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Benedikt Loderer

«Die Leute denken: Oh, wir müssen die Möbel retten»

Als einziges Mitglied der Fraktion der Grünen hat der Stadtwanderer und Architekturkritiker im Stadtrat letzte Woche für Agglolac gestimmt. Dass das Grossprojekt abgelehnt worden ist, erklärt Benedikt Loderer mit einem tief liegenden Unbehagen vor der weiteren Entwicklung – auch anderswo hätten es grosse Würfe derzeit schwer. Den Kampf gegen die «Hüsli-Pest» gelte es gleichwohl weiterzuführen.

Stadtwanderer Benedikt Loderer. copyright: matthias käser/bieler tagblatt

Interview: Tobias Graden

Benedikt Loderer, Sie waren auf linksgrüner Seite ein einsamer Rufer auf der Expobrache. Warum konnten Sie Ihre Parteigspändli nicht von Ihrer Haltung zu Agglolac überzeugen?
Benedikt Loderer: Weil sie mir nicht geglaubt haben! Weil sie von Anfang an wussten, dass Agglolac schlecht ist, ohne dass sie viel von Agglolac gewusst haben. Die Meinungen waren gemacht.

Sind Sie in der falschen Partei?
Überhaupt nicht. Ich habe eher das Gefühl, die… (überlegt) Auch meine Meinung war gemacht, obwohl sie geschwankt hat. Wissen Sie: Als damals Stöckli kam mit seinem Klein-Venedig, war das der Höhepunkt von Agglolac. Man sagte: Wir bauen nicht Agglomeration, sondern wir bauen ein Stück Stadt, mit städtischen Räumen, mit Kanälen. Für dieses Projekt hätte ich mir den Grind abreissen lassen.

Was geht Biel und Nidau nun genau verloren, da Agglolac, wie es sich schliesslich präsentierte, nicht gebaut wird?
Es geht ihnen die Chance verloren, das Grundstück gebrauchen zu können. Man kann sagen, es sei nicht so schlimm, denn vorhanden ist es ja noch. Das schlimmste, was nun passieren könnte, ist, dass nun alle irgendwelche Projekte auf dem Areal fordern. Dass jedes Jahr wieder jemand mit einer tollen Idee auftaucht, und dann wird das Grundstück verschwendet. Für irgendwelche Partikularinteressen oder um Steuersubstrat anzusäen, solches Zeug.

Man hatte allerdings bis zu Ihrem Votum in der entscheidenden Stadtratssitzung nicht das Gefühl, Sie seien ein glühender Agglolac-Befürworter. «Am Morgen bin ich dafür, am Nachmittag dagegen», haben Sie kürzlich geschrieben.
Man kann das Projekt durchaus kritisieren, das ist unbestritten. Mich störte, dass es immer agglomeritischer wurde.

Was heisst das?
Mit Klein-Venedig wollte man städtische Räume bauen. Mobimo hat dann gesagt, das sei nicht marktfähig. Wenn man etwas nicht will, muss man einfach sagen, es sei nicht marktfähig. Also wurde das Projekt auf Marktfähigkeit ausgerichtet. Die Chromosomen (die Längsbauten, Anm. d. Red.) haben den Vorteil, dass man überall Seesicht behaupten kann. Aber letztlich ist das ein Agglomuster.

Mich erstaunt Ihre Verteidigung von Klein-Venedig. Dieses atmete doch den idyllischen Landidörfli-Geist.
Es war ein romantisches Projekt, klar.

So sehr Stadt war es nicht.
Aber sehr viel mehr als das, was nun vorlag. Das Architekturbüro :mlzd hatte eine klassische Analyse gemacht, hatte die früheren Kanäle von Nidau vor Augen, als der Seespiegel noch zweieinhalb Meter höher war als heute, und wollte das neue Nidau wieder zu einer Wasserstadt machen. Daraus folgte ein mediterranes Projekt, aber durchaus ein städtisches.

Sie kritisieren beispielsweise in Bern die Überbauung Viererfeld, Sie haben geschrieben, dort entstehe ein Quartier, nicht Stadt. Agglolac wäre also auch nicht Stadt geworden?
Sie müssen schon unterscheiden. In der Parlamentsdebatte habe ich extra Gas gegeben, mehr, als wenn ich unter Architekten über das Projekt geredet habe. Die sich abzeichnende Krämerhaltung ging mir auf den Nerv. Der Bub hat getrötzelt, kann man mir nun vorwerfen, aber ich vertrage es halt schlecht, wenn man sagt: Oh, das Projekt ist zu gross, zu städtisch.

Es gibt also zwei Benedit Loderer: Den Parlamentarier und den Architekturkritiker.
Klar. Das Parlament ist nicht der Ort, an dem man seine Argumente möglichst abwägen kann, man wird ja schlicht gefragt: Bist du dafür oder dagegen?

Apropos Parlament: Ist es nicht problematisch, wenn sich die linksgrüne Seite gegen ihre eigenen Exekutivmitglieder wendet?
Das gibt es bei linker Politik immer. Es gibt immer jemanden, der einen links überholt, dass jemand grüner ist als die Gemeinderätin. Barbara Schwickert war beispielsweise in der ganzen Westast-Geschichte bemerkenswert ruhig. Klar, sie war ans Kollegialprinzip gebunden, aber sie schwieg sich auch innerhalb der Fraktion möglichst aus. Das stiess bei einigen Mitgliedern auf ziemliches Unverständnis.

Wie geht es denn Ihnen in der Grünen Partei in Biel als einziger, der auf Ihrer Seite ist?
Das nehme ich gelassen. Ich bin nun 76, sollte man mich nicht mehr wollen, müsste man’s mir halt sagen. Aber es gibt ja keinen Fraktionszwang, weil man diesen Haufen eh nicht ständig beisammen halten kann.
 
Zurück zum Architekturkritiker. Als solcher hätten Sie die Agglolac-Häuserschluchten nach ihrem Bau doch kritisiert. Das Hochhaus ist auch gekappt worden, einzig in der Marina wäre urbaner Gestaltungswille sichtbar gewesen.
Ich habe es immer so gehalten: Ich schreibe über nichts, das ich nicht gesehen habe. Ich hätte es mir also angeschaut und dann geurteilt, wie die räumliche Wirkung tatsächlich ist. Ich hätte mich gefragt, ob es nun wirklich zu agglomeritisch ist, ob es Stadtraum ist oder Agglo.

Ein Projekt kann also auch besser werden als befürchtet?
Gottseidank!

Auf grüner Seite verfing nicht zuletzt das Argument der Wachstumskritik, ein urgrünes Muster – aber nicht Ihres?
Wir können in der Schweiz schön beobachten, wie der Wohlstand an der Arbeit ist. Wir können uns leisten, was wir uns vor 50 Jahren noch nicht mal erträumen konnten. Wer also konsequent einen Wachstumsstopp will, muss sich darüber im Klaren sein, dass der Wohlstand nicht weiter steigt. Denn beides zusammen geht nicht.

Wir würden also relativ ärmer werden?
Natürlich. Wir werden schon nur ärmer, wenn wir nicht reicher werden.

Was aus grüner Sicht erstrebenswert wäre – das Klima können wir nur schützen, wenn wir uns nicht immer mehr leisten.
Ja, das sieht man gerade in der Coronakrise. Es reicht, wenn wir so viel fliegen wie derzeit, wenn wir so viel Auto fahren wie jetzt.

Und warum gilt das nicht für Agglolac? Warum sollen wir nicht sagen: Die Stadt, die wir jetzt haben, die reicht?
Ich kann gut auf Agglolac verzichten. Dann lassen wir das Grundstück eben eine Generation lang frei. Den angesprochenen Konflikt gibt es in der grünen Partei immer. Denn ehrliche grüne Politik ist stets Verzichtspolitik. Doch die lässt sich nicht verkaufen. Also versuchen die Grünen – auch ich – stets, diese Grundsatzfrage zu umschiffen. Sehen Sie: Wir brauchen in der Schweiz etwa 50 Quadratmeter Wohnfläche pro Nase. Niemand kann ernsthaft behaupten, 40 würden nicht auch reichen. Dann stünde ein Fünftel der Wohnungen leer – wir hätten eine wahnsinnige Krise. Also haben wir eben so viel Wohnfläche, wie wir uns leisten können. Es gibt keine Obergrenze.

Dabei müsste man sich eingestehen: So viel wie jetzt ist genug.
Dann folgte die Verteilungsfrage. Wir haben das ja auch schon erlebt: Im Zweiten Weltkrieg mussten wir mit dem auskommen, was da war und haben es rationiert. So müsste man es auch künftig handhaben – oder man sagt: Wer es sich leisten kann, hat mehr, die anderen haben weniger.

Agglolac wurde auch mit dem Argument des Freiraums bekämpft. Wie sehen Sie dies?
Am See haben wir genügend Freiraum. In welcher Schweizer Stadt kann man schon so gut um den See herumlaufen wie hier? Vielleicht gerade noch in Zürich, weil Herr Bürkli das vor 120 Jahren so organisiert hat. Aber sonst?

Neuenburg…
Dort hat es einfach einen Parkplatz am See.

Der Thuner Schadaupark?
Rundumlaufen kann man auch dort nicht. Aber in Biel geht das. Wir sind also nicht unterversorgt mit Freiraum. Überhaupt gilt es genauer hinzuschauen, was denn damit gemeint ist. Wer Freiraum sagt, meint Landschaft, unverbaute Weite. Blumen, Wege, Sandkästen, spielende Kinder.

Das ist doch auch schön.
Ich habe etwas gegen sentimentale Stadtplanung. Am schlimmsten sind jene, die sagen: Man sieht nur mit dem Herzen gut.

«Le Petit Prince» ist doch eine schöne Geschichte!
Klar, aber es ist ein Kinderbuch. Wer nur mit dem Herzen gut sieht, sieht nichts mehr.

Und Sie sagen, man soll auch mit dem Portemonnaie sehen?
Bei grossen Projekten keineswegs, weil sonst macht man sie gar nicht erst. Wenn ein Grundstückseigentümer ein Areal entwickeln, aber nicht selber investieren will – so wie Biel und Nidau –, dann muss er sich mit jemandem verbünden. Und nun… wer mit dem Teufel im Bett liegt, stinkt nach Schwefel.

Mobimo ist auch für Sie der Teufel?
Nein! Das ging mir auch so auf den Nerv: Mobimo als Verkörperung des Kapitalismus, der Machtkonzentration schlechthin… diese Sicht ist ganz schön vernaglet.

Hinter Ihnen steht im Bücherregal aber auch Marx‘ «Das Kapital».
(lacht) Bei Marx lief die Überwindung des Elends über die Produktionsmittel, nicht über den Konsum – die Proletarier hatten ja nicht mehr als das Existenzminimum. Mittlerweile sind wir längst eine Konsumgesellschaft. Selbst die Stadt Biel hat in der Coronakrise als erstes Gutscheine für den Konsum verteilt. Wenn der Konsum sinkt, kommen wir ins Elend. Der Konsum ist das Subjekt der Geschichte, das heutige Proletariat fährt Auto.

Die jungen Jusos wohl nicht.
Noch nicht.

Man befürchtete mit Agglolac Gentrifizierung in Biel und Nidau. Sie selber haben auch schon mehrfach gemahnt, der Landfrass werde durch die Mehrung des Wohlstands getrieben. Gerade Agglolac sollte explizit der Mehrung des Wohlstands dienen.
Der Wohlstand ist ja da. Ein Projekt wie Agglolac wird nur realisiert, wenn man davon ausgeht, dass der Wohlstand über die nächsten 20, 30 Jahre stabil bleibt oder wächst. Aber Gentrifizierung? Wo nichts ist, kann man doch nichts verdrängen.

Nicht auf dem Grundstück, aber sonst in der Stadt.
Wer soll denn verdrängt werden?
 
In der Altstadt muss vielleicht das Bücherantiquariat schliessen, weil eine von Agglolac-Bewohnern frequentierte hippe Craft-Beer-Bar mehr Miete zahlt.
Weil man Agglolac baut? Das glauben Sie ja selber nicht. Das Argument lautete eher: Agglolac ist für die Reichen, aber wir sind für die Armen. Dummerweise kann man für die Armen gar nicht bauen, weil die es sich nicht leisten können.

Ticken also die Linksgrünen in Biel wie die Hüsli-Schweizer, die Sie so kritisieren? Sie wollen alles so behalten, wie es gerade gut ist für sie.
Linksgrün hat für Agglolac kein Projekt. Man ist aus den genannten Gründen dagegen, weiss aber nicht, was mit dem Ding denn anzufangen ist. Man könnte ja eine alternative Stadt bauen, so wie «Mehr als Wohnen» in Zürich. Aber für so etwas fehlt in Biel das intellektuelle Kapital. Ein solches Projekt braucht zehn Jahre Einsatz, Freiwilligenarbeit, politischen Kampf. Ich bezweifle, dass es in Biel genügend willige Leute dafür gibt.

Sie plädieren nun dafür, die Expobrache 30 Jahre lang nicht zu bebauen, sie aufzuheben für die nächste Generation. Warum?
Um sie als strategische Reserve in der Hinterhand zu haben. Der Campus Technik wäre nicht nach Biel gekommen, wenn die Stadt nicht das Feldschlössli-Areal hätte anbieten können. Das Agglolac-Grundstück muss mindestens eine regionale Aufgabe abdecken können, sonst ist es verschwendet. Man darf es nicht verhüslen und verblöcklen.

Es wird nun befürchtet, es liessen sich in Biel ohnehin keine grossen Projekte mehr verwirklichen.
Das ist nicht nur in Biel so. Das ist selbst in Zürich so, denken Sie an das Kongresshaus oder an das Gebastel auf dem Flughafen Dübendorf. Das ist die Stimmung der Zeit. Aber für Biel stimmt es nicht einmal: Das Bözingenfeld etwa ist ein Entwicklungsschwerpunkt, der funktioniert.

Man kann sich aber schlecht vorstellen, dass ein Wurf wie das Kongresshaus, «das Münster Biels», wie Sie es nennen, heute noch möglich sein könnte. Dabei baut sogar Ostermundigen derzeit ein Hochhaus.
Das hat mich sehr gewundert, dass Ostermundigen dazu Ja gesagt hat. Ich glaube: Die Leute reden sich zwar ein, es gehe alles weiter wie bisher, aber es beschleicht sie das Gefühl, dass es irgendwo klemmt. Wir haben nicht eine Stimmung wie 1960, als man sich endlich ein Auto leisten konnte und sagte: Jetzt geht’s los. Die Leute denken eher: Oh, wir müssen unsere Möbel retten. In so einer Stimmung hätte ein Bau wie das Kongresshaus keine Chance.

Bei einem anderen grossen Projekt haben Sie an vorderster Front an der Verhinderung mitgewirkt. Hätte nicht auch das offizielle Westast-Projekt die Stadtentwicklung vorantreiben können?
Erstens: Der Westast hätte die Stadt zersägt. Die Anschlüsse hätten einen Graben zwischen der Stadt und dem See aufgerissen. Zweitens: Wir wissen nicht, ob es den Autoverkehr wie heute in 30 Jahren überhaupt noch gibt. Man hätte etwas gebaut, das wir vielleicht gar nicht mehr brauchen werden.

Man hätte dafür das ganze Mühlefeldquartier neu planen können. Es ist ja mit Ausnahme der früheren GM-Gebäude nicht gerade so, dass dort städtebaulich und architektonisch wertvolle Substanz vorhanden wäre.
Die Testplanung sah die heute übliche Blockrandbebauung vor. Man hätte die Eigentümerstruktur überwinden müssen – das hätte wirklich Gentrifizierung gegeben. Die angrenzenden Quartiere wären auch stark betroffen gewesen.

Wie bewerten Sie denn die Entwicklung Biels seit der Expo.02 insgesamt?
Biel ist der einzige Standort, der etwas aus der Expo gemacht hat. In Neuenburg steht immer noch der gleiche blöde Parkplatz am See wie vorher, in Yverdon ist alles noch gleich, und Murten ist eh ein Schmucktruckli. Biel aber hat profitiert. Die Expo hat alle Beteiligten zur Zusammenarbeit gezwungen, und das ist nicht schlecht herausgekommen.
 
Gehen wir auf eine kurze, stichwortartigen Stadtwanderung an bestimmte Orte, die in letzter Zeit entwickelt worden sind oder noch werden. Rolex?
Im Grunde genommen ein Kühlschrank. Ein geschlossenes Gebäude: Wenn man davor steht, hat man das Gefühl, dort arbeite gar niemand.

Swatch?
Kein Gebäude für Biel, sondern ein Beeindruckungsgebäude für die internationalen Gäste von Swatch.

Heisst das, es passt nicht hierhin?
An diesem Ort kann man gar nicht etwas machen, das passt, weil es passt auch rundherum nichts zusammen.

Schüsspark?
Eine sehr gute Geschichte. Überhaupt, wie dort die ganze Landpolitik vollzogen wurde, das ist eine planerische Leistung.

Die dortige Wohnüberbauung?
Die ist halt so… Das macht man heute halt so. Man stellt die Klötzli im Schachbrettmuster so hin, dass es möglichst lange Sichtachsen gibt.

Esplanade?
Ich hätte ein anderes Projekt für die Neubauten bevorzugt. Der Platz ist ein toter Ort, weil es hat ja nichts rundherum. Es fehlt das ursprünglich geplante Gebäude für die Stadtverwaltung, dieses hätte den Platz besser eingefasst. Der Ort ist nicht fertig. Es ist ein Loch, aber es fehlt der Käse.

Campus Technik?
Ein gutes Projekt. Für die Schwierigkeiten kann Biel nicht viel dafür, der Kanton Bern ist in Sachen Hochbau einfach ganz schwach auf der Brust.

Ausgang Taubenlochschlucht?
Ein Fragment, noch nicht fertig. Das Hochhaus muss man erst noch bauen.

Ist es gut, dass ein Hochhaus kommt?
Ich bin grundsätzlich für Hochhäuser, sie sind das Gegenteil des Hüslis.

Gibt es in Biel weitere gute Orte für Hochhäuser?
Das ist eine verzweifelte Frage. Weil das Hochhaus so hoch ist, gibt es kaum bestehende Grundstücke, auf die sie gut passen. Es stellt sich auch die Frage der Erschliessung. Die Hochhäuser in Nidau-Burgerbeunden etwa stehen am falschen Ort. Und man darf keine reinen Wohn-Hochhäuser bauen, sondern sollte von Anfang an eine Mischnutzung planen.

Weiten wir den Blick: Die Coronapandemie hat nun gerade gezeigt, wie wichtig grosszügige Wohnverhältnisse sind. Das sind schlechte Voraussetzungen für Ihren Kampf gegen die «Hüsli-Pest».
Die Hüsli-Pest ist angetrieben vom Wohlstand. Wenn’s uns gut geht, wird gebaut, wenn nicht, dann nicht. Was hat sich denn gross geändert im Lockdown? Wir konnten nicht rasch nach London fliegen übers Wochenende. Aber sonst haben wir weitergemacht wie bisher.

Wir werden auch weiter wohnen wie bisher?
Meinen Sie etwa, ich zügle hier raus wegen der Pandemie?

Sie wohl kaum, Sie haben ja viel Platz.
Ja, da bin ich unverantwortlich als Grüner.

Könnte nicht die Stärkung von Heimarbeit die Landflucht stoppen?
Die Arbeit kann besser übers Land verteilt werden, ja, warum auch nicht. Aber dass deswegen die Renaissance des Dorfes kommt, das glaube ich nicht. Man wird sich arrangieren und weiterhin das machen, was für einen am gäbigsten und einträglichsten ist.


Muss man den Kampf gegen die Hüsli-Pest radikaler führen? In Teilen Hamburgs dürfen keine neuen Eigenheime mehr aufgestellt werden.
Es wäre einfach: Die Hüsli-Menschen müssten schlicht alle Kosten ihres Hüslis tragen. Die Erschliessung, die Infrastruktur, die Verkehrswege. Wer dies alles zahlen kann, soll halt sein Hüsli bauen. Das alles ist heute subventioniert, auch über Steuerabzüge.

Es können sich aber immer weniger Menschen Wohneigentum leisten, und gerade die urbanen nachwachsenden Generationen dürften ein anderes Verhältnis zu Status und Besitz entwickeln. Löst sich das Hüsli-Problem also durch den Markt und den Wertewandel?
Es dürfte eher von der wirtschaftlichen Entwicklung abhängig sein. Wenn es uns schlechter geht, wird es Hüsli geben, die niemand mehr will.

Sie äussern sich recht zukunftspessimistisch. Erwarten Sie eine tiefere Krise?
Wir haben seit 1950 mehr gebaut als alle Generationen zuvor seit den Römern zusammen. Glauben Sie denn, dass wir das für die nächsten 70 Jahre noch einmal genau so machen?

Eher nicht.
Aber wenn das System gleich bleibt, läuft es auf das hinaus. Man wird versuchen, dies nicht auf der grünen Wiese zu tun, sondern im vorhandenen Bestand. Aber unser ganzes System geht davon aus, dass wir aus der jetzigen «Suisse gonflée» die «Suisse doublement gonflée» herstellen. Ich bin überzeugt, dass das nicht geht. Ohnehin: Das Schicksal der Schweiz wird nicht in der Schweiz entschieden.

Sie sind jetzt 76 und könnten einfach noch ein bisschen über gelungene Architektur schreiben. Stattdessen sind Sie sind stolz auf Ihre «Alterswut». Was treibt Sie an?
Ich bin nicht versöhnt! Ich finde die Welt nicht in Ordnung. Es gibt noch ganz viele Sachen, die wir besser machen sollten.

Braucht es nicht etwas viel Kraft, immer gegen alle zu sein?
Das frage ich mich gar nicht, ich bin es einfach.

Sie sind selber in einem Hüsli im Reichenvorort Spiegel bei Bern aufgewachsen. Sie haben mal erzählt, wie die Kollegen Fussball spielen gingen, während Sie zuhause jäten mussten – arbeiten Sie sich an einem Jugendtrauma ab?
Das wäre Trivialpsychologie. Aber ich bin geimpft worden, das schon. Als Kind war ich ein überzeugter Hüslianer.

Privilegiert, wie man heute sagt.
Ja. Nicht nur wegen des Hüslis. Sondern beispielsweise auch, dass ein kultureller Hintergrund da war, der mich angeschoben hat. Wenn ich in bildungsfernem Milieu aufgewachsen wäre, wäre etwas Anderes aus mir geworden, logisch. Wir sind schon nur privilegiert, wenn wir als Schweizer auf die Welt kommen und nicht etwa als Eritreer.

Reiben Sie sich am Schweizersein generell auf? «Niedrige Decke führt zu niedriger Stirn», haben Sie mal über das Chalet geschrieben.
Die schweizerische Selbstzufriedenheit geht mir furchtbar auf den Wecker. Diese Überzeugung: Wenn alle so wären wie wir, wäre die Welt doch in Ordnung. Dabei sind wir bloss die Neureichen von Europa.

Sehen Sie denn auch Ansätze zur Besserung? Immerhin hat die Schweiz in den letzten Jahren ein neues Raumplanungsgesetz angenommen, die Zweitwohnungsinitiative auch.
Das schon. Aber die Zersiedelungsinitiative, die das Siedlungsgebiet geschlossen hätte wie den Wald, ist bös abgeschifft. Und dann die Mobilität: Weder im Auto- noch im Zugsverkehr herrscht Kostenwahrheit. Warum eigentlich? Warum müssen wir über unsere Steuern die Autopendler mitfinanzieren?

In Ihrer letzten BT-Kolumne haben Sie geschrieben, Sie seien stolz auf Ihre Wortschöpfungen wie «Agglomeriten» – welches ist Ihr Lieblingswort?
(lacht) «Hüsli-Pest» ist schon gut.

Was haben Sie eigentlich gegen die Alpen?
Ich habe etwas dagegen, dass ein so vielgestaltiges Land wie die Schweiz auf die Alpen eingekocht wird.

Als Kulisse mögen Sie sie ja gleichwohl.
Ich finde es gut, dass ich sie vom Jura aus anschauen kann und sie nicht hochgehen muss. Ich war in meiner Jugend im SAC. In der Stifti hab ich am Samstagmorgen gearbeitet, dann fuhren wir mit dem Velo nach Kandersteg, dann gings zum Schwarenbach hoch – nicht mit dem Bähnli, sondern zu Fuss, weil wir kein Geld hatten. Am Sonntagmorgen ging’s aufs Balmhorn oder so und alles wieder zurück. Am Montagmorgen konnte ich kaum die Baupläne anschreiben vor lauter Erschöpfung. Ich habe meine Alpenkarriere gehabt.

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