Sie sind hier

Abo

Biel

Die Stadtbibliothek schlägt ein neues Kapitel auf

Béatrice Perret Anadi leitet in zweifacher Hinsicht eine neue Ära ein: Sie ist die erste Frau und die erste französischsprachige Person, die mit der Leitung der Stadtbibliothek betraut wird.

Béatrice Perret Anadi will die Bibliothek zu einem Ort entwickeln, «wo sich die Bevölkerung wohlfühlt». Aimé Ehi

Didier Nieto/pl
Seit ihrer Gründung im Jahr 1765 gab es an der Spitze der Stadtbibliothek nur Männer. Alle waren deutschsprachig. Mit der Ernennung von Béatrice Perret Anadi zur Direktorin übernimmt zum ersten Mal eine Frau und zugleich die erste französischsprachige Person die Leitung des ehrwürdigen Instituts. «Eine grosse Ehre und grosse Freude» empfindet die Nachfolgerin von Clemens Moser, der in den Ruhestand tritt. «Als Frau bringe ich eine andere Sensibilität mit. Ich werde ein wenig Abstand von der Tradition reiner Wissensvermittlung nehmen und dafür die Öffnung für andere fördern», so Perret Anadi. Immerhin gehöre die Bibliothek der Allgemeinheit. Deshalb will die neue Direktorin «für die Bedürfnisse aller da sein» und die ehrwürdige Einrichtung zu einem Ort entwickeln, «wo sich die Bevölkerung wohlfühlt».
Perret Anadi beschreitet mit ihrer Ernennung kein Neuland, denn sie ist seit 2013 Vize-Direktorin der Bieler Bibliothek. «In Zukunft bin ich für die Finanzen, die Pflege der Sponsoren, das Personalwesen und Vertretung der Institution nach aussen verantwortlich», erklärt sie selbstbewusst.

Überzeugung war stärker als Bedenken
Béatrice Perret Anadi stammt aus der Vallée de la Sagne im Neuenburger Jura. Sie sei gleichsam mit einem Buch in den Händen aufgewachsen: «Ungeduldig wartete ich auf den Bibliobus, der im Dorf Halt machte. Mit den Büchern, die ich verschlang, entfloh ich dem Alltag und lernte Neues kennen.»
Aber die junge Frau war auch von Zahlen angetan. Deshalb entschied sie sich vorerst für die Handelsschule von La Chaux-de-Fonds. Ihr Schulweg führte an der dortigen Stadtbibliothek vorbei. Hat das Schicksal ihr ein Zeichen gesetzt? Jedenfalls fühlte sich die Studentin im Lesesaal rasch heimisch. Dort entschied sich auch ihr beruflicher Lebensweg: In ihr war der Wunsch gereift, Bibliothekarin zu werden. Perret Anadi erzählt: «Ich wandte mich an eine Angestellte der Bibliothek. Sie gab mir zu bedenken, dass der Weg dorthin steinig sei. Zudem setzte der Beruf lange Studienjahre voraus.» Wie sich heute zeigt, war die Überzeugung stärker als alle Bedenken.
Dreissig Jahre später leitet sie die Bieler Stadtbibliothek. Nach ihrer Ausbildung im Bibliothekswesen absolvierte Béatrice Perret Anadi eine Weiterbildung in Bibliotheksverwaltung an der Universität Freiburg sowie in Kulturmanagement an der Universität Basel. An Projekten fehlt es ihr nicht: «Ich werde Partnerschaften fördern, so wie wir dies mit unserem Veranstaltungszyklus über das Wasser getan haben.» In Zusammenarbeit mit der Blue Community von Biel findet bis zum nächsten Frühling eine Reihe von Anlässen und Podiumsgesprächen statt. «Wir erleben eine Win-win-Situation, die beiden Seiten zu einer besseren Wahrnehmung beim Publikum verhilft», bestätigt Perret Anadi.
Auf die neue Direktorin wartet eine weitere grosse Herausforderung: Es gilt dem leichten aber fortdauernden Benutzerschwund entgegenzuwirken. Im Jahr 2018 zählte die Bibliothek 7973 Abonnenten, 2013 waren es noch 8388. Trotz Ausweitung der Online-Ausleihe hafte der Einrichtung immer noch ein «angestaubtes Image» an, stellt die Leiterin fest. Gegen die Unmittelbarkeit der Informationen auf Google oder Wikipedia habe die Bibliothek wenig Waffen. Um ein neues Publikum zu binden, arbeitet die Institution auf verschiedenen Ebenen: Als erstes werden die Jüngsten beworben. Dafür gibt es Besuche für Schulklassen oder Märchenstunden für die Kleinen. «Kinder sollten früh mit Büchern vertraut sein, bevor der Bildschirm seine Faszination entfaltet», findet Perret Anadi, die ihre Aussage nicht als Kritik an den digitalen Medien versteht.  

Ein Café anstelle der Neumarktpost?
Schliesslich soll die Bibliothek zu einem «offenen Ort für alle» werden, wo man «sich informiert und Kultur konsumiert. Dabei steht der Mensch im Mittelpunkt des Bestrebens nach Begegnung und Integration». Mit dieser Vision liegt Perret Anadi auf der Linie der kantonalen Strategie für das Netz der Berner Regionalbibliotheken. Aus dieser Perspektive hofft die Direktorin, dass die Räume der ausziehenden Neumarktpost als Erweiterung der Bibliothek genutzt werden können. Womöglich entsteht ja im Parterre ein Café. In drei bis vier Jahren wird das Gütesiegel Inklusive Kultur angestrebt. Es steht für einen möglichst hindernisfreien Zugang zu den Kulturangeboten. «Das heisst für uns, dass wir uns mit der Förderung des Lesens bei Menschen mit Behinderungen befassen müssen.» Privat bleibt Béatrice Perret Anadi ihrer ersten Liebe, dem Lesen, treu: «Ich werde auf meinem Arbeitsweg weiterhin im Zug lesen.» Zeit dafür hat sie, denn sie wohnt im Berner Jura.


Ihre Lieblingsbücher
•«En Afrique» von Raymond Depardon. «Eine sehr berührender Prosa- und Lyrikband des vielgereisten Autors und Fotografen. Auch ich reise gern. Reisen öffnet den Blick auf die Welt und weckt bei mir Neugierde auf die Literatur im Gastland.»
•«Das Parfüm» von Patrick Süskind. «Ein genialer Roman, der uns mit unglaublicher Wortgewalt in die Welt der Gerüche entführt. Und dieser Jean-Baptiste Grenouille (zu Deutsch ‹Frosch›), welch eine Figur!»
•«Simili-love» von Antoine Jaquier. «Der Zukunftsroman eines Schweizer Autors. Es geht dabei um die Problematik der Sammlung von Daten und deren Verwendung durch Maschinen. Ich lese gerne zeitgenössische Schweizer Literatur.» dni/pl
 

Nachrichten zu Kultur »