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Ausstellung

Die Polarmeerjungfrau

Emilija Škarnulytė scheut keinen Aufwand, um ihre Multimedia-Installationen zu realisieren. Oft sind ihre Arbeiten zwischen Kunst, Archäologie und Naturwissenschaft faszinierend und beklemmend zugleich.

Emilija Škarnulytė: «Was werden Menschen sagen, wenn sie in einigen tausend Jahren unsere Infrastruktur als Ruinen vorfinden?»  copyright: matthias käser/bieler tagblatt

Tobias Graden

Wie sie da durch die Gänge des Museums stöckelt in ihren hochhackigen Pumps, mit ihrer irgendwie seltsam kleinen Handtasche, und wie sie zumindest zu Beginn eher wirre Dinge erzählt über ihre Videos, die auf ganze Wände projiziert durchs Kunsthaus Pasquart flimmern, da kann man sich gerade schlecht vorstellen, was Emilija Škarnulytė alles auf sich nimmt, um ihre Kunst zu realisieren. Apnoetauchen lernen zum Beispiel, mit einer Hartnäckigkeit, Disziplin und Ausdauer, wie sie Spitzensportlerinnen eigen ist. Beim Apnoetauchen geht es darum, mit einem einzigen Atemzug, ohne zusätzlichen Sauerstoff möglichst lange unter Wasser zu sein. Als sie zum ersten Mal den Tauchlehrer anrief, legte dieser sogleich wieder auf. «Als ich wiederholt anrief, merkte er, dass ich es ernst meinte», erzählt sie.
Ein Jahr lang trainierte sie. Und wozu? Um als Meerjungfrau in einer ehemaligen Nato-U-Boot-Basis nördlich des Polarkreises in zwei Grad kaltem Wasser herumzutauchen.
Solche Sachen macht Emilija Škarnulytė.

Poesie statt James Bond
Die Litauerin hat Jahrgang 1987, sie wird international zunehmend stärker wahrgenommen. Mit der Ausstellung «Sunken Cities» bespielt sie nun einen Teil des Kunsthauses Pasquart, und Direktorin Felicity Lunn ist ganz glüklich, die aufstrebende Künstlerin für Biel engagiert zu haben:«Es ist unser Ziel, junge Kunstschaffende zeigen zu können, bevor die ganze Welt sie entdeckt hat.» Bei Škarnulytė könnte dieser Zeitpunkt nicht mehr fern sein: 2019 hat sie den Future Generation Art Prize gewonnen, der alle zwei Jahre vergeben wird und mit 100000 US-Dollar dotiert ist.
Das Geld kann sie gut gebrauchen, dürften doch ihre Videos und immersiven Multimedia-Installationen, in die man im Pasquart richtiggehend eintauchen kann, recht kostspielig sein in der Produktion. Zum Beispiel das eingangs erwähnte Werk. Es heisst «Sirenomelia», gedreht hat sie einen Teil in Olavsvern, 217 Meilen nördlich des Polarkreises. Der Marinestützpunkt liegt unweit der Grenze zur ehemaligen Sowjetunion. Unschwer auszudenken, dass der Ort im Kalten Krieg grosse strategische Bedeutung hatte und diese Atmosphäre auch heute noch verströmt – eine Atmosphäre, die nicht nur jene wenigen Menschen kennen, die überhaupt je dort waren, sondern die sich über die Populärkultur als Erzählung im kollektiven Gedächtnis festgesetzt hat und darin weiterhin nachwirkt. Die Assoziation zu James Bond, der auf Weltrettungsmission in irgendwelchen feindlichen U-Boot-Basen herumtaucht, ist jedenfalls nicht fern.
Škarnulytė aber geht es um etwas ganz anderes: Sie will dem militarisierten Ort, der nach wie vor den Mythos des Kriegs der Systeme in sich bewahrt, einen Gegenmythos entgegensetzen. Dass sie dafür die Figur der Meerjungfrau wählt, mag skurril wirken, die Aktion hat so aber auch eine ungemein poetische Kraft.

Magie und Quantenmechanik
Die Meerjungfrau ist aber nicht nur mythologischer Topos, sondern auch eine Art künstlerisch-wissenschaftliches Instrument. Škarnulytė erforscht und vermisst damit jene Orte, die sie interessieren.
Das kann auch eine versunkene römische Stadt vor der Küste Neapels sein. «Wer hat dich hierher gebracht?», schreibt die Dichterin Quinn Latimer zu «Sunken Cities» und der Figur der Meerjungfrau, «eine Archäologen-Nixe, eine moderne Wassernymphe, oder eine Sirene, Künstlerin und Museumsführerin zugleich. Ein Körper als Klangwelle, als reines Erkennen.» Beschreibung und Interpretation der Orte erfolgen bei Škarnulytė zwar in einem künstlerischen Prozess, dieser lehnt sich aber an wissenschaftliche Methoden an, die Künstlerin arbeitet auch mit Forschern zusammen.
Sei es, indem sie sich mit Roger Penrose auseinandersetzt, einem der derzeit wichtigsten theoretischen Physiker, der auch mit dem verstorbenen Genie Stephen Hawking zusammengearbeitet und in seinen Schriften laut Ausstellungsbeschrieb die Meerjungfrau «als Repräsentantin der Magie und des Mysteriums der Quantenmechanik» beschrieben hat.
Sei es aber auch, indem sie an Orten wirkt, wo menschliches Leben nur noch in naturwissenschaftlichen Forschungsstationen vorzufinden ist, was anekdotische Begegnungen mit sich bringt: Emilija Škarnulytė, die mittlerweile im norwegischen Tromsö lebt, erzählt, wie sie bei Spitzbergen unterwegs war und Helium brauchte. Sie klopfte bei einer deutschen Forschungsstation an, wo alles sehr aufgeräumt und korrekt war, ihr die Wissenschaftler aber mit Verweis auf den Preis des Gases kein Helium geben mochten.
Also versuchte sie es bei den Italienern:«Die liefen alle im Pyjama herum und hatten eine gute Zeit», erzählt die Künstlerin, «sie sagten, ich solle mich beim Helium einfach bedienen.»

Blinde Grossmutter bei Lenin
Doch natürlich ist bei Škarnulytė längst nicht alles einfach nur lustig. Eine simple, aber höchst eindrückliche Arbeit ist «Aldona». Diese zeigt Škarnulytės Grossmutter, die unter der Sowjetdiktatur gelitten und in dieser Zeit ihr Augenlicht verloren hat. Škarnulytė besucht mit ihr einen skurrilen Skulpturenpark, in dem nach der Wende unzählige Statuen der Sowjetgranden aus ganz Litauen versammelt wurden – er ist heute eine privat geführte Touristenattraktion. Grossmutter Aldona tastet nun mit ihren Händen diese Skulpturen ab, als versuche sie damit wortwörtlich zu begreifen, was die Weltgeschichte ihrem Leben, ihrem Körper angetan hat.
Ist es also tröstlich zu wissen, dass früher oder später jede historische Phase an ein Ende kommt und damit auch jene Infrastruktur, die heute noch hochtechnologisch-modern wirkt, dereinst ein Fall für die Archäologie ist, so wie die versunkene Stadt im Golf von Neapel? Geht man nach Emilija Škarnulytės Werk, lautet die Antwort: eher nicht, zumal dieser Prozess bisweilen rascher abläuft, als es den Zeitgenossen lieb sein kann. Schon die Python, die sich durch den Kontrollraum des stillgelegten Tschernobyl-Schwesterreaktors in Litauen schlängelt, mutet weniger als freudige Wiederbelebung der Natur an denn als menschenleeres Mahnmal vergangenen Modernitätswahns. Und die leuchtenden Fotografien, in denen Škarnulytė technische Einrichtungen zur Erforschung von Neutronen in eine Eiszeitlandschaft montiert, wirken erst recht endzeitlich. Eine solches Zeitalter möchte man lieber nicht erleben, auch wenn einen dann gar niemand mehr beim Tauchen in Nato-Basen stört.
Info: Kunsthaus Pasquart, Biel, bis 29. August.
 

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