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Portrait

Die Grenzgängerin

Die Bieler Künstlerin Anke Zürn hat einen Doktortitel in Chemie und arbeitet in der Schnittmenge von Kunst und Wissenschaft. Nun hat sie eine Residenz im Senegal erhalten. Was will sie dort tun?

Anke Zürn mit Werken der Serie «On Growth and Form», die derzeit im Kunstmuseum Thun zu sehen sind. copyright: barbara héritier/bieler tagblatt

Tobias Graden

Die Passagiere im Bus dürften sich gewundert haben. Da stieg doch stets an der gleichen Haltestelle eine Frau zu, vollbepackt mit langen Pflanzen: Solidago canadensis, zu Deutsch; Kanadische Goldruten, eine invasive Art, das Gewächs wird bis zu zwei Meter lang. Wieder und wieder schleppte die Frau haufenweise solcher Pflanzen durch die Stadt, hin zum Espace libre hinter dem Kunsthaus Pasquart. Wenn die Leute im Bus erst gewusst hätten, was die Frau mit den Pflanzen tat – sie hätten sie umso ungläubiger angeschaut. Die Frau extrahierte nämlich Gold aus den Pflanzen.
Die Frau war aber keine Alchemistin, sondern die Künstlerin Anke Zürn. «Making Gold» hiess die Aktion im Jahr 2014, in der sie sichtbar machte, wie die Menschen bestimmten Materialien hohen Wert beimessen und anderen gar nicht. «Ich hab Gold gemacht», sagt Zürn lapidar, aber das gilt natürlich nur im künstlerischen Sinne. Tatsächlich sammelte sie auf der damaligen Brache, wo heute der Swatch-Neubau steht, eigentlich «wertlose» Pflanzen ein und kochte dann im Kunstraum den Farbstoff aus ihnen heraus. Das ergab eine gelbliche Brühe. Diese lässt sich zum Färben gebrauchen, zum Gold wird die Pflanze aber nicht.

Zwischenlager für Ideen
Das Resultat stand aber gar nicht so sehr im Vordergrund. Vielmehr zeigte «Making Gold» exemplarisch auf, worum es Anke Zürn geht: «Um die Kommunikation von Arbeits- und Forschungsprozessen», wie sie sagt: «Eine Ausstellung ist etwas Fertiges, ich aber will auch Prozesse zeigen.» Indem sie im Espace libre nicht einfach den fertigen Farbstoff zeigte, sondern dort jene Arbeiten ausführte, die sonst im Atelier verrichtet werden, machte sie den Austellungs- zum Werkraum. Sie profanierte sozusagen den heiligen Kunstraum – und wies damit auch darauf hin, wie schwierig es für Kunstschaffende sein kann, Arbeitsräume zu finden.
Zürn selber arbeitet vor allem im Jura, wo ihr ein Rückzugsort mit 100 Quadratmetern Garten zur Verfügung steht. In Biel hat sie ein kleines Atelier, doch dieses ist eher ein Zwischenlager für Ideen. Hier stapeln sich Bücher, in Schubladenkästen lagern allerlei Dinge, an der Wand hängen zahlreiche kleinformatige Bilder mit organischen Motiven, von denen Zürn zum Zeitpunkt des Besuchs noch nicht weiss, was sie mit ihnen machen wird oder ob sie als Werk überhaupt schon fertig sind. Entstanden sind sie in Paris, Zürn nennt die Serie in Anlehnung an das Monumentalwerk des schottischen Mathematikbiologen D’Arcy Wentworth Thompson «On Growth and Form» («Über Wachstum und Form»). Es sind quasi Studien, die Künstlerin sagt schlicht: «Ich hab rumgekleckst. Es hat Spass gemacht.»
Zürn hatte ein Paris-Stipendium der Visarte Schweiz erhalten mit Atelier an der Cité internationale des Arts und wollte in Bibliotheken zum Thema Goldrubinglas recherchieren, doch dann kam Corona und alles war zu. Zürn machte aus der Not eine Tugend: «Ich habe es genossen, einfach mal wieder zu malen.»
Auch diese Arbeit hatte aber eine alchemistische Komponente. Zürn träufelte verschiedene Materialien wie Tusche oder Brennsprit aufs Papier und untersuchte, wie sich die Flüssigkeit ausdehnt, welche Formen und Motive daraus entstehen. «Ich kann es jeweils nicht lassen zu experimentieren», sagt sie. Eigentlich zeigt die Serie mit etwa 100 Blättern also einfach Flecken – doch diese sehen bisweilen aus wie Meereslebewesen. Ein Ausschnitt der Serie ist derzeit anlässlich der Cantonale Bern Jura im Kunstmuseum Thun zu sehen.

Ein Renaissancemensch
Diese Lust am Experimentieren und am quasi-wissenschaftlichen Zugang zu Themen kommt nicht von ungefähr. Anke Zürn hat ebenso einen künstlerischen wie einen wissenschaftlichen Werdegang. Geboren 1964 im deutschen Wiesbaden, hat sie Kunsterziehung und Chemie für das Lehramt an Gymnasien in Stuttgart studiert, 1998 hat sie am Max-Planck-Institut für Festkörperforschung dissertiert. Das Thema ihrer Doktorarbeit: topologische Aspekte von Kristallstrukturen. 2001 nahm sie ein Engagement an der ETH Zürich an und arbeitete am Laboratorium für Anorganische Chemie. Die befristete Stelle endete mit der Emeritierung des Professors, aber im Wissenschaftsbetrieb war ihr ohnehin zusehends unwohl geworden. Sie hält denn auch fest: «Ich will nicht als Wissenschaftlerin gesehen werden, wenn ich künstlerische Arbeiten mache. Im Kontext der Kunst gelten andere Kriterien als Objektivität, Reliabilität und Validität.» Um das Spannungsfeld aufzulösen und sich klarer zu verorten, stieg sie 2011 aus dem Wissenschaftsbetrieb aus und zog nach Biel, wo sie zuvor nur das Kunsthaus Pasquart und den Off-space Lokal-int kannte.
Gleichwohl: Anke Zürn wird gerne als Grenzgängerin zwischen den Disziplinen, zwischen der Kunst und der (Natur)Wissenschaft bezeichnet. Vielleicht wäre «Renaissancemensch» die passendere Bezeichnung. «Making Gold» jedenfalls versteht sie auch als wissenschaftshistorische Betrachtung. Wissenschaft und Kunst waren lange keine gesonderten Sphären, «ihre Trennung ist ein Zeitpunkt, der mich interessiert», sagt Zürn und weist auf Initiativen hin, welche die Disziplinen wieder zusammenführen wollen. So gibt es beispielsweise das Swiss Artistic Research Network (Sarn), eine Plattform, die Forschung für Kunstschaffende fördert. Künstlerische Forschungsprojekte lassen sich auch beim Schweizerischen Nationalfonds einreichen.

Zur Farbe forschen
Auch Anke Zürn forscht weiter – als Künstlerin. Von «Making Gold» ist sie zum «Blue Gold» gelangt, zu Indigo; ein Farbton mit einer ganz alten Kultur-, aber auch einer handfesten Wirtschafts- und Kolonialgeschichte und einer ebenso aufschlussreichen Wissenschaftsgeschichte. Adolf von Baeyer erhielt 1905 den Nobelpreis für Chemie, er war der erste, dem Jahre zuvor die Synthetisierung des bis dahin nur natürlich zu gewinnenden Farbstoffs gelang.
Anke Zürn plant mehrere Projekte im Zusammenhang mit Indigo. Historisch gesehen wurden – und werden auch heute noch – verschiedene Pflanzenarten in unterschiedlichen Regionen der Welt dazu genutzt, den Farbstoff zu gewinnen, wobei unabhängig voneinander ähnliche Färbetechniken entwickelt wurden. Diesen Pflanzenarten will die Künstlerin nachspüren und sie auch selber anbauen – in einem Garten in Senegal. Von Pro Helvetia hat sie dafür eine Residenz zugesprochen erhalten. Senegal habe eine schöne Indigo-Tradition, sagt Zürn, diese wolle sie erforschen und dabei auch die Nachbarländer mit einbeziehen. Gerne möchte sie dort ihr Herbarium beginnen, mehr noch: zur Selbstversorgerin werden, wobei sie nicht nur die Ernährung, sondern auch die Kunst meint. Es wäre ein Projekt, das auch einen privaten Hintergrund hat. Anke Zürns Partner stammt aus dem Senegal, möchte gerne dorthin zurückkehren, für die Künstlerin stellt sich dabei die Frage: Und was mache ich?
Eine mögliche Antwort lautet eben: Die Geschichte von Indigo wissenschaftlich und künstlerisch aufarbeiten. Die Residency von Pro Helvetia wird aber längst nicht das ganze Projekt abdecken. «Die Zeit reicht für einen ersten Eindruck, eine erste Recherche», sagt Anke Zürn. Noch ist vieles offen, selbst der Zeitpunkt für die ersten Vorarbeiten vor Ort ist noch nicht gesetzt. Sicher aber ist, dass Anke Zürn – wie stets – auch diesen Prozess genau dokumentieren wird. «Es wird auch eine emotionale Dokumentation sein», sagt sie, «ich will meine eigene Faszination vermitteln.»

Shitstorm in Cork
Wie wohl die Menschen im Senegal reagieren werden? Auch das ist eine Frage, die Anke Zürn beschäftigt. Im irischen Cork hat sie erlebt, wie es gehen kann, wenn Künstler mit einer blossen Aussensicht intervenieren. Zusammen mit anderen internationalen Kunstschaffenden war sie eingeladen, die Entwicklung des Zentrums der Stadt künstlerisch zu kommentieren. Die Gruppe wollte mit einer Installation aus Stacheldraht auf die trennenden Effekte der Gentrifizierung aufmerksam machen – und bedachte dabei zu wenig, wie sensibel die Menschen auf dieses durch den Nordirland-Konflikt hochpolitische Symbol reagieren würden. Ein gewaltiger Shitstorm war die Folge. «Es waren intensive vier Wochen», kommentiert Zürn lakonisch.
Auch das Indigo-Projekt wird nicht so harmlos sein, wie es auf den ersten Blick scheinen könnte. Immerhin spielen zwangsläufig heikle Themen wie Kolonialismus und damit auch Sklavenhandel mit hinein. Aber wer weiss – vielleicht werden sich in ein paar Jahren in Dakar die Menschen an diese weisse Frau im Bus gewöhnt haben, die immer wieder mal einen Haufen Pflanzen mit sich schleppt.

Info: Die Ausstellung im Kunstmuseum Thun (Cantonale Bern Jura) dauert noch bis 23. Januar.

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