haus gelebt hat und wer Dürrenmatt für die Figur von Gastmann inspiriert hat, ist nicht überliefert.

Heute jedoch lebt eine junge Familie darin, die das Haus gerade umfassend saniert. Es steht immer noch genau so abgeschieden in der Tessenberg-Ebene. Aber zumindest wirkt es bei Tageslicht nicht so düster wie im Buch beschrieben. Bissiger Hund streunert auch keiner um den Zaun herum. Obwohl ...

Der Kanton hilft mit
Auch die Tourismusvertreter betrachten es als Glücksfall, dass die Bewohner damit einverstanden sind, dass ihr Haus als Kulisse für die Krimitour dient. Für Guillaume Davot, Direktor Jura bernois Tourisme, gibt es viele gute Gründe, das Buch im Rahmen der Krimiwanderung nun auch Einzeltouristen zugängig zu machen: Der Bezug des Autors zur Region, da Dürrenmatt erst in Schernelz und dann auf der Festi wohnte. Der Erfolg des Schluchttheaters und auch das anstehende Jubiläum, wäre Dürrenmatt in zwei Jahren doch 100 Jahre alt geworden.

Die Krimiwanderung ist ein Unterstützungsprojekt des Kantons Bern, erklärt Oliver von Allmen, Direktor von Tourismus Biel Seeland. Denn die beiden Tourismusorganisationen erhielten 2017 vom Kanton im Rahmen der neuen Regionalpolitik, also als drei Jahre dauerndes Projekt, 200 000 Franken gesprochen. Das Ziel ist, den Tourismus in der Region zu fördern und verstärkt zusammenzuarbeiten. «Wir sind verpflichtet, jedes Jahr drei konkrete, substanzielle Projekte auszuarbeiten», erklärt von Allmen. Konkret etwa die Nourritour durch die Bieler Altstadt oder nun eben die Krimiwanderung. Deren Ausarbeitung war Aufgabe von Sabine Gasser.

Dürrenmatt wird in der Region auch künftig als inoffizieller Marketingdirektor amten: So will das Schluchttheater nächstes Jahr mit «Romulus der Grosse» an die Erfolge von 2016 anknüpfen. Und die beiden Tourismusorganisationen planen einen Themenweg.

Eine mögliche Steilvorlage dafür liefert wiederum Dürrenmatt. Oder genauer gesagt Tschanz:

Er hielt in Ligerz vor der Station, stieg dann die Treppe zur Kirche empor. Er war ruhig geworden. Der See war tiefblau, die Reben entlaubt und die Erde zwischen ihnen braun und locker. Doch Tschanz sah nichts und kümmerte sich um nichts. Er stieg unaufhaltsam und gleichmässig hinauf, ohne sich umzukehren und ohne innezuhalten. Der Weg führte steil nach oben, liess Rebberg um Rebberg zurück.

Und mit jedem weiteren Schritt wurde das Unheil grösser.

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«Man muss kein Buch lesen, um mitzumachen»
Die Idee, «Der Richter und sein Henker» als Erlebniswanderung anzubieten, hatten die Wanderführerin Marianne Thomann und ihr Kollege Vincent Fontannaz. Sabine Gasser, die für Tourismus Biel Seeland und Jura bernois Tourisme arbeitet, hat aus dem einmaligen Firmenanlass nun ein Angebot für alle gemacht.

Sabine Gasser, Sie haben die Krimiwanderung für ihre beiden Arbeitgeber Tourismus Biel Seeland und Jura bernois Tourisme konzipiert. Warum kommt so ein Angebot erst jetzt? Das liegt doch auf der Hand, Dürrenmatts Krimi mit einem touristischen Angebot zu verbinden?
Sabine Gasser: Meine Stelle als Bindeglied zwischen beiden Tourismusorganisationen ist vor anderthalb Jahren neu geschaffen worden. Die Entwicklungsphase der Krimiwanderung dauerte rund ein Jahr und war mit viel Aufwand verbunden:Wie kann das genau realisiert werden?Wie wird es finanziert? Das musste nebst vielem anderem geklärt werden.

Aber schon vor 50 Jahren hätten Touristiker auf die Idee kommen können, das Buch als Vorlage für ein touristisches Angebot zu verwenden.
Viele denken beim Stichwort Dürrenmatt «phu, Literatur!» und sind nicht gerade begeistert. Es braucht daher erst mal eine gute Idee, wie man das attraktiv umsetzen kann. Ich finde, wir haben einen Weg gefunden, damit es Spass macht und man keine Angst haben muss, man müsse erst ein Buch lesen, um mitmachen zu können. Deshalb: Lieber spät als nie.

Was genau hat den Anstoss zum Projekt gegeben?
2016 lief das Schluchttheater in Twann mit «Der Richter und sein Henker» sehr erfolgreich. In jenem Jahr haben die Wanderführerin Marianne Thomann und ihr Kollege, der Schauspieler Vincent Fontannaz, diese Tour aufgrund einer Firmenanfrage konzipiert und einmalig durchgeführt. Für eine Weiterentwicklung fehlten ihnen aber die Mittel, weshalb sie sich an verschiedene Organisationen wandten. Unabhängig davon haben auch zwei Frauen vom Plateau de Diesse Jura bernois tourisme vorgeschlagen, einen Themenweg zu Dürrenmatt zu machen. So merkte man, dass die Idee Potenzial hat. Ausschlaggebend war dann, dass im Jahr 2021 der 100. Geburtstag von Dürrenmatt ansteht.

Für eine Einzelperson kostet die Teilnahme an der Krimiwanderung 145 Franken. Ist das nicht etwas viel?
Die Frage stellt sich immer wieder. Aber wer ein Krimidinner bucht, das meist zwei, drei Stunden dauert, gibt rund 100 Franken aus. Hier ist man den ganzen Tag unterwegs, erlebt etwas und wird verpflegt. Man wird den ganzen Tag von einem diplomierten Wanderleiter begleitet, am Nachmittag taucht ein Schauspieler immer wieder auf, es ist ein Mittagessen inbegriffen, der Eintritt in die Schlucht und am Schluss zwei Gläser Bielerseewein. So gesehen ist es gar nicht so teuer;die ganze Entwicklungsphase, die Werbung oder die Schulung der Schauspieler haben wir gar nicht erst verrechnet.

Die Krimiwanderer haben das Ziel, den Mörder zu stellen. Was tun Sie mit den belesenen Wanderern, die genau wissen, wer der Mörder ist?
Denen sagen wir, dass sie die Auflösung nicht verraten sollen. Wir haben eine Demowanderung mit Dürrenmattkennern gemacht. Sie fanden es interessant, obwohl sie das Werk gut kennen. Die ganze Aufmachung und der Besuch der Originalschauplätze kamen gut an, sie haben bei den Dialogen gut mitgemacht und fanden es spannend, auf einer Originalkarte von 1948 das Haus von Gastmann zu suchen. Der Besuch dieses Hauses steht am Nachmittag der Tour auf dem Programm, wie auch das Suchen des Tatorts. Auch wer die Geschichte schon kennt, erinnert sich oft nicht mehr an alle Indizien und entdeckt durch die Interventionen am Vormittag viele neue Sachen.

Gab es rechtliche Probleme, weil Sie das Werk von Dürrenmatt verwenden?
Es war eine Herausforderung, das Werk mit einem touristischen Angebot zu verbinden. Wir berufen uns einerseits direkt auf das Buch und haben andererseits auch zusätzliche Szenen erfunden. Wir pflegen aber einen guten Kontakt mit dem Centre Dürrenmatt Neuchâtel sowie dem Diogenes Verlag. Sie haben uns viel Know-how mitgegeben, und es ist ja auch in ihrem Interesse, Dürrenmatt den Leuten näher zu bringen und sie zu begeistern. Schliesslich war er sehr vielseitig und hat mehr zu bieten als bloss Material für den Literaturunterricht.

2021 ist wie erwähnt ein Dürrenmatt-Jubiläum, und das Schlucht-Theater wird aus diesem Anlass «Romulus der Grosse» aufführen. Was planen die Tourismusvereine?
Wir haben tatsächlich ein weiteres Projekt zum Thema Dürrenmatt in der Planung, es geht in Richtung Themenweg. Wir stehen mit ersten Partnern in Kontakt, aber die Details sind noch offen.

Werden Tourismus Biel Seeland und Jura bernois Tourisme weitere gemeinsame Projekte durchführen?
Letztes Jahr haben wir geführte Touren in der Zuckerfabrik Aarberg organisiert, das wiederholen wir dieses Jahr. Dann wird im September das Magazin «Terroir» lanciert, bei dem die beiden Vereine nebst Jura Tourisme, beiden Pärken (Chasseral und Doubs), la Fondation Rurale Interjurassienne und Neuchâtel Vins et Terroir mit an Bord sind. Die Zusammenarbeit wird auch künftig fortgeführt.

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Ein Krimi als Broterwerb
Sein Wohnort am linken Bielerseeufer hat Friedrich Dürrenmatt zum Krimi von Weltruhm inspiriert.

Friedrich Dürrenmatt, gerade mal 29 Jahre alt, lebte mit seiner Frau Lotti und den Kindern Peter und Barbara nach dem Umzug von der Obergasse in Schernelz an den Festiweg, als er 1950 seinen ersten Krimi schrieb und ihn oberhalb seines Wohnhauses, an der Strasse von Twann nach Lamboing, beginnen liess.

Seine Theaterstücke hatten ihm nicht den Durchbruch gebracht, und darum schrieb er, um seine wachsende Familie finanziell über Wasser zu halten, für den «Schweizerischen Beobachter» einen Kriminalroman in Fortsetzungen – 1951 sollte seine Tochter Ruth geboren werden.

So schweizerisch das Ambiente, so international die Konstellation, benutzte der Krimi-Neuling doch eine Idee von Georges Simenon und Dashiell Hammett, die darin besteht, dass zwei Parteien miteinander im Clinch stehen und die eine die andere liquidieren will, indem sie einen Mord so inszeniert, dass die andere als Täter dasteht.

Dürrenmatts Kommissar Bärlach, der in dem Roman erstmals auftritt, hat es mit einem Kriminellen namens Gastmann zu tun, der sich in den Kopf gesetzt hat, ein perfektes Verbrechen zu begehen. Obwohl Bärlach weiss, dass dieser der Mörder ist, bringt er den Polizisten Tschanz dazu, Gastmann zu erschiessen, um den Verdacht von sich abzulenken. Auch Tschanz gelingt aber das perfekte Verbrechen nicht, entlarvt ihn Kommissar Bärlach doch in Dürrenmatts nächstem, ebenfalls vom «Beobachter» publizierten Krimi «Der Verdacht».

Film wirkt älter als das Buch
So martialisch der Plot, so humorvoll die Schreibweise. Auf jeder Seite gibt es etwas zu lachen, und etwas vom Lustigsten ist der Einfall, dass Dürrenmatt sich selbst von Bärlach und Tschanz verhören lässt und zu Protokoll gibt, das er ausser Bärlach der einzige ist, der den genialen Kriminellen Gastmann durchschaut. So zufällig und improvisiert seine Entstehung anmutet: Als Dürrenmatts berühmtester Krimi hat «Der Richter und sein Henker» den Ruhm der Theaterstücke längst eingeholt und gehört, in viele Sprachen übersetzt mit einer Gesamtauflage von über fünf Millionen zu den meistgelesenen Büchern der Weltliteratur und vielerorts auch zur Schullektüre.

Wobei es vielleicht gerade seinen Erfolg ausmacht, dass der Roman sich der Technik des Kriminalromans in vielerlei Hinsicht verweigert und es schafft, die Leserin, den Leser immer wieder neu in die Irre zu führen.
1975, ein Vierteljahrhundert nach seinem Entstehen, ist Dürrenmatts erster Krimi vom Schweizer Schauspieler und Regisseur Maximilian Schell in einer aufwendigen Produktion zum wiederholten Mal verfilmt worden. Zu Musik von Ennio Morricone wirkten Stars wie Helmut Qualtinger, Martin Ritt, Lil Dagover, Donald Sutherland, Jacqueline Bisset und nicht zuletzt Dürrenmatt selbst in der sich im Roman selbst zugewiesenen Rolle mit. Wer den Film heute anschaut, wird aber wie in so vielen ähnlichen Fällen auch zur Erkenntnis kommen, dass er sehr viel schneller gealtert hat als der immer noch frisch und spannend wirkende Roman. Charles Linsmayer

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