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Literatur

Die Vorhölle ist ein Abstellgleis

Noa Theobaldy skizziert in «Tunnelblick» eine Höllenfahrt mit der SBB – heiter und bedrückend. Der Zug des Pendlers Silvan steckt in einem nicht enden wollenden Tunnel fest. Eine alte Schuld reist mit.

Licht oder nicht? Silvan befindet sich auf der Fahrt durch einen Eisenbahntunnel, der sich endlos durch Schwarz windet. Bild: Tobias Anliker/a

Clara Gauthey

Noa Theobaldys Debüt-Erzählung «Tunnelblick» ist eine Höllenfahrt à la Dantes «Commedia» – allerdings in modern, kurz und lesbar. Die Idee der Berner Autorin, ihren Protagonisten Silvan kurzerhand mit einem Pendlerzug direkt in den Vorhof der Hölle zu befördern, ist so einfach wie genial. 

Es ist ein scheinbar unendlicher Tunnel, bei dem das Licht am Ende weggefallen ist. Wer hatte nicht schon einmal die furchtbare Vision, in einem finsteren Eisenbahntunnel oder U-Bahn-Schacht stecken zu bleiben? Beklemmende Gefühle beschleichen die Lesenden, wenn sie mit dem Protagonisten in ein Meer aus Stein, Schatten und schnarchenden Fledermäusen eintauchen.

Die Macht kindlicher Erkenntnis

Wir gehen mit der Hauptfigur durch menschenleere Zugabteile auf der Suche nach Orientierung. Wo geht es hin? Die Frage könnte beantwortet werden mit «in die Hölle». Oder etwas komplizierter mit «hinein in menschliche Abgründe und Ängste», dabei immer spielerisch bleibend, im Geiste der Kinder. Die Geschichte hat mehr zu bieten als den Gruselfaktor, steckt doch die Hauptfigur gewissermassen nicht nur im Tunnel, sondern auch sonst in ihrem von Selbstmitleid und Ängsten geprägten Leben fest.

Da ist es gut, dass er Anouk trifft, das Mädchen, das ihn mit seinen kindlichen Wahrheiten vielleicht auf den rechten Weg führen kann. Oder ist es ein Geist, der ihn mit einer alten Schuld aus Kindertagen konfrontieren will? Ist sie gar die Doppelgängerin einer verschwundenen Schulfreundin?

Anouks Schutzbedürftigkeit stachelt Silvan jedenfalls zu mutigen Aktionen an. Für sie verbirgt er die eigene Angst und springt über manch grässliche Schattengestalt hinweg. 

«Es heisst: Wer nichts hat, hat nichts zu verlieren», sagt Silvan. Und Anouk antwortet: «Blödsinn. Wer nichts hat, hat alles verloren. Sonst hätte er noch was. Man muss auf seine Sachen aufpassen.» 

Und auch die rätselhafte Schaffnerin, welche die wenigen verbliebenen Menschen im Zug führen möchte – aber wohin? – hat einen guten Rat für den blinden Passagier: «Vielleicht sollten Sie mal das Ruder in die Hand nehmen. Man driftet schnell ab, wenn man sich so mir nichts, dir nichts dem Lebensfluss überlässt.»

Doch zunächst gilt es, gemeinsam mit ein paar anderen Gestalten dem nicht enden wollenden Tunnel zu entkommen. Und eine Nacht in einem Schlafwagen zu überleben, deren Vorhänge auf keinen Fall aufgezogen werden dürfen. Was geistert dort draussen durchs Schwarz? Eine Fledermaus, unter anderem. Aber wem gehören die verstörenden Schreie und Rufe? Kann man seinen Namen verlieren und damit sich selbst und alles, was einen ausmacht im Leben? Wo wird die Reise mit orientierungslosem Schaffner und zitternder Schaffnerin enden? Wie lange halten die Petroleumlampen noch? 

Werden alle wieder das Licht sehen?

Mit der kleinen Anouk an der Hand folgt Silvan nach einigem Zögern der Schaffnerin in den unterirdischen «Sammelraum». Auf dem Weg sinniert er unwillkürlich über den Tod: «... er wollte beobachten, wie ihre Schatten über sich hinauswuchsen, je weiter sie sich von der Lichtquelle entfernten, bis sie ganz in die Schattenwelt übergingen und alle zu einem Schatten würden und vergässen, wer sie geworfen hatte. Vielleicht ist es mit den Menschen dasselbe, dachte er, irgendwann brauchen sie keine Körper mehr, irgendwann projizieren sie nichts mehr, dann geht das Licht aus und sie sind überall.» Als der Zug eine Panne hat, geht es für die Passagiere zu Fuss weiter durch ein undurchschaubares Tunnelreich mit jenen, die sich ebenfalls unter die Erde verirrt haben. Und es scheint fraglich, ob sie alle das Licht je wiedersehen werden. Die Vorhölle ist ein Abstellgleis. Und jene, die ans Tor der Hölle klopfen, vielleicht nichts als Schwarzfahrer und blinde Passagiere. 

Info: Noa Theobaldy, «Tunnelblick», Verlag Die Brotsuppe, Biel, Hardcover, 96 Seiten, Fr. 26.90.

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