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Ausstellung

Die Geburt des nackten Mannes

«Her Take: Maskulinität überdenken», lautet das Motto der aktuellen Ausstellung im Bieler Photoforum Pasquart.
 Die Fotojournalistin Sara Terry hat sich dafür Botticellis «Die Geburt der Venus» vorgenommen.

Finde die zehn Unterschiede: Sara Terry hinterfragt in «ReThinking the Birth of Venus» den männlichen Blick in der Kunst anhand von Botticellis Meisterwerk (siehe unten). Bild: ZVG/Sara Terry

Helen Lagger

Eine mit vielen Blumen dekorierte Gartenlaube gibt den Blick auf einen nackten Mann frei. Er ist kein Adonis, sondern ein durchschnittlicher Typ. Scheinbar verwundert über sich selbst, blickt er in den Spiegel, den ihm eine Frau mit langen grauen Haaren entgegen hält. Die gleiche Frau, etwas anders frisiert, pustet ihm Luft zu.

Vom Kriegsterrain
ins Minenfeld

Es ist Sara Terry, die Künstlerin selbst, die sich für diese inszenierte Fotografie in die Rolle zweier Göttinnen hineinversetzt hat. Das auf den ersten Blick sonderbare Geschehen findet in ihrem Garten in Los Angeles statt. Die 1955 in Kalifornien geborene Terry ist ursprünglich Fotojournalistin und Filmerin und bekannt für ihre ausführliche Auseinandersetzung mit den Nachwirkungen von Kriegen. Für das Projekt «(Re)Thinking The Male Gaze» – auf Deutsch: «Den männlichen Blick neu denken» hat sie das Kriegsterrain zugunsten eines anderen Minenfeldes verlassen: Sie widmet sich den Geschlechterverhältnissen in Meisterwerken der Kunstgeschichte.

Ihre Serie ist zurzeit in der Ausstellung «Her Take» gemeinsam mit Fotoarbeiten von sechs anderen Fotografinnen im Photoforum Pasquart zu sehen. Alle Fotografinnen arbeiten für die berühmte, 2001 nur zwei Tage vor dem 11. September in New York gegründete Fotoagentur VII, die auf Kriegsbilder spezialisiert ist. Die Frauen, die sich in einem nach wie vor männerdominierten Umfeld bewegen, präsentieren in dem kollektiven Projekt mit dem Untertitel «Maskulinität überdenken» verschiedene Bilder von Männlichkeit.

Tätowierte Hipster
stellen Manet nach

Sara Terrys Umdeutung von ikonischen Werken der Kunstgeschichte mag auf den ersten Blick etwas plakativ wirken. Ein berühmter Fotojournalist als Odaliske à la Ingres? Tätowierte Hipster, die «Das Frühstück im Grünen» von Manet nachstellen? Ein mittelmässiger Mann anstelle der schönen Liebesgöttin Venus?

Das hat Humor, zweifelsohne. Doch Terry geht es um mehr. «Den männlichen Blick kennen wir seit Jahrhunderten», sagt sie. Diesem setze sie mit ihren Umdeutungen der Bilder etwas entgegen. «Es sind, die Mächtigen, die entscheiden, wie etwas dargestellt wird», ist sie überzeugt. Sie verweist auf Cleopatra, die eine kluge Frau und grossartige Strategin gewesen sei. «Doch wie wurde sie auf Gemälden dargestellt? Als Hure.»

Terry setzt sich jeweils intensiv mit ihren Vorlagen auseinander. Wer hat das Bild in Auftrag gegeben? Warum hatte Goya eine angekleidete und eine nackte Maja gemalt?

Aphrodites
schaurige Schaumgeburt

«Ich versuche jeweils herauszufinden, warum mich etwas stört», sagt Terry. Was kann einen schon stören an Botticellis «Die Geburt der Venus» (1485-1486), einem der schönsten Bilder der Kunstgeschichte überhaupt?

Terry kommt auf den Mythos dieser «Geburt» zu sprechen. Diese basiere auf Gewalt. Tatsächlich berichtet der griechische Poet Hesiod von einer grausigen Kastration, aus der die Göttin der Liebe und Schönheit hervorgegangen sein soll: Uranus, der sich mit Gaia vereinigen wollte, wurde durch einen Sichelhieb von Chronos entmannt. Die Geschlechtsteile fielen ins Meer, woraus Aphrodite – von den Römern Venus genannt – entstand.

«In meiner Darstellung wird der Mann aus einer nährenden Mutter Erde statt aus einem wütenden Meer heraus geboren», erklärt Terry. Die Botschaft ist: Du wirst geliebt in deiner ganzen Unzulänglichkeit und kannst deshalb deinerseits auch lieben. In einer Zeit wütender Männer habe sie sich dafür entschieden, den Mann aus Liebe zu erschaffen. Im Spiegel, den ihm die Künstlerin in der Rolle einer Göttin vorhält, soll er erkennen, dass er auch ohne Macht und Prestige ein Mann ist.

Im Original
ist sie gar nicht nackt

Lustiges Detail: Der Mann in Terrys Gartenlaube steht auf einer Reproduktion von Sandro Botticellis Meisterwerk. Das Bild wird geradezu inflationär auf T-Shirts, Regenschirme und Handyhüllen gedruckt, wobei es sich – ähnlich wie bei Van Goghs Sonnenblumen – unbedingt lohnen würde, wieder einmal das Original, das in Florenz in den Uffizien hängt, zu betrachten.

Entgegen dem Bildtitel hat Botticelli eigentlich keine Geburt, sondern ein Ankommen der auf einer Jakobsmuschel gleitenden Venus auf Zypern dargestellt. Es sind personifizierte Winde, die sie vorantreiben. Von rechts reicht ihr eine «Hore», eine Göttin der Jahreszeiten, einen prächtigen mit Gänseblümchen verzierten Mantel. Die Venus ist zwar nackt, aber im Gegensatz zu Terrys blank ziehendem Modell in keuscher Pose dargestellt. Ihre Scham wird durch langes Haar verdeckt.

Sie ist zweifelsohne eine idealisierte Schönheit, doch dem klassischen Realismus, wie ihn etwa Leonardo da Vinci propagierte, entspricht die Göttin nicht. Ihr Hals ist zu lang, ihre Haltung nimmt die für ungewöhnliche Stellungen bekannte Stilrichtung des Manierismus vorweg.

«Müssen Frauen nackt sein, um ins Museum zu kommen?» Diese provokante Frage stellte das feministische Kollektiv «Guerrilla Girls», um auf ein Ungleichgewicht hinzuweisen: In Museen findet man wenig Kunst von Frauen, aber zahlreiche nackte Frauen auf Gemälden. Dank Künstlerinnen wie Sara Terry könnte sich das nun ändern.

Info: Die Ausstellung «Her Take: Maskulinität überdenken» im Photoforum Pasquart dauert noch bis am 5. April.

Stichwörter: Biel, Kultur, Kunst, Pasquart, Sara Terry

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