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Konzert

Die zwei Enden einer Epoche

Das Sinfonieorchester Biel Solothurn spielte in seinem ersten Saisonkonzert Beethoven. Nicht wie geplant die neunte Sinfonie, sondern ein Klavierkonzert. Und ergänzend dazu die vierte Sinfonie von Gustav Mahler in einer ungewöhnlichen Version.

Giovanni Bellucci präsentiert in seiner CD-Einspielung mit dem Sinfonieorchester Biel Solothurn Weltneuheiten. Bild: zvg

Annelise Alder

Immerhin Beethoven. Nicht aber wie geplant die monumentale neunte Sinfonie. Sie hätte das Gedenkjahr zum 250. Geburtstag des Komponisten krönen und auch den Schlusspunkt der Feierlichkeiten zum 50-Jahr-Jubiläum des Sinfonieorchester Biel Solothurn setzen sollen.

Nach wie vor nämlich befinden sich Kulturinstitutionen wie beispielsweise Theater Orchester Biel Solothurn Tobs im Corona-Modus. Das Publikum scheint sich nicht daran zu stören. Im Gegenteil: Der Hunger auf Live-Aufführungen muss gross sein. Geduldig reihten sich nämlich die zahlreichen Besucher vor dem Eingang zum Kongresshaus in die langen Schlangen ein, um Instruktionen zum Betreten des Saals entgegenzunehmen.

Vernissage und nicht Verlegenheitslösung

Die künstlerische Planung ist angesichts der Schutzbestimmungen anspruchsvoll. Chöre, wie ihn Beethoven in seiner neunten Sinfonie vorschreibt, haben nach wie vor Auftrittsverbot. Und die Orchestermusiker müssen sich entweder mit Masken schützen, was für die Streicher am Konzert vergangenen Mittwoch kein Problem gewesen zu sein schien. Zwischen den einzelnen Bläsern und ihren Mitmusikerinnen und -musikern stehen Trennwände aus Plexiglas. Dennoch ist an ein Sinfonieorchester in Grossbesetzung nicht zu denken.

Kaspar Zehnder, der Direktor der Konzerte bei Tobs und Chefdirigent des Sinfonieorchesters Biel Solothurn, holte das Maximum aus der gegebenen Situation heraus. Den Komponistenjubilaren huldigte er statt wie geplant mit der grossbesetzten neunten Sinfonie nun mit dem vierten Klavierkonzert und dem Solisten Giovanni Bellucci. Das entpuppte sich als mehr als eine Verlegenheitslösung. Der Programmpunkt diente nämlich als eine Art Vernissage für eine vor wenigen Wochen erschienene CD-Box. Sie enthält sämtliche Klavierkonzerte des Wiener Meisters (s. Zweittext). Eingespielt wurde sie vor wenigen Jahren von denselben Protagonisten wie im vergangenen ersten Sinfoniekonzert.

Beherzter Zugriff und reichlicher Pedalgebrauch

Giovanni Bellucci repräsentiert einen Pianistentypus, der heute nunmehr selten anzutreffend ist. Es ist einer mit Ecken und Kanten. Pointierte und persönlich gefärbte musikalische Aussagen sind ihm wichtiger als kühle, eingemittete pianistische Perfektion. Beherzt griff der Solist in die Tasten. Auch sparte er nicht mit Pedalgebrauch. Ein Zugriff, der durchaus der sinfonischen Anlage der Komposition entsprach. Doch litt darunter das eminent Lyrische, das im vierten Klavierkonzert Beethovens allein in den unerhört zarten Anfangstakten festgeschrieben ist.

Die Qualitäten des italienischen Pianisten zeitigten vor allem in der Kadenz am Schluss des ersten Satzes Wirkung. Er formulierte sie ganz im Geiste Beethovens: Improvisierend im Gestus, extrem die dynamischen Kontraste und grosszügig die rhythmischen Freiheiten. Das engagiert aufspielende Sinfonieorchester Biel Solothurn unter Leitung von Kaspar Zehnder liess sich vorbehaltlos auf diesen Interpretationsansatz ein.

Nebeneinander von Idylle, Groteske und Wehmut

Das vierte Klavierkonzert von Ludwig van Beethoven läutet die musikalische Romantik ein. Klug deshalb, ein Werk vom anderen Ende der Epoche als Ergänzung zu wählen. Die Fin de siècle-Stimmung äussert sich in der vierten Sinfonie Mahlers besonders deutlich. Wehmütige Melodien, grotesker Humor und in die Zukunft weisende Harmonien und Klangfarben bestimmen den Werkcharakter.

Weil eine Aufführung in der originalen grossen Orchesterbesetzung derzeit nicht möglich ist, präsentierte Kaspar Zehnder die Version für Kammerorchester von Klaus Simon. Zum Glück belässt dieser die unverwechselbaren Klangfarben, hervorgerufen durch Schellen, Klavier, Akkordeon oder Es-Klarinette. Zudem heben sich in dieser Version die vielen solistischen Einwürfe der Bläser aufgrund des generell ausgedünnten Orchestersatzes deutlich ab.

Das unvermittelte Nebeneinander von Idylle und verstörenden, dissonanten Einwürfen hätte vor allem in den ersten beiden Sätzen mehr Zugespitztheit ertragen. Alles andere als «schneidend und roh» wie von Mahler gewünscht spielte auch die Sologeige zu Beginn des zweiten Satzes. Der dritte Satz überzeugte dagegen in seinem grosszügig weiten Atem. Und Christiane Boesiger vermittelte schlüssig die vielschichtige Bedeutung des Lieds «Das himmlische Leben» aus des Knaben Wunderhorn, das dem Schlusssatz zugrunde liegt, dank ihrem wandelbaren, aber jederzeit abgerundet und vollklingenden Stimme.

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Beethoven im Spiegel seiner Nachfolger

Beethoven soll am Klavier meisterhaft improvisiert haben. Sein Können demonstrierte er besonders gern in seinen Klavierkonzerten. Gelegenheit dazu hatte er jeweils kurz vor Schluss der schnellen Sätze, in den sogenannten Kadenzen. Dann schweigt das Orchester und der Solist hat Gelegenheit, das Thema nach freier Fantasie auszuschmücken. Die Tradition des freien Fantasierens live im Konzert ist heute längst verloren. Doch die Kadenz in einem Solokonzert ist nach wie vor der Ort, wo freie Kreativität im Umgang mit thematischem Material erlaubt ist. Viele Pianisten haben eigene Kadenzen zu den fünf Klavierkonzerten Beethovens komponiert, darunter Brahms, Reinecke, Fauré, Busoni oder Glenn Gould. Giovanni Bellucci hat diese ausfindig gemacht und eingespielt. Das Ergebnis ist eine höchst faszinierende CD-Box. Basis der Einspielungen bilden live-Konzerte mit dem Sinfonieorchester Biel Solothurn unter Leitung von Kaspar Zehnder und mit dem Solisten Giovanni Bellucci aus dem Jahr 2015. Sie sind nun pünktlich zum 250. Geburtsjahr von Ludwig van Beethoven beim Label Calliope erschienen und sehr zu empfehlen. aa

Info: Giovanni Bellucci, Beethoven, Sinfonieorchester Biel Solothurn, Kaspar Zehnder, CAL 2066. Zu beziehen bei Tobs zu CHF 50.-.

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